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FORSCHUNG/888: Komplexe Systeme - Flüssigkeit mit Ecken (MPG)


Max-Planck-Gesellschaft - 5. April 2012

Komplexe Systeme
Flüssigkeit mit Ecken

Ein neues Modell erklärt, warum ein auf einer Oberfläche auseinanderströmendes Fluid einen vieleckigen hydraulischen Sprung bilden kann


Ein Flüssigkeitsstrahlt trifft auf einen ebenen und waagerechten Boden auf. Das Foto zeigt, daß sich ein regelmäßiges Vieleck ausgebildet hat. - Foto: © Erik A. Martens, APS

Foto: © Erik A. Martens, APS

Erläuterung zum Foto:
Polygonaler hydraulischer Sprung mit acht Ecken: Ein Flüssigkeitsstrahlt trifft auf einen ebenen und waagerechten Boden auf. Um den Auftreffpunkt herum fließt die Flüssigkeit zunächst schnell ab. Aufgrund der inneren Reibung zwischen den Fluidmolekülen verringert sich die Fließgeschwindigkeit. Das führt schließlich zu einem sprunghaften Anstieg des Flüssigkeitsspegels. Dieser nimmt normalerweise die Form eines Kreises an. Ist der Flüssigkeitspegel jenseits des hydraulischen Sprungs hoch genug, so kann sich ein regelmäßiges Vieleck ausbilden.

Physikalische Phänomene kann man auch in der Küchenspüle beobachten: Trifft ein Wasserstrahl auf dem Spülenboden auf, so fließt das Wasser um den Punkt herum, an dem es auftrifft, zunächst schnell ab. In einem bestimmten Abstand steigt der Wasserpegel jedoch sprunghaft an, weil sich die Fließgeschwindigkeit verringert. Dieser so genannte hydraulische Sprung kann, wenn der Spülenboden waagerecht und eben ist, sogar die Form eines exakten Kreises annehmen. Dass sich aus dieser Kreisform unter bestimmten Bedingungen allerdings auch Vielecke ausbilden, etwa Dreiecke, Fünfecke oder Achtecke, haben Forscher im Labor erst vor einigen Jahren entdeckt. Nun haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Stelbstorganisation gemeinsam mit Kollegen aus Dänemark und Japan erstmals ein theoretisches Modell entwickelt, das die grundlegenden Mechanismen dieses erstaunlichen Strömungsphänomens beschreibt.

Alltagsphysik beginnt oft an so unscheinbaren Orten wie der Küchenspüle. Von dort kennt wohl jeder folgendes Phänomen: Dreht man den Wasserhahn auf, bildet sich am Spülenboden um den Auftreffpunkt des Wasserstrahls eine kreisförmige Region mit einer dünnen Schicht sehr schnell fließenden Wassers. Am Rand dieser Region steigt der Wasserpegel sprunghaft an; jenseits fließt das Wasser langsamer weiter. Dieser Effekt wird als Wassersprung oder hydraulischer Sprung bezeichnet. Ist der Boden waagerecht und ganz eben, und verwendet man statt Wasser ein zähflüssigeres Fluid wie etwa Frostschutzmittel, so bildet sich dieser hydraulische Sprung sogar in Form eines exakten Kreises aus.

Wohl noch niemand hat jedoch in seiner Küchenspüle beobachtet, dass sich aus diesem Kreis auch beispielsweise ein Achteck herausbilden kann. 1997 haben Wissenschaftler dieses erstaunliche Phänomen erstmals im Labor entdeckt: Sie haben bei Experimenten den Flüssigkeitspegel jenseits der Sprungstelle erhöht, indem sie den Flüssigkeitsstrahl auf eine runde Platte fließen ließen, die durch eine schmale Wand begrenzt wird. Die Höhe der Wand über der Platte können die Forscher verstellen und so kontrollieren, wie hoch sich die Flüssigkeit jenseits des hydraulischen Sprungs aufstaut.


Der hydraulische Sprung bildet Dreiecke, Fünfecke oder Achtecke

Ab einem bestimmten Flüssigkeitspegel verliert der hydraulische Sprung seine Kreisform, es entwickeln sich Ecken und ein erstaunliches neues geometrisches Muster einsteht: ein regelmäßiges Vieleck. Experten nennen dieses Phänomen polygonalen hydraulischen Sprung. In Abhängigkeit vom Pegelstand und der Flussgeschwindigkeit haben die Forscher zum Beispiel Dreiecke, Fünfecke oder eben Achtecke beobachtet - und festgestellt, dass bis zu 14 Ecken möglich sind.

Die Abbildung zeigt, wie ein polygonaler hydraulischer Sprung entsteht. - Abbildung: © Erik Martens

Wie ein polygonaler hydraulischer Sprung entsteht: Der normale hydraulische Sprung wird von einem hinter ihm liegenden ringförmigen Wirbel erzeugt, der sich im Uhrzeigersinn. Ab einem gewissen Flüssigkeitsstand jenseits des Sprungs bildet sich ein zweiter Wirbel der darüber liegt und sich in entgegengesetzter Richtung dreht (oben). So können sich Vielecke bilden (unten).
Abbildung: © Erik Martens

Obwohl dieses Strömungsphänomen relativ einfach ist, gibt es bisher kein theoretisches Modell, das die experimentellen Beobachtungen exakt beschreibt. Nun haben Physiker des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, der Technischen Universität von Dänemark und der Ibaraki Universität in Japan erstmals ein umfangreiches Modell für polygonale hydraulische Sprünge entwickelt.

Beim normalen kreisförmigen hydraulischen Sprung breitet sich die Flüssigkeit, wenn der Strahl auf den Boden auftrifft, zunächst mit einer Geschwindigkeit aus, die als superkritisch bezeichnet wird: Das Fluid bewegt sich schneller als sich darauf Störungen in Form von Oberflächenwellen fortpflanzen können; kleinere Störungen bewegen sich nur stromabwärts und klingen schnell aus.

Mit zunehmendem Abstand vom Auftreffpunkt des Strahls verringert sich die Fließgeschwindigkeit, und es kommt in Folge dessen in einem bestimmten Abstand, zu einem plötzlichen Anstieg des Fluidpegels, also zum hydraulischen Sprung. Denn hinter dem Sprung entsteht ein Wirbel, der den hydraulischen Sprung wie ein Ring umgibt und sich wie eine ringförmige Walze im Uhrzeigersinn dreht. Die Strömungsgeschwindigkeit bezeichnen Experten nun als subkritisch: Störungen in Form von Wellen können sich in beide Richtungen ausbreiten.

Originalveröffentlichung
Erik A. Martens, Shinya Watanabe, Tomas Bohr
Model for polygonal hydraulic jumps
Physical Review E; 30. März 2012; doi: 10.1103/PhysRevE.85.036316

Ansprechpartner
Erik A. Martens PhD
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen
E-Mail: erik.martens@ds.mpg.de

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Quelle:
MPG - Presseinformation vom 5. April 2012
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2012