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FORSCHUNG/943: Der lange Weg zum künstlichen Sonnenfeuer (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 12/12 - Dezember 2012

Fusionsforschung
Der lange Weg zum künstlichen Sonnenfeuer

Von Gerhard Samulat



Auf der Kernfusion ruhen viele Hoffnungen. Sie könnte sich als verhältnismäßig saubere und nahezu unerschöpfliche Energiequelle erweisen und in einigen Jahrzehnten einen beträchtlichen Teil des Strombedarfs der Menschheit decken. Doch ob das klappt, ist ungewiss. Denn Fusionsreaktoren stellen ihre Entwickler laufend vor neue Herausforderungen.


AUF EINEN BLICK

In der heissen Phase

1. Mit Hochdruck arbeiten Forscher an den Kernfusionsreaktoren ITER im südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache und Wendelstein 7-X in Mecklenburg-Vorpommern.

2. Noch machen den Wissenschaftlern viele technische Probleme zu schaffen. Das heiße Plasma entweicht immer wieder, das Strukturmaterial wird brüchig oder radioaktiv, und das Brennmaterial existiert noch nicht in ausreichender Menge.

3. Welcher Anlagentyp - ob der Tokamak ITER oder der Stellarator Wendelstein 7-X - das Rennen macht und ob überhaupt je ein funktionsfähiges Kraftwerk gebaut wird, ist nicht nur aus technischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen ungewiss.


Nahezu alle unsere Energiequellen verdanken wir letztlich dem unaufhörlichen Leuchten der Sonne. Sie nährt Mikroben und Pflanzen, deren verrottende Überreste sich über Jahrmillionen hinweg in die fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas verwandelt haben. Sie wärmt das Land, die Weltmeere und die Atmosphäre, so dass unsere Kraftwerke die entstehenden Winde und Wasserkreisläufe nutzen können. Ihr Licht fällt auf Solarzellen und lässt Biomasse auf Äckern wachsen. Sogar die Kernkraft beruht letztlich auf der Aktivität zumindest von fernen Geschwistern der Sonne. Denn diese brüteten vor Äonen alle schweren chemischen Elemente aus - bis hinauf zum Uran, das wir heute in Kernreaktoren einsetzen. Da liegt es nahe, sich zur Energiegewinnung die Sonne zum Vorbild zu nehmen und zu versuchen, in einem Kraftwerk Wasserstoffatome zu Helium zu verschmelzen.

Der Gedanke ist faszinierend; die Umsetzung eine gewaltige technische Herausforderung. Das Vorbild lässt sich nicht einfach kopieren, herrschen im Schmelztiegel der Sonne doch Temperaturen von mehr als 15 Millionen Kelvin und unvorstellbar hohe Drücke von zum Teil über 20 Billiarden Pascal - 200 Milliarden Mal so hoch wie der irdische Luftdruck. Solche Werte sind mit technischen Mitteln wohl auch in absehbarer Zukunft dauerhaft kaum zu erreichen. Trotzdem gelang es Menschen schon mehrfach, das Sternenfeuer auf Erden zu entfachen.

Zum ersten Mal vor ziemlich genau 60 Jahren: Am 1. November 1952 zündeten die Vereinigten Staaten auf einem kleinen Atoll der pazifischen Marshallinseln ihre erste Wasserstoffbombe. Der Sprengsatz mit der Bezeichnung »Ivy Mike« war fast 1000-mal stärker als die Atombombe von Hiroschima. Wo sich einst das Inselchen Elugelab aus dem Wasser erhob, klafft heute ein tiefer Unterwasserkrater. Einige Monate später brachte auch die UdSSR ihre erste Fusionsbombe zur Explosion.

Aber das Sternenfeuer bändigen, um in einem Kraftwerk Energie respektive Strom daraus zu gewinnen, können die Wissenschaftler bis heute nicht. Derzeit konzentrieren sich die Anstrengungen im Wesentlichen auf den International Thermonuclear Experimental Reactor (ITER) im südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache sowie auf das Fusionsexperiment Wendelstein 7-X in Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern. Die beiden Anlagen sollen grundsätzlich zeigen, ob sich das Verschmelzen von Wasserstoffisotopen zur industriellen Stromgewinnung nutzen lässt. Fusionsexperimente gibt es auch anderswo. Mehrere Labors - allen voran die National Ignition Facility des kalifornischen Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) - untersuchen etwa Trägheitsfusion, bei der winzig kleine Wasserstoffkügelchen durch Bestrahlen mit Lasern oder Schwerionen zur Explosion gebracht werden sollen (siehe »Wann kommt der Fusionsreaktor?«, SdW 5/2010, S. 88). Doch zielen diese Experimente vor allem auf die Simulation von Kernwaffenexplosionen. ITER und Wendelstein 7-X dienen dagegen ausschließlich der zivilen Nutzung. Noch befinden sich beide Anlagen im Bau. Der ITER - im Lateinischen bedeutet »iter« der Weg - soll 2026 fertig werden. Er ist ein so genannter Tokamak, dessen aus dem Russischen abgeleiteter Name etwa so viel wie »Toroidale Kammer in Magnetspulen« heißt. Kennzeichen des Tokamaks ist seine verhältnismäßig einfache Magnetstruktur, mit der sich das - Plasma genannte - heiße Gemisch aus geladenen Teilchen für einige Zeit einschließen und erhitzen lässt. Die Anlage arbeitet gepulst, muss also periodisch hoch- und wieder heruntergefahren werden.

Wendelstein 7-X dagegen ist ein so genannter Stellarator. In ihm erzeugen überaus komplex geformte Spulenkörper eine Art magnetischer Flasche, die das Fusionsplasma einsperrt. »Ob der Tokamak das Rennen macht oder der Stellarator, ist heute schwer zu sagen«, sagt Sibylle Günter, Wissenschaftliche Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) in Garching, das ebenso wie die Forschungszentren Jülich und Karlsruhe maßgeblich an beiden Experimenten beteiligt ist.

Wichtigste Voraussetzung für die Fusionsreaktion sind in jedem Reaktortyp hohe Temperaturen und Drücke. Nur dann überwinden die Atomkerne die elektrischen Kräfte, mit denen sie sich normalerweise gegenseitig abstoßen, und geraten in den Einflussbereich der kurzreichweitigen starken Kernkraft ihrer Fusionspartner, die sie miteinander verschmelzen lässt.

Die Erzeugung hoher Temperaturen fällt den Experimentatoren vergleichsweise leicht. Die für eine Fusion angepeilten 100 Millionen Kelvin - das ist mehr als das Fünffache der Temperatur im Inneren der Sonne - sind keine Herausforderung mehr. Das Problem ist der Druck. Damit ein heißes Plasma dauerhaft magnetisch eingeschlossen bleibt, darf er einige Bar nicht überschreiten. Dieser Wert ist bei einem 100 Millionen Kelvin heißen Plasma schnell erreicht. Deshalb können die Physiker das Wasserstoffgas nur sehr verdünnt in die Fusionskraftwerke einleiten: mit etwa einem 250.000stel des Atmosphärendrucks, was nach Alltagsmaßstäben schon ein Vakuum ist.


Ein Gramm Fusionsbrennstoff ersetzt elf Tonnen Kohle

Im Unterschied zur Sonne, die vorzugsweise mit normalem Wasserstoff arbeitet, planen die Wissenschaftler zudem, die beiden schwereren Isotope dieses leichtesten aller chemischen Elemente miteinander zu verschmelzen: Deuterium und Tritium. Während der Wasserstoffkern aus lediglich einem Proton besteht, enthalten Deuterium- und Tritiumkerne zusätzlich ein beziehungsweise zwei Neutronen. Diese elektrisch neutralen Kernbausteine unterliegen ebenso der starken Wechselwirkung, die für die Fusion ausschlaggebend ist, und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit einer Verschmelzung.

Die Fusion von einem Gramm eines Deuterium-Tritium-Gemischs setzt eine Energiemenge von gut 26.000 Kilowattstunden frei. Das entspricht dem Energiegehalt von elf Tonnen Kohle. Damit lässt sich ein Durchschnittshaushalt gut ein Jahr lang mit Strom und Wärme versorgen.

Das Ganze funktioniert, weil einzelne Protonen und Neutronen in der Summe stets mehr Masse besitzen als der Atomkern, zu dem sie sich zusammenschließen. Die Massendifferenz wird gemäß Einsteins berühmter Formel E = mc² (E steht für Energie, m für Masse und c für die Lichtgeschwindigkeit) als Energie frei. Pro Reaktion eines Deuteriumkerns mit einem Tritiumkern sind das 17,6 Millionen Elektronvolt (MeV). Bei der Reaktion wird ein Neutron fortgeschleudert, das vier Fünftel der Energie aufnimmt. Ferner entsteht ein Heliumkern, der sich aus zwei Protonen und zwei Neutronen zusammensetzt und ein Fünftel der Energie mitbekommt. Durch Stöße mit benachbarten Deuteriumund Tritiumkernen geben die Heliumkerne ihre Energie wieder ab und erhalten so die Temperatur des Plasmas aufrecht. Die Neutronen treffen hingegen mit hoher Geschwindigkeit auf so genannte Blankets, die Teil der inneren Hülle des Plasmagefäßes sind. In diesem Material geben sie ihre Energie durch Stöße mit Lithiumatomen als Wärme ab. Diese wird dann über Wärmetauscher und Dampfturbinen in Elektrizität umgewandelt.

Sowohl ITER als auch Wendelstein 7-X sind das Ergebnis weltweiter Arbeitsteilung und haben viele »Väter«: Neben der europäischen Versuchsanlage Joint European Torus JET in Culham, Großbritannien, dem Textor in Jülich sowie der größten deutschen Fusionsanlage Asdex Upgrade in Garching und einigen weiteren Forschungsreaktoren in Europa gibt es beispielsweise ebenso in den Vereinigten Staaten, Japan, Südkorea, Indien und China neue oder entstehende Anlagen. Dabei handelt es sich zumeist um Tokamaks, deren Entwicklungsreife höher ist als die der Stellaratoren. Kraftwerksgröße besitzt jedoch noch keine von ihnen. Allerdings denkt die chinesische Regierung wohl mittlerweile darüber nach, ein eigenes Fusionskraftwerk von den Dimensionen eines ITER zu bauen. Offensichtlich geht ihnen der Bau in Cadarache, an dem sie ebenfalls beteiligt sind, zu langsam voran.


Ein richtiges Kraftwerk benötigt einen Durchmesser von 45 Metern

Im August 2014 soll Wendelstein 7-X im vorpommerschen Greifswald fertig sein. Noch geht es in der Werkshalle zu wie auf einer Werft. Ohrenbetäubendes Pfeifen und Dröhnen erfüllt den Raum, als würde irgendjemand kontinuierlich Druckluft ablassen. Ab und zu hört man das Kreischen eines Winkelschleifers oder Arbeiter, die sich etwas zurufen. Musik dröhnt aus einem Kofferradio: »Blue Bayou« und »La Paloma ohe«. Die Arbeiten an dem rund eine Milliarde Euro teuren Gerät laufen im Zweischichtbetrieb an sechs Tagen pro Woche, manchmal das gesamte Wochenende durch. »Ein Erholungscamp ist das nicht«, sagt der wissenschaftliche Leiter des Projekts, Thomas Klinger.

Im Verlauf einiger Jahre sind die fünf je 120 Tonnen schweren Module der »Maschine«, wie Klinger das Metallungetüm liebevoll nennt, zusammengesetzt und auf einer Stahlkonstruktion zusammengesetzt worden. Der Stellarator gleicht nun einem überdimensionalen Donut mit einem Außendurchmesser von 16 Metern. Um wirtschaftlich zu arbeiten, müssen Fusionskraftwerke nach aktuellem Stand der Forschung aber deutlich größer ausfallen. »Ein richtiges Kraftwerk bräuchte wohl etwa 45 Meter Durchmesser und ein entsprechend größeres Volumen«, kalkuliert Klinger. »Bei jedem Schritt überlegen wir daher, ob er jeweils kraftwerksrelevant ist.« Alles, was hier erprobt wird, soll auch im industriellen Maßstab funktionieren.

Der Schlauch des Donuts - Experten sprechen von einem Torus - ist bis zu fünf Meter dick. Die äußere Gefäßwand besteht »quasi nur aus Löchern«, scherzt Klingers Kollege Lutz Wegener, der in Greifswald den Baufortschritt überwacht. Durch die über 200 Öffnungen werden später einmal Rohre, Kabel und Datenleitungen für Wasser, Helium, Strom und Sensoren führen (siehe das Bild auf S. 59 der Druckausgabe). Der Torus enthält zudem den Kryostaten, der die supraleitenden Magnete umgibt. Ebenfalls in seinem Inneren verläuft die schlauchförmige Vakuumkammer, die künftig das Plasma aufnehmen soll.

Die innerste oder »erste Wand«, die später dem Plasma am nächsten sein wird, ist der geschwungenen Form des Plasmaschlauchs nachempfunden. »In dieser Wand gibt es bohnenförmige und annähernd dreieckige Abschnitte, die zwischen eineinhalb und teilweise über drei Meter hoch sind«, erläutert Wegener. Auffallend gebogen ist auch die Form von 50 der insgesamt 70 Spulenkörper des Stellarators, die später den Magnetkäfig formen sollen. Obgleich ihnen eine ganz bestimmte Helixstruktur zu Grunde liegt, die in jahrelangen numerischen Berechnungen ermittelt wurde, sehen sie aus, als hätte Salvador Dalí persönlich Hand angelegt.

Die Spulen bestehen aus einer supraleitenden Niob-Titan-Legierung - dem gleichen Material, aus dem auch die Ablenkmagnete des Teilchenbeschleunigers LHC bei Genf gefertigt sind. Kühlt man sie mit flüssigem Helium auf vier Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt, transportieren sie Ströme von bis zu 18.000 Ampere verlustfrei. Sie erzeugen ein Bündel von Magnetfeldlinien, welches das nur wenige Milligramm schwere Plasma in Form und in der Schwebe hält. Durch die magnetischen Feldlinien ist es »versklavt«, wie die Fachleute sagen: Parallel zu den Feldlinien können sich die Ladungsträger - Elektronen ebenso wie Ionen - zwar frei bewegen, senkrecht dazu ist ihre Mobilität dagegen vollständig eingeschränkt. Damit nehmen die Forscher der Ladungswolke eine ganze Menge von ihrem chaotischen Charakter.

Ob das Magnetfeld hält, was es verspricht - nämlich das ultraheiße Plasma viele Minuten lang einzusperren -, soll Wendelstein 7-X herausfinden. Die Ziele sind hochgesteckt: »Mit dem Stellarator wollen wir in erster Linie kraftwerksrelevante Temperaturen und Plasmadichten erzielen und sie an die Leistungsdaten eines Tokamaks heranführen«, sagt Klinger, »oder diese vielleicht sogar übertreffen.« Zudem wollen die Forscher bei 100 Millionen Kelvin Stöße zwischen Deuterium und Wasserstoff beobachten. Bei dieser Temperatur befindet sich in etwa das Maximum der Wirkungsquerschnittskurve, die angibt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für die Fusion zweier Kerne ist.


»Der Müll strahlt nach einigen hundert Jahren weniger als abgebrannte Kohle«

Experimente mit Tritium sind bei Wendelstein 7-X zunächst nicht vorgesehen; die Substanz ist leicht radioaktiv und schwierig zu handhaben. Allerdings können Atomkerne in den Magneten oder dem Reaktorgefäß umherfliegende Neutronen einfangen und dadurch radioaktiv werden. Geeignete Materialien sollen verhindern, dass dabei hochradioaktive Stoffe mit langen Halbwertszeiten entstehen. Die Entwickler planen beispielsweise, die klassischen Beimischungen von Stahllegierungen - Nickel, Niob und Molybdän - durch Titan, Wolfram oder Tantal zu ersetzen. Dann, so erwarten sie, entstehen weniger langlebige Radionuklide als in heutigen Kernkraftwerken, und das trotz beträchtlich größerer Neutronenflussdichte. Trotzdem müssen Wartungsarbeiten oder Reparaturen im inneren Bereich eines Fusionskraftwerks künftig ferngesteuert stattfinden. »Doch selbst wenn wir das bei der Fusion aktivierte Material hinzuzählen, strahlt der Müll nach einigen hundert Jahren weniger als abgebrannte Kohle«, sagt die Max-Planck-Physikerin Günter.

Die Wahl der Werkstoffe ist in vielerlei Hinsicht entscheidend. Neutronen aus einer Fusionsreaktion besitzen so viel Energie, dass sie selbst tief im Stahl sitzende Atome herausschlagen können und ihn mit der Zeit brüchig werden lassen. Deswegen müssen die Betreiber das Innere der Kraftwerke sowie die tragenden Komponenten des Reaktors wohl alle zwei bis drei Jahre austauschen. Auch sind die Materialien hohen thermischen Belastungen ausgesetzt. Ähnlich wie in einer gewöhnlichen Leuchtstoffröhre, in der das Plasma einige tausend Kelvin heiß werden kann und an der wir uns trotzdem nicht die Finger verbrennen, nimmt auch die Temperatur der Plasmawolke im Fusionsreaktor nach außen hin rasch ab. Dennoch entstehen Wärmeflüsse von bis zu 20 Megawatt pro Quadratmeter. Daher ist das Innere der Plasmagefäße oft mit kohlefaserverstärkten Graphitkacheln ausgekleidet - so wie die Unterseite der Spaceshuttles, die bei der Rückkehr in die Erdatmosphäre ähnliche Belastungen aushalten mussten. Allerdings hatten die Shuttles schon nach rund einer Minute das Schlimmste überstanden, während die Kacheln in den Stellaratoren oder Tokamaks der Gluthitze bis zu eine halbe Stunde widerstehen sollen. Darum werden sie gekühlt - in Wendelstein 7-X beispielsweise mit Wasser.

Beim ITER hingegen werden große Teile der innersten Wand voraussichtlich nicht aus Graphit bestehen. Denn der Kohlenstoff im Graphit neigt dazu, Wasserstoff respektive Tritium einzulagern. Verunreinigungen können dann von der Wand abflocken und in das empfindliche Plasma dringen. Radioaktiven Staub im Reaktor gilt es jedoch zu vermeiden.

Den optimalen Werkstoff suchen die Wissenschaftler aber immer noch. Auch Wolfram ist nicht ideal, denn Metalle mit hohen Kernladungszahlen sind stets problematisch. Wenn das ständige Bombardement mit schnellen Plasmateilchen solche Atome aus den Metallwänden herausschlägt, verlieren sie in der Plasmaglut rasch ihre äußeren Elektronen, was wiederum zu Umverteilungen zwischen den Orbitalen führt. Dabei wird Röntgenstrahlung frei, deren Energie mit der vierten Potenz der Kernladungszahl steigt. »Die Verunreinigungen leuchten dann wie ein Christbaum«, sagt Klinger. Die Partikel geben die Energie, die ihnen mühsam zugeführt wurde, so gleich wieder ab. Das kühlt die Ladungswolke und stoppt im schlimmsten Fall die Fusionsreaktion.

Das Erdalkalimetall Beryllium besitzt die gewünschte niedrige Kernladungszahl und neigt überdies nicht zu chemischer Erosion. Teile der europäischen Versuchsanlage JET in Culham, an der es schon 1991 erstmals gelungen war, Energie freizusetzen, sind damit ausgekleidet. Beryllium kommt in der Natur jedoch zu selten vor, als dass man damit eine große Zahl von Fusionskraftwerken bauen könnte. Zudem ist es giftig und Krebs erregend. Auch Silizium-Karbid-Keramiken oder Legierungen auf Vanadiumbasis hätten ihren Reiz. Sie werden unter Neutronenbeschuss nur wenig radioaktiv, sind als Wandmaterial allerdings noch wenig getestet. Jüngst zeigten aber Ergebnisse vom JET-Experiment, dass die Kombination von Beryllium als Wandmaterial und Wolfram für den Boden des Gefäßes bessere Bedingungen für ein hochreines Plasma liefert.

Doch es müssen nicht nur die Wände vor den energiereichen Neutronen geschützt werden, sondern ebenso die supraleitenden Magnete, die das Plasma in Form halten. Denn die elektrisch neutralen Teilchen können die Magnetfelder ungehindert durchdringen. Gelingt das zu vielen von ihnen, kommt es zum so genannten Quench: Die Supraleitung bricht zusammen, und die Leitfähigkeit des Materials nimmt augenblicklich ihren normalen Wert an. Das erhitzt die Spulen rasch und bringt sie zum Schmelzen. »Deswegen haben wir im Keller große Nickelwiderstände aufgestellt, auf die wir den Strom blitzschnell übertragen können, um ihn dort kontrolliert in Wärme umzuwandeln«, erläutert Wegener. Wegen der erwarteten hohen Neutronenflut in einem Kraftwerk wird die Abschirmung zwischen Plasma und Magneten, die zum Teil aus den schon erwähnten Blankets besteht, etwa einen Meter dick sein müssen.

Die Blankets müssen eine weitere zentrale Funktion erfüllen: Fangen die Lithiumatome in ihnen energiereiche Neutronen ein, entsteht durch eine Kernreaktion neben Helium vor allem das als Brennstoff begehrte Tritium. Dieses Gas soll gesammelt und dem Plasma wieder zugeführt werden. Für die beständige Eigenversorgung eines Reaktors müsste allerdings jedes Neutron aus der Fusion auf genau ein Lithiumatom treffen und mit diesem die Reaktionskaskade durchlaufen. Doch natürlich gehen Neutronen verloren. Das Blanket kann den umgebenden Raum nicht lückenlos abdecken, außerdem fliegen manche Neutronen einfach hindurch. Und schließlich zerfällt ein kleiner Teil des Tritiums, das nur eine Halbwertszeit von knapp über zwölf Jahren hat, noch bevor es zurück in die Brennkammer gelangt.

Deswegen planen die Experimentatoren, dem Lithium Blei oder Beryllium beizufügen. Diese Elemente wirken als Neutronenvervielfacher: Trifft ein Neutron auf diese Stoffe, kommt es zu Kernreaktionen, wobei zwei der neutralen Kernbausteine entstehen. Ob das funktioniert, müssen die Forscher zwar erst noch nachweisen. Aber mehr als »simple Neutronenphysik« sei das nicht, sagt Sibylle Günter (siehe das Interview weiter unten).


Tokamaks und Stellaratoren stehen vor denselben Herausforderungen

Anfangs müssen aber wohl gewöhnliche Kernreaktoren die Tritiumversorgung übernehmen. Als Nebenprodukt fallen bei ihrem Betrieb jährlich pro Kraftwerk rund zwei Kilogramm dieses radioaktiven Stoffs an. Ein Fusionskraftwerk mit einer elektrischen Leistung von einem Gigawatt benötigt jedoch über ein Kilogramm Tritium pro Woche. Tritium könnte also zumindest in der Anlaufphase der kommerziellen Fusionsenergienutzung einen Engpass darstellen, während Deuterium etwa in Meerwasser ausreichend vorkommt.

Im Wesentlichen stehen Tokamaks und Stellaratoren vor denselben technischen Herausforderungen. Der Unterschied liegt vor allem in der Form und den Eigenschaften der Magnetfelder. Die Tokamakforscher in Cadarache, die auf ein axialsymmetrisch geformtes Magnetfeld setzen, machen sich zu Nutze, dass Plasma anfänglich ein sehr guter elektrischer Leiter ist. Um die Ladungswolke aufzuheizen, erhöhen sie einfach die Stärke des äußeren Magnetfelds. Ähnlich wie bei einem modernen Induktionsherd in einer Küche ruft dieses dann einen Heizstrom im Plasma hervor. Doch ist ein Strom stets eine Quelle freier Energie, was zu Instabilitäten im Plasma führt: »In einem Tokamak können innerhalb von Millisekunden Stromänderungen von einigen Megaampere auftreten«, sagt Max-Planck-Forscher Klinger. Dann kollabiert das Plasma, »es verschwindet wie eine Illusion«. Auch der Träger des Stroms ist damit weg, diesem wird »quasi der Teppich unter den Füßen weggezogen«, so Klinger.

Der unkontrollierte Zusammenbruch des Plasmastroms kann Komponenten der ersten Wand überhitzen. Das verkürzt deren Lebensdauer. Darüber hinaus können solche »disruptiven Instabilitäten« extreme mechanische Kräfte freisetzen. »Kollegen erzählen mir, dass der JET in Culham dabei schon mal ein Zentimeterchen hüpfen kann, obwohl er einige tausend Tonnen wiegt«, berichtet Klinger. Immerhin lässt sich diese Art von Plasmainstabilität durch zeitnahes Einblasen von Heliumgas in die Ladungswolke oder durch gezielten Beschuss mit Mikrowellen mildern oder gar unterdrücken.

In Stellaratoren wird das Plasma dagegen ausschließlich durch Mikro- oder Radiowellen oder durch das Einschießen schneller neutraler Wasserstoffatome aufgeheizt. Dennoch sind auch hier Plasmainstabilitäten eine der größten Herausforderungen der Forscher. Die Ladungswolke verhält sich wie ein weicher Luftballon, den man versucht, mit den Händen zusammenzuquetschen: Je mehr man drückt, desto mehr sträubt sich das Plasma gegen den Einschluss. Es bildet Ausstülpungen, die immer wieder durch den Magnetkäfig schlüpfen und die inneren Komponenten des Plasmagefäßes stark belasten können.

Gewisse Turbulenzen sind jedoch sogar erwünscht, denn das Plasma kann dadurch Verunreinigungen auswerfen. Die Forscher versuchen die Wirbel so zu lenken, dass dies vorzugsweise an den Prallplatten der so genannten Divertoren geschieht, der hitzeresistenten »Mülltonnen« der Fusionskraftwerke. Da aber auch diese nicht zu heiß werden dürfen, horchen Mikrowellensensoren kontinuierlich ins Plasmagefäß, so wie ein Arzt seinen Patienten mit dem Stethoskop abhört. Aus den Signalen gewinnen die Experimentatoren ein Profil der Plasmadichte und können rasch reagieren, falls etwas aus dem Ruder zu laufen droht.

Einige der Instabilitäten lassen sich durch zusätzliche stromdurchflossene Spulen unterdrücken. Am Asdex-Upgrade-Reaktor in Garching sind kürzlich entsprechende Experimente durchgeführt worden. »Das funktioniert prächtig«, sagt Sibylle Günter, »die thermischen Belastungen der Platten haben messbar abgenommen.«

Es gibt aber noch ein weiteres Problem mit Tokamaks: Sie arbeiten gepulst. Das Plasma wird zunächst über ein ansteigendes, äußeres Magnetfeld erhitzt. Doch irgendwann ist der Maximalwert der Feldstärke erreicht. Nach einigen Minuten bis zu einer Stunde endet daher der Zyklus: Das Plasma erlischt, und alles beginnt von vorne. Die Dampferzeuger reagieren zwar ausreichend träge, um diesen Wechsel abzufangen. Die meisten Ingenieure sehen solch drastische Lastwechsel allerdings skeptisch, denn meist verkürzen sie die Lebensdauer einer thermisch arbeitenden Maschine beträchtlich. Sie hoffen deshalb, auch den Tokamak auf eine Art Dauerbetrieb umstellen zu können. Dazu könnten sie das Plasma, nachdem der Strom induktiv hochgefahren wurde, wie beim Stellarator durch elektromagnetische Wellen oder schnelle Teilchen erhitzen.

Weil die Fusionsforscher noch viele solcher Stolpersteine aus dem Weg räumen müssen, kann heute niemand sagen, ob und wann es gelingt, mit Kernfusion jemals wirtschaftlich Strom zu erzeugen. Die aktuellen Prognosen werden jedenfalls gern mit Häme überzogen. Vor gut 40 Jahren schätzten Fusionsforscher, dass sie die Sache in etwa 40 Jahren im Griff hätten. An der angepeilten Zeitspanne hat sich bis heute nichts geändert: Offensichtlich haben die Wissenschaftler ihr Können über- oder die zu bewältigenden Schwierigkeiten unterschätzt.

Überdies wird sich mit Macht die Kostenfrage stellen, auch wenn jegliche Kalkulation bislang mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Sicher scheint, dass Fusionsstrom teurer wird als Kohlestrom. Die Fusionskraftwerke werden technisch aufwändiger als Kernkraftwerke und unter Umständen doppelt so teuer. Allein der ITER kostet mit gut 15 Milliarden Euro etwa dreimal so viel wie ursprünglich geschätzt und wird selbst im Erfolgsfall noch keinen Strom ins Netz speisen. Bis es so weit ist, werden die beteiligten Länder noch mindestens 80 Milliarden Euro investieren müssen, wie das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag kalkuliert.

Welchen Anteil die Kernfusion im globalen Energiemix künftig für sich verbuchen kann, ist ebenso unklar. Fachleute beziffern ihn grob mit 10 bis 30 Prozent. Das ist etwa so viel, wie heute die Kernkraft liefert. Ob sich Schwellen- oder Entwicklungsländer diese komplexe Technologie in absehbarer Zeit überhaupt leisten können, steht in den Sternen. Und in den Industrienationen ist in den kommenden Jahrzehnten nicht mit drastischen Steigerungsraten beim Energiebedarf zu rechnen. Angesichts dieser Perspektiven fragen sich deswegen mittlerweile viele, ob die Fusion überhaupt noch zeitgemäß ist.

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INTERVIEW

»Von Meilenstein zu Meilenstein«

Bis zum ersten Fusionskraftwerk ist es noch ein langer Weg. Lohnt es sich überhaupt, ihn zu gehen? »Spektrum der Wissenschaft« hat mit Sibylle Günter gesprochen, der Wissenschaftlichen Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching.


Spektrum der Wissenschaft: Frau Professor Günter, nach dem Willen der Bundesregierung soll der Anteil an erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 auf 80 Prozent steigen. Wie viel Raum bleibt da noch für die Kernfusion?

Sibylle Günter: Nicht jedes Land wird seinen Energiebedarf in diesem Ausmaß aus erneuerbaren Energien decken können. Selbst in Deutschland fehlt dafür noch die nötige Infrastruktur wie beispielsweise kostengünstige Energiespeicher.
Wir müssen das Energieproblem aber vor allem global betrachten. Und die Prognosen lauten, dass sich der Strombedarf bis zum Jahr 2100 weltweit um den Faktor sechs erhöht. Spätestens um das Jahr 2050 werden aber die konventionellen Öl- und Gasreserven zur Neige gehen. Kohle reicht deutlich länger, verursacht aber natürlich weiterhin Klimaprobleme. Damit sich keine Energielücke öffnet, müssen wir uns also etwas einfallen lassen. Wir halten die Fusion für eine sinnvolle Möglichkeit. Sie könnte im Jahr 2100 einen Anteil von etwa 15 Prozent am Energiemix haben. Fusionskraftwerke sind zudem grundlastfähig. Wenn Sie eine Großstadt wie beispielsweise Schanghai mit Strom versorgen wollen, wird Ihnen das kaum mit Windenergie gelingen.

Wie viele Fusionsmeiler bräuchte man denn?

Günter: Fusionskraftwerke sollten konventionelle Kraftwerke sowie Atommeiler ersetzen. Sie würden gut in die bestehende Infrastruktur passen und mit einem Gigawatt etwa so viel elektrische Leistung abgeben wie ein großes Kohlekraftwerk. Die Zahl der künftigen Fusionsmeiler ist aber auch eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz.

Billig ist Fusionsenergie ja nicht.

Günter: Hoch sind die Anfangsinvestitionen. Sie liegen für einen Fusionsreaktor vermutlich in der Größenordnung, die auch für ein Spaltungskraftwerk anfallen. Der Brennstoff kostet dagegen fast nichts. Experten schätzen, dass Strom aus Fusionsenergie künftig etwa so viel kosten wird wie der aus Windenergie und wahrscheinlich deutlich billiger sein wird als der Strom aus Fotovoltaik, wenn man alle Aufwendungen für die Speicher und die Infrastruktur jeweils mit hineinrechnet.

Woher wollen Sie den Brennstoff beziehen? Insbesondere Tritium kommt auf der Erde ja nur sehr selten vor.

Günter: Die Erstausstattung mit Tritium muss aus Kernreaktoren kommen. Mittelfristig will die Fusion aber unabhängig von der Spaltung werden. Deswegen planen wir, das Tritium künftig von den Fusionsreaktoren erbrüten zu lassen. Dazu kleiden wir deren Innenwände mit Elementen aus, die aus angereichertem Lithium-6 bestehen und zusätzlich Neutronenvervielfältiger aus Blei oder Beryllium enthalten. Das ist simple Neutronenphysik. Sicherzustellen, dass genug Tritium erbrütet wird, ist dann nur noch eine Frage der Ingenieurskunst.

Einige Reaktorkomponenten werden hohen thermischen Belastungen ausgesetzt sein, außerdem werden sie unablässig durch energiereiche Neutronen bombardiert. Welche Materialien sollen das auf Dauer aushalten?

Günter: Die meisten Materialien, die ein erstes Demonstrationskraftwerk benötigt, existieren bereits. Was noch entwickelt werden muss, sind die Komponenten, die ganz dicht am Plasma dran sind und sehr hohe Wärme- und Neutronenbelastung aushalten müssen. Kupfer wäre für die Wärmeableitung am besten geeignet, wird aber durch Neutronenbeschuss stark radioaktiv. Der Divertor, der sozusagen die heißen Abgase aus der Fusionsreaktion abführen soll, wird voraussichtlich aus hitzebeständigem Wolfram bestehen. Und das Reaktorgefäß fertigen wir wohl aus oxiddispersionsgehärtetem, ferritisch-martensitischem Stahl, der thermisch sehr hoch belastbar ist und seine Eigenschaften selbst unter starkem Neutronenbeschuss kaum einbüßt. In der Fusionsforschung arbeiten wir aber auch an neuen Materialien, die durch Neutronenbeschuss kaum radioaktiv werden. Doch das ist noch Zukunftsmusik.

Sie haben bereits angedeutet, dass die Fusion nicht frei von Radioaktivität ist. Wie groß ist das Problem?

Günter: Bemerkenswerterweise ist die Furcht vor Radioaktivität besonders in Deutschland groß. Die Leute gehen trotzdem zum Röntgen oder zur Computertomografie, ohne sich darüber Gedanken zu machen, oder setzen sich beim Fliegen freiwillig der Höhenstrahlung aus.
Zunächst einmal haben wir bei der Fusion keine radioaktiven Endprodukte. Daher gibt es keine langlebigen radioaktiven Abfälle. Außerdem fehlt die von den kurzlebigen radioaktiven Endprodukten erzeugte Nachwärme, die etwa beim Kraftwerk in Fukushima zur Kernschmelze geführt hat. Während des Kraftwerksbetriebs kann es auch nicht zu unkontrollierbaren Leistungsanstiegen kommen. Im Gegenteil: Bei der kleinsten Störung erlischt das Plasma, und die Neutronenproduktion hört schlagartig auf.
Tritium selbst hat eine Halbwertszeit von nur etwas mehr als zehn Jahren. Auch die Halbwertszeit der aktivierten Materialien in einem Fusionskraftwerk ist viel geringer als die der Abfallprodukte in einem Spaltungskraftwerk. In wenigen hundert Jahren sind die Stoffe schwächer radioaktiv als beispielsweise die Asche von Kohle. Wir gehen davon aus, dass das anfallende radioaktive Material nur rund 100 Jahre lang auf dem Kraftwerksgelände verwahrt werden muss.

Der Weg zum ersten Fusionskraftwerk ist lang. Werden Sie nicht manchmal ungeduldig ob des zähen Fortschritts? Lässt sich so überhaupt der Forschernachwuchs begeistern?

Günter: Selbstverständlich geht auch mir manches zu langsam. Aber als Wissenschaftler ziehen wir unsere Befriedigung daraus, immer etwas Neues verstanden und erreicht zu haben. Und Fortschritte sind in der Fusionsforschung durchaus messbar. Ähnlich wie sich in der Computerindustrie die Anzahl der Transistoren pro Chip alle zwei Jahre verdoppelt, verdoppelt sich bei uns ein Parameter, der unseren Erfolg misst. Er ist das Produkt aus Temperatur, Teilchendichte und Energie-Einschlusszeit, Letztere ein Maß für die Wärmeisolation. Dieser Wert hat sich seit den 1960er Jahren um den Faktor 100.000 erhöht. Bis zu einem Energie liefernden Fusionskraftwerk fehlt jetzt noch etwa ein Faktor fünf bis zehn. Die erste Anlage vom Tokamaktyp erreichte eine Temperatur von knapp drei Millionen Kelvin. Heute liegen wir bei 400 Millionen Kelvin. Natürlich haben wir damit noch kein Fusionskraftwerk. Aber wir arbeiten uns von Meilenstein zu Meilenstein voran. Und wenn Sie für ein so ambitioniertes Projekt eine Planung aufstellen, dann stellen Sie fest, dass 40 Jahre gar nicht so lang sind.
Der ITER ist daher eine sehr spannende Sache, insbesondere für den Nachwuchs. Seit die Entscheidung für den Bau gefallen ist, haben wir wieder deutlich mehr Studenten in den Vorlesungen. Die stört es nicht, dass er erst in etwa zehn Jahren in Betrieb gehen wird. Sie sehen, dass es vorangeht. Und jemand, der jetzt anfängt, kann noch alles gut miterleben.

Die internationalen Anstrengungen scheinen sich ja auf den ITER zu konzentrieren, bei dem das Tokamakkonzept verfolgt wird. Warum bauen Sie mit Wendelstein 7-X in Greifswald dennoch einen Stellarator?

Günter: Ob der Tokamak das Rennen macht oder der Stellarator, ist heute schwer zu sagen. Der Tokamak hat momentan einen großen Vorsprung. Doch das Stellaratorkonzept ist sehr viel versprechend. Die Erfahrungen mit Wendelstein 7-X werden wir nutzen, um auch den Stellarator zu einem Kraftwerk weiterzuentwickeln. Erst dann können wir entscheiden, welche Technik sich schlussendlich am besten für ein Kraftwerk eignet. Ich kann mir auch vorstellen, dass beide Varianten zum Zuge kommen. Für Autos gibt es ja ebenfalls sowohl Diesel- als auch Benzinmotoren. Die Zukunft wird zeigen, welcher Weg der beste ist.

Das Gespräch führte Gerhard Samulat.


Sibylle Günter ist seit Februar 2011 Wissenschaftliche Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik. Schon seit 2000 leitet sie dort die Abteilung Tokamaktheorie. Die theoretische Physikerin lehrt zudem an den Universitäten Rostock und München.

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Gibt es Alternativen?

Die ersten Entwürfe für Fusionsreaktoren entstanden Anfang der 1950er Jahre. Damals schätzte der amerikanische Physiker Lyman Spitzer von der Princeton University, sein »Stellarator« könnte 150 Megawatt Leistung aufbringen, genug für etwa 150.000 Haushalte. In der Sowjetunion entwarfen Andrej Sacharow und Igor Tamm 1952 dagegen den so genannten Tokamak.

Weitere Fusionskonzepte sind inzwischen hinzugekommen. An der National Ignition Facility (NIF), einer gigantischen Anlage in Kalifornien, wird ein Brennstoffkügelchen mit 192 Laserstrahlen beschossen. Darüber hinaus existieren neuere, weniger aufwändige Ansätze. In New Mexico arbeiten Forscher der Sandia National Laboratories am MagLIF-Konzept, bei dem ein von einer Röntgenquelle namens »Z Machine« erzeugter magnetischer Puls das Brennmaterial in einem kleinen Zylinder komprimiert und verschmilzt; schon 2013 hofft man auf den Break-Even-Point, will also mehr Energie freisetzen, als in die Zündung der Fusion gesteckt wird. Bei Helion Energy in Redmond, Washington, lässt man hingegen zwei extrem beschleunigte Plasmawolken miteinander kollidieren.

Während ITER und Co. auf gut untersuchte Physik setzen, betreten diese Firmen allerdings wissenschaftliches Neuland; zudem ist ein gelungenes Fusionsexperiment noch lange kein Kraftwerk. Andererseits: Einem Durchbruch bei alternativen Konzepten hätten Tokamaks und Stellaratoren wenig entgegenzusetzen - jedenfalls nicht vor 2050.


DER AUTOR
Gerhard Samulat ist Diplomphysiker und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Wiesbaden. Für seinen Beitrag »Frische Brise« in SdW 2/2012 wurde er mit dem UMSICHT-Wissenschaftspreis des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in der Kategorie »Journalismus« ausgezeichnet.


LITERATURTIPPS
Kernfusion - Stand und Perspektiven: Bericht des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik vom September 2011:
www.ipp.mpg.de/ippcms/de/pr/publikationen/pdf/fusion_d.pdf
Nüchterne Übersicht mit interessanten Fakten

ITER - Jahresbericht 2011:
www.iter.org/doc/all/content/com/Lists/depts_legacy/Attachments/13/annual%20report%202011.pdf
Detailreiche Hochglanzbroschüre

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www.ipp.mpg.de/ippcms/de/externe_daten/panorama/
Interaktives 360-Grad-Panorama von ASDEX Upgrade

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1168627

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 59:
Im Schmelztiegel der Sonne herrschen 15 Millionen Kelvin. Im Fusionsreaktor Wendelstein 7-X sollen es einmal 100 Millionen Kelvin sein. Das Bild zeigt ein Modul des Außengefäßes. Durch seine mehr als 200 Öffnungen werden später Rohre, Kabel und Datenleitungen für Wasser, Helium, Strom und Sensoren führen.

Abb. S. 60 oben:
Wenn Deuterium und Tritium miteinander verschmelzen, entstehen ein Heliumatomkern sowie ein schnelles Neutron. Letzteres gibt seine Bewegungsenergie anschließend als Wärme ab, die sich zur Stromgewinnung nutzen lässt.

Abb. S. 60 unten:
Noch bis August 2014 dauern die Arbeiten an Wendelstein 7-X; dann geht der Stellarator in Betrieb. Im Inneren des Plasmagefäßes (Zentrum des Bilds) werden später Temperaturen um 100 Millionen Kelvin herrschen, während die umgebenden Magnetspulen (siehe auch das Bild auf S. 62) auf ultratiefe Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt abgekühlt sind.

Abb. S. 61:
30 Meter hoch ist der Tokamak ITER, in dem ab 2020 erste Experimente mit Wasserstoff stattfinden sollen. Erst gegen Ende der 2020er Jahre wird ein Deuterium-Tritium-Gemisch verwendet, wie es für den Kraftwerksbetrieb nötig ist. Das Volumen des Energie liefernden Plasmas beträgt 837 Kubikmeter, bei einer Masse von gerade einmal 0,5 Gramm.

Abb. S. 62:
Der verwundene Plasmaschlauch (linke Grafik, gelb) im Reaktor Wendelstein 7-X wird von kompliziert geformten Magnetspulen (blau) in Form gehalten. Die gesamte Anordnung befindet sich in einem Kryostaten (rechte Grafik, rot, nur in Teilen dargestellt). Dank der darin herrschenden niedrigen Temperaturen werden die Spulen supraleitend.

Abb. S. 63:
Schon seit 1991 ist am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik auch die mit fünf Meter Radius größte deutsche Kernfusionsanlage ASDEX Upgrade in Betrieb. Dieser Blick ins Innere des Tokamaks zeigt das 100 bis 200 Millionen Kelvin heiße Plasma.

Abb. S. 66:
Allmählich nimmt Wendelstein 7-X seine endgültige Gestalt an. Dieses Foto lässt noch einen letzten Blick auf sein Inneres erhaschen. Im Dezember 2011 wurde dann das noch fehlende Stück der Außenhülle installiert.

© 2012 Gerhard Samulat, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 12/12 - Dezember 2012, Seite 58 - 67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2013