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INFORMATIONSTECHNOLOGIE/1276: Ist Code das neue Esperanto? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2018

Ist Code das neue Esperanto?
Ein Plädoyer für mehr Informatik und Medienkompetenz

von Aleksandra Sowa


Der Kleinrechner Calliope mini sollte das Standardwerkzeug an allen Grundschulen der Bundesrepublik werden, bei den Schülern das Interesse für Technik und Programmieren wecken sowie Barrieren bei der digitalen Bildung abbauen. Bei den Schülern käme Calliope "uneingeschränkt super" an, sagte die Internetbotschafterin der Bundesregierung, Gesche Joost, ZEIT Online. Bei Eltern und Lehrern gehen dagegen die Meinungen auseinander: Die einen stört die Nähe des Projektes zur SPD; die anderen die Nähe zur Wirtschaft - konkret zum Technikkonzern Google. "In den USA spricht man bereits von der 'Googlefizierung' der Bildung. Schließlich hat der Konzern dort den Markt für digitale Technik an Schulen bereits in fester Hand", kritisiert Fabian Kaske von LobbyControl. Hat Google in Deutschland mithilfe von Projekten wie Calliope ebenfalls vor, sich über Geschenke den Weg in die Schulen zu ebnen? Vorbei an den demokratischen Entscheidungsprozessen, so die Kritik, wird das Programmieren durch die Hintertür in das Curriculum eingeschleust.

Da den deutschen Schulen das Geld fehlt, sind für viele Entscheider Projekte wie Calliope wichtig und gut, denn darüber werden den Kindern und Jugendlichen bereits ab dem Grundschulalter Grundlagen der Digitalisierung vermittelt. Nicht selten wird zur Rechtfertigung dieser Programme betont, dass die Wirtschaft derartige Fähigkeiten von den künftigen Arbeitskräften ja verlange.

Bislang waren es Fähigkeiten, die grundsätzlich durch das Studium der Computerwissenschaft erworben wurden. Doch das Informatikstudium gilt als zu theoretisch. "Die Wirtschaft braucht Softwareentwickler - das ist kein Geheimnis", beschreibt Lina Hansen im Technologiemagazin Wired das Problem, für das neue Bachelorprogramme Lösungen bieten sollten. "Nur bereitet das deutsche Informatikstudium Absolventen nicht wirklich auf ihre spätere Jobs von, so die Klage. Zur Ausbildung eines Informatikers gehören traditionsgemäß Softwareentwicklung sowie verschiedene Programmiersprachen, manchmal auch die historischen, wie die funktionale Programmiersprache Miranda (die nicht etwa nach einem bekannten Topmodel benannt wurde, sondern nach der Zauberin aus Shakespeares Stück Der Sturm). Neben Algebra und Analysis werden auch Operations Research oder numerische Methoden gebraucht, oft Logik und algorithmische Entscheidungsfindungen, Bilderkennung, neuronale Netze, Kryptografie - und was auch immer notwendig ist, um mal eben einen Roboter zu bauen, künstliche Intelligenzen zu entwickeln, Steuerungssysteme von Fabrikanlagen, Weltraumsonden oder Flughäfen zu entwerfen. Die Gesellschaft für Informatik (GI) arbeitet seit Jahren Empfehlungen für diese Studiengänge und betont, dass Informatik inzwischen eine derartig breit gefächerte Disziplin sei, dass eine begründete Schwerpunktlegung erforderlich werden müsse. Einiges mag praktischer Unsinn sein - und doch ist viel Nützliches dabei. "Grundsätzlich ist das Informatikstudium wissenschaftlich fundiert und vermittelt das breite und in ausgewählten Teilgebieten vertiefte fachliche Wissen, um analytisch, kreativ und konstruktiv Systeme aus Soft- und Hardware zu entwickeln und zu warten. Ferner werden nicht nur gegenwartsnahe Inhalte vermittelt, sondern theoretisch untermauerte Konzepte und Methoden, die über aktuelle Trends hinweg Bestand haben und zum lebenslangen Lernen befähigen." Kurz gesagt: Das Informatikstudium sollte gut für Innovation, Fortschritt und die Gesellschaft sein.

"Die Unternehmen suchen meist keine Computerwissenschaftler, sondern Menschen, die programmieren können", erklärt Wired. In Wirklichkeit suchen sie nicht mal Programmierer, sondern "Coder". Beim Beruf des Programmierers ist nämlich noch das Produkt seiner Tätigkeit - das Programm - in der Berufsbezeichnung impliziert. Er arbeitet auf ein Ziel hin - das Programm, die Anwendung, ein Stück Software oder das Steuerungsmodul einer Hardware, eine App, die etwas (mal mehr, mal weniger gut) kann. Programmieren ist ein Prozess, der mit dem Design beginnt und nach der Durchführung von Tests und der Dokumentation endet. Coding ist nur eine Etappe in diesem Prozess, die der Übertragung in eine Programmiersprache. Der Coder - wie der Name sagt - codiert.

Entfremdung der Subjekte

Die Softwareentwickler Coder zu nennen, gibt die Entwicklung, die sich auf dem Arbeitsmarkt für Informatiker vollzieht, treffend wieder. Der Programmierer entfremdet sich immer mehr von dem Produkt seiner Arbeit. "Bekanntlich hat schon der junge Marx die Auffassung vertreten, der kapitalistische Produktionsprozess führe notwendig zu einer fünffachen Entfremdung der Subjekte von ihren Handlungen (ihrer Arbeit), von ihren Produkten (den Dingen), von der Natur, von anderen Menschen (der sozialen Welt) und schließlich von sich selbst", erinnerte Hartmut Rosa in Beschleunigung und Entfremdung und fügte noch zwei weitere hinzu: von Raum und Zeit.

Was übrig bleibt von der Tätigkeit eines Softwareentwicklers ist die reine Aktivität des "Codens". Sie ist weder mit einem Ziel noch mit einem Endprodukt verbunden, es bedarf lediglich eines Befehlsempfängers, der einen Ausschnitt aus einem größeren Werk, einer Finanzsoftware, einem Kriegsroboter, einer Überwachungs-App - also etwas, das er nicht kennen oder verstehen muss - in eine der gängigen Computersprachen übersetzt, ohne Fragen zum Zweck oder zur Sinnhaftigkeit seiner Arbeit zu stellen.

So trifft auf die IT-Abteilung inzwischen das zu, was David van Reybrouck in Gegen Wahlen über den Zustand der Medien schrieb: "Die mörderische Konkurrenz, das Abspringen von Werbekunden und der sinkende Verkauf sorgen zusätzlich dafür, dass kommerzielle Medien immer heftiger über immer aufgebauschtere Konflikte berichten, mit immer kleineren, jüngeren und billigeren Redaktionen." Nur dass Coden (wie auch schon Programmieren) kein Job ist, den man, wie bei den Journalisten, einmal ausgebildet, das ganze Leben ausüben kann. Die Programmiersprachen, Software und Hardware ändern sich alle paar Jahre grundlegend. Was ein EDV-Kaufmann in den 80er Jahren gelernt hat, war spätestens sieben Jahre danach nicht mehr in Gebrauch. Wer sein Informatikstudium mit Turbo Pascal begann, beendete es mit C++. COBOL, ALGOL und FORTRAN sprechen nur noch die Computerfreaks aus dem Silicon Valley in den historischen Büchern von Jay Tuck über das US-Embargo auf Computergeräte in den Zeiten des Kalten Krieges. Erfahrung wird in immer schnellerer Folge durch Innovationen entwertet.

Qualitäts- und Werteverfall

Dies zeitigt zwei Effekte. Der erste ist die zunehmend schlechte Qualität der Software, die von schnell ausgebildeten oder rasch umgeschulten Entwicklern erzeugt wird. Vor 20 Jahren war ein Fehler (englisch: bug) in der Software einfach ein Fehler in der Software. Er führte ab und an zum Absturz des Computers oder der Anlage und etwas Arbeit und ein wenig Zeit waren vonnöten, um die Anlage neu zu starten. Dann kam das Internet und machte mit den Programmierfehlern das, was Flugreisen mit der Verbreitung infektiöser Krankheiten machten: Wenn Computer und Geräte miteinander verbunden wurden, konnte ein bisher tolerierbarer bug zu einer Kaskade von Sicherheitsvorfällen führen. Ob es um das Netz, das Internet der Dinge oder Industrie 4.0 geht: Ein Fehler in der Software von heute ist eine Sicherheitsschwachstelle von morgen, durch die Angreifer in Systeme, Betriebe oder Industrieanlagen eindringen können. Die Qualität der Software wird gleichbedeutend mit ihrer Sicherheit. Eilig und billig produzierte Applikationen können schnell zum Sicherheitsrisiko für Betriebe, Staaten und Gesellschaften werden. Dies sollte sich ändern, indem von den Herstellern mehr Verantwortung für die Produkte abverlangt wird: "Vorgaben für eine angemessene Verteilung von Verantwortlichkeiten für Sicherheitsrisiken im Netz zum Beispiel durch Produkthaftungsregeln für IT-Sicherheitsmängel und Sicherheitsvorgaben für die Hard- und Softwarehersteller werden geprüft", kündigt das Bundesinnenministerium in der "Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2016" an.

Der zweite Effekt ist der Werteverfall der Informatikausbildung. Der Job des Programmierers - und noch mehr der des Coders - ist vom schnellen Verschleiß betroffen. Es bedarf lebenslanger, intensiver Weiterbildung, auf die das Studium prinzipiell ganz gut vorbereitet. Die Wirtschaft, die auf maximale Ausbeutung der knappen Ressource Softwareentwickler ausgerichtet ist, kann (oder will) die Weiterbildungsprozesse jedoch nicht begleiten. Weiterbildung hat nebenbei zu geschehen, am besten on the job oder, besser noch, in der Freizeit (falls man über solche verfügt), geschöpft aus den internen Datenbanken oder dem Internet, die das digitalisierte Wissen anderer, teilweise ehemaliger Mitarbeiter, vermitteln. Entfremdung, schreibt Hartmut Rosa, entsteht im Notfall aufgrund der Tatsache, "dass wir nie wirklich Zeit finden, um uns über die Dinge, die wir tun, ausreichend zu informieren".

Nun soll Informatik zum regulären Schulfach werden. Dies ist sicherlich sinnvoll, wenn dadurch die Medienkompetenz junger Menschen verbessert und die digitale Spaltung aufgrund der Herkunft, des Besitzstands der Eltern oder der sozialen Klasse verhindert werden kann. Weniger erfreulich wäre, wenn das in der Schule erlangte Wissen dazu diente, für die Wirtschaft neue, noch billigere und weniger qualifizierte Coder zu produzieren. Armeen von Clickworkern und freien Mitarbeitern, die sich über Plattformen wie Amazon Mechanical Turk etwas dazuverdienen können, um dann, nach relativ kurzer Zeit, arbeitslos und schlecht qualifiziert von der Wirtschaft wieder dem Arbeitsmarkt zurückgegeben zu werden, um sofort von neuen Armeen von noch billigeren Codern ersetzt zu werden.

Pioniere der Computerwissenschaft bezeichnen scherzhaft die Programme und Betriebssysteme als die intelligenteste Art, den Computer zu missbrauchen. Vom Missbrauch der Programmierer war dabei nicht die Rede. Neben einer mathematischen Neigung sei die sehr gute Beherrschung seiner Muttersprache eine unentbehrliche Qualität eines fähigen Programmierers, sagte der niederländische Pionier der Computerwissenschaften und Träger des Turing Awards für die Entwicklung von Programmiersprachen, Edsger W. Dijkstra. Es scheint, als würde die Schule bereits bestens auf den Beruf des Softwareentwicklers vorbereiten. "Ob schon in der Grundschule vom Programmieren lernen Nutzen ausgeht, ist wissenschaftlich bisher aber nicht belegt", schreibt außerdem Kaske. Allgemeinbildung ist nicht nur ein Wert an sich; deutsche Vokabeln pauken könnte auf Berufe der Zukunft vorbereiten. Tatsächlich sogar auch auf den des Informatikers.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2018, S. 37 - 40
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
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Telefon: 030/26 935-7151, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
Internet: www.ng-fh.de, E-Mail: ng-fh@fes.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2018

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