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ASTRO/176: Die verschwundenen Galaxien (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 10/11 - Oktober 2011

Astrophysik
Die verschwundenen Galaxien

Von James E. Geach


Nach neuesten Schätzungen enthält das Universum 200 Milliarden Galaxien - doch das sind nur zehn Prozent der im Kosmos vorhandenen Materie. Wo verbirgt sich der große Rest?


AUF EINEN BLICK

Das intergalaktische Medium

1. Die vermeintlich »normale« Materie des Universums steckt voller Rätsel. Eines der größten lautet: Warum bildet nur ein Bruchteil des kosmischen Materials Galaxien? Wohin ist der Rest verschwunden?

2. Vermutlich verbirgt sich die normale Materie größtenteils in riesigen gasförmigen Filamenten. Dieses warm-heiße intergalaktische Medium (WHIM) lässt sich nur schwer direkt nachweisen.

3. Die Galaxienbildung ist offenbar ein ziemlich ineffizienter Vorgang. Während Material in die Galaxie hineinstürzt, schießt es teilweise gleich wieder aus ihr heraus - Astrophysiker nennen diesen Vorgang galaktische Rückkopplung. Darum sind Galaxien nur leuchtende Inseln in einem lebhaft zirkulierenden Meer aus gasförmiger Materie.


Auf den Bildern, die das Hubble-Weltraumteleskop liefert, wimmelt das All nur so von Galaxien. Die feinste je gefertigte Teilaufnahme des Nachthimmels, das Hubble Ultra Deep Field, zeigt ungefähr 10.000 dieser Sternenwirbel in einem Gebiet, das einem Hundertstel der Vollmondfläche entspricht. Auf den ganzen Himmel hochgerechnet ergibt das 200 Milliarden.

Demnach scheint der Kosmos geradezu von Galaxien überzuquellen. Doch dieser Schein trügt. Wenn man die sichtbare Materie aller heutigen Galaxien summiert, kommt man nur auf ein Zehntel des beim Urknall erzeugten Materials. Wo ist der Rest, und warum hat er sich nicht zu Galaxien entwickelt? Das ist eines der größten Rätsel der modernen Astronomie.

Der Fehlbetrag hat nichts mit Dunkler Materie oder Dunkler Energie zu tun, das heißt mit den unbekannten Substanzen, die zusammen 96 Prozent der Gesamtmasse des Kosmos ausmachen. Das Problem betrifft die 4 Prozent normaler Materie, aus der unsere Körper und unsere alltägliche Umgebung bestehen - hauptsächlich Baryonen, also die Teilchensorte, zu der Protonen und Neutronen gehören. Somit stehen die Kosmologen vor einem doppelten Rätsel: Nicht genug damit, dass das Universum größtenteils aus rätselhaften »dunklen« Komponenten besteht, sogar von der normalen Materie ist nur ein Bruchteil auffindbar!

Das bedeutet, der Prozess der Galaxienbildung muss sehr ineffizient sein - so als würde nur jeder zehnte Samen einer Saat aufgehen. Nachdem Astronomen jahrelang nach einer Erklärung gesucht haben, müssen wir jetzt offenbar nicht nur unser Bild der Galaxienentstehung revidieren, sondern sogar den Begriff Galaxie selbst.


Wo sind all die Baryonen geblieben?

Woher wissen wir, dass das Universum zu Beginn mehr Baryonen enthielt, als wir heute direkt nachzuweisen vermögen? Die anfängliche Menge baryonischer Materie lässt sich ziemlich leicht abschätzen. Die Information steckt in der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung, einem Überbleibsel des Urknalls. Raumsonden wie die Wilkinson Microwave Anisotropy Probe und das Planck-Weltraumteleskop messen kleinste Schwankungen in der Temperatur dieser Strahlung, und die Verteilung dieser Fluktuationen offenbart die Baryonendichte des Universums zu einer Zeit, als es noch keine Galaxien gab. Eine zweite, davon unabhängige Schätzung beruht auf der Häufigkeit von Helium, Deuterium und Lithium. Diese Elemente wurden in den ersten Minuten des Universums in einem Mengenverhältnis synthetisiert, das von der Gesamtmenge an baryonischer Materie abhing. Beiden Methoden zufolge machen Baryonen vier Prozent der Masse des heutigen Universums aus.

Zu Beginn bildeten alle Baryonen ein heißes Gas, das den Raum erfüllte. In Gebieten hoher Dichte zog es sich auf Grund der Schwerkraft zu immer dichteren Wolken zusammen, von denen die Galaxienentstehung ausging. Astronomen entdecken dieses Gasreservoir des frühen Universums, indem sie das intensive Licht weit entfernter Quasare analysieren, das auf dem Weg zu uns das urtümliche intergalaktische Gas durchquert. Da der kalte, neutrale Wasserstoff einer Gaswolke Photonen einer ganz bestimmten Energie absorbiert, erzeugt er im Quasarspektrum eine charakteristische Absorptionslinie - eine Helligkeitslücke bei einer genau definierten Wellenlänge.

Ein vom Quasar ausgehender Lichtstrahl mag unterwegs Hunderte solcher Wolken durchqueren, und jede hinterlässt eine Absorptionslinie, die je nach ihrer Entfernung vom Beobachter auf Grund der kosmischen Rotverschiebung bei etwas unterschiedlicher Wellenlänge liegt. Indem wir die Lücken im Spektrum summieren, können wir die Anzahl der Baryonen in diesen Wolken berechnen. Demnach gab es noch fünf Milliarden Jahre nach dem Urknall, das heißt vor rund neun Milliarden Jahren, so viele Baryonen wie ganz zu Anfang. Die meisten trieben im intergalaktischen Raum umher und waren noch nicht zu leuchtenden Galaxien kollabiert (siehe »Die Macht der kosmischen Leere« von Evan Scannapieco et al., Spektrum der Wissenschaft 11/2002, S. 36).

In den neun Milliarden Jahren seither bildete sich aus dem riesigen Reservoir urtümlichen Wasserstoffs der Großteil der heutigen Galaxien. In deren Innerem fügten sich die Baryonen zu unterschiedlichsten Gestalten; so entstanden Sterne und Sternreste, neutrales und ionisiertes Gas aus Atomen und Molekülen, Staub, Planeten - und Menschen.

Wir können die Masse der Baryonen in diesen unterschiedlichen Formen abschätzen, indem wir das elektromagnetische Spektrum ihrer Strahlung messen. Sichtbares Licht und nahes Infrarot geben Auskunft über die Masse von Sternen; eine deutliche Radioemissionslinie signalisiert die Menge an neutralem atomarem Wasserstoff; Infrarotstrahlung zeigt interstellaren Staub an. Auf diese Weise zählen Astronomen alle unterschiedlichen Formen baryonischer Materie in allen uns umgebenden Galaxien zusammen - und dabei offenbart sich die große Diskrepanz: Die Gesamtsumme macht nur zehn Prozent der ursprünglich im frühen Universum vorhandenen Baryonen aus. Vermutlich sind die meisten nicht einfach verschwunden, sondern halten sich in den riesigen Räumen zwischen den Galaxien auf. Aber warum können wir sie nicht sehen?


Spurensuche in Zwischenräumen

Immerhin einige dieser intergalaktischen Baryonen können die Astronomen aufspüren. Dichte Schwärme von Galaxien, so genannte Cluster, sind von Plasma erfüllt - ionisiertem Gas. Die intensive Gravitation eines Clusters verleiht den Ionen hohe Geschwindigkeit und erhitzt das Plasma auf hunderte Millionen Grad; dadurch sendet es Röntgenstrahlung aus. Weltraumteleskope wie XMM-Newton und Chandra können Galaxiencluster ohne Weiteres anhand dieser Strahlung entdecken. Doch da Cluster selten sind, kommt das darin enthaltene Gas nur für zusätzliche vier Prozent der Baryonen auf. Wenn wir alle Baryonen zusammenzählen, die wir in Galaxien, Clustern und andernorts im intergalaktischen Raum sehen können, macht das erst die Hälfte des Gesamtbetrags aus. Das bedeutet: Material für mindestens 500 Milliarden Galaxien bleibt unauffindbar.

Um den Fehlbetrag zu erklären, vermuteten Renyue Cen und Jeremiah P. Ostriker von der Princeton University sowie Romeel Davé von der University of Arizona vor zehn Jahren, die fehlenden Baryonen seien zwar vorhanden, hätten aber einen schwer zu entdeckenden Zustand angenommen, der mit den großräumigen kosmischen Strukturen zusammenhängt: Unter dem Einfluss der Gravitation hat sich die Dunkle Materie zu einem riesigen Netz zusammengezogen und bildet eine Art universelles Skelett. Die Cluster sind eigentlich nur besonders dichte Knoten dieses kosmischen Gewebes. Außerhalb der Cluster sammeln sich die meisten Galaxien in weniger dichten Gruppen oder in langen Filamenten. Das intergalaktische Gas wird von der Schwerkraft der Filamente angezogen und erhitzt sich dabei durch Stoßwellen auf Temperaturen von 100.000 bis zu einigen zehn Millionen Grad. Das mutet sehr heiß an, ist aber für Gas zwischen Clustern eher lauwarm. Die Wärme reicht zwar aus, um die Gasteilchen stark zu ionisieren, aber nicht, um zur Röntgenstrahlung anzuregen.

Cen, Ostriker und Davé tauften dieses Material das warmheiße intergalaktische Medium oder kurz WHIM. Wenn wir seine Existenz und seine Ausmaße empirisch bestätigen könnten, wären wir im Stande, die fehlenden Baryonen zu identifizieren.

Um das WHIM zu entdecken, suchen Astronomen nach kleinen Beimengungen von ionisiertem Sauerstoff oder Stickstoff, weil sie charakteristische Wellenlängen im Ultraviolett oder Röntgenbereich absorbieren. Das ist dieselbe Absorptionslinienmethode wie für die kalten Wasserstoffwolken im frühen Universum: Man sucht nach Lücken im Spektrum von Quasaren, die das WHIM von hinten beleuchten. Tatsächlich haben das Hubble-Weltraumteleskop und der inzwischen aufgegebene Far Ultraviolett Spectroscopic Explorer (FUSE) mehrmals Absorptionslinien von stark ionisiertem Sauerstoff in Quasarspektren entdeckt. Allerdings zeigt dieses Ion nur den relativ kühlen Teil des WHIMs an. Um das häufigere, heißere Gas aufzuspüren, müssen wir nach den Absorptionslinien noch stärker ionisierter Gaspartikel suchen.

Das Team um Taotao Fang von der University of California in Irvine hat mit den Röntgenteleskopen Chandra und XMM-Newton die so genannte Sculptor-Wand erforscht, eine riesige Ansammlung von Galaxien, die mit 400 Millionen Lichtjahren Entfernung noch im lokalen Universum liegt. Die dort gefundenen Absorptionslinien weisen auf fast vollständige Ionisation - Verlust der Elektronenhülle - des Sauerstoffs hin. Das Team schloss daraus auf die gesamte Baryonendichte in diesem WHIM und kam zu dem Schluss, sie stimme mit kosmologischen Simulationen überein.

Allerdings kratzen solche Beobachtungen, so erfreulich sie sind, nur an der Oberfläche. Das WHIM-Signal ist schwach und liegt an der Nachweisgrenze der Instrumente. Außerdem beruht die Absorptionslinienmethode auf seltenen und zufällig verteilten Quasaren; das macht die WHIM-Suche zum Glücksspiel. Und selbst wenn man trotz alledem Absorption entdeckt, muss man zahlreiche Annahmen über die Beschaffenheit des Gases machen, um auf weitere WHIM-Eigenschaften schließen zu können.


Galaxienbildung einst und jetzt

Die Existenz des WHIMs erklärt einigermaßen, warum die Galaxienformung so wenig effektiv ist: Durch die Entwicklung großräumiger Strukturen wurde das intergalaktische Gas zu dünn und zu heiß, um kühle, dichte Galaxienkeime zu bilden. Doch offensichtlich haben trotzdem einige Baryonen Galaxien hervorgebracht, sonst gäbe es uns nicht.

Also muss die Galaxienbildung früher viel effektiver gewesen sein. Vor rund acht Milliarden Jahren lag die durchschnittliche Entstehungsrate von Sternen 10- bis 20-mal höher als heute. Damals nahmen die meisten Galaxien, die wir heute sehen, Gestalt an. Wodurch verlangsamte sich die Galaxienbildung später so drastisch? Wie entstehen die Sternenwirbel überhaupt?

Im Prinzip ist das Rezept ganz einfach. Nach einem Modell, das Simon D. White vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching und Carlos S. Frenk von der Durham University (England) aufstellten, wachsen Galaxien in massereichen Klumpen Dunkler Materie, so genannten Halos, deren Schwerkraft das Gas der Umgebung ansaugt. Während es den Halo durchquert, wird es teilweise durch Stoßwellen erhitzt, emittiert Strahlung, kühlt dadurch wieder ab und zieht sich zu einem kompakten Gebilde zusammen. In dessen Innerem kann das Gas noch kühler werden und zu Wolken aus molekularem Wasserstoff kollabieren, die sich auf Grund ihrer Gravitation weiter zusammenziehen und schließlich die für Sterne erforderliche Dichte erreichen. Größere Galaxien können aus der Verschmelzung kleinerer Systeme hervorgehen.

White und Frenk erkannten schon in den 1990er Jahren, dass ihr Modell Lücken aufweist. Zum Beispiel wird nicht das gesamte in Galaxien einströmende Gas durch Stoßwellen auf hohe Temperaturen gebracht. Doch seither wurde das ursprüngliche Modell verfeinert. Neuen thermodynamischen Simulationsrechnungen zufolge bildete das Gas, das im frühen Universum in die entstehenden galaktischen Scheiben hineinströmte, zum Teil Stränge, die mit 10.000 bis 100.000 Grad relativ kalt waren und nur wenige tausend Lichtjahre Durchmesser hatten. Die kalten Strömungen durchstießen anscheinend das heißere Gas im Halo und gelangten direkt in die Galaxien.

Diesen Vorgang hat allerdings noch niemand direkt beobachtet. Die detaillierte Physik der Akkretion von Gas zu Galaxien ist kompliziert, und verschiedene Simulationen machen etwas unterschiedliche Vorhersagen. Immerhin scheint unstrittig, dass alle Galaxien durch die schwerkraftbedingte Akkumulation von urtümlichem Gas entstehen, das entweder erhitzt und abgekühlt wird oder sich niemals erwärmt.

Das Modell vermag aber nicht zu erklären, wodurch der Zustrom von Gas letztlich zum Erliegen kommt; sonst würden die Galaxien monströse Formen annehmen. Frühere Modelle gaben die beobachteten Größenverhältnisse zwar recht gut wieder - aber nur, weil die Astronomen den Wert der mittleren Baryonendichte damals halb so hoch ansetzten wie heute. Als die Zahl auf Grund neuer Messungen nach oben korrigiert werden musste, lieferten die Modelle ein unrealistisches Übermaß an massereichen Galaxien.

Außerdem ergeben die Modelle eine Unmenge von ziemlich kleinen Klumpen Dunkler Materie, die sich erst nachträglich zu immer größeren Gebilden zusammenballen - doch das trifft auf wirkliche Galaxien nicht zu. Man beobachtet längst nicht so viele kleine Galaxien, wie die Modelle vorhersagen, und die massereichsten Galaxien haben sich anscheinend nicht durch graduelle Ansammlung kleinerer Teile gebildet, sondern rasch und unmittelbar.

Offenbar fehlt den Modellen ein entscheidender Bestandteil, der die Gaskühlung und die Sternbildung so regelt, dass kleine Galaxien schlecht Sterne bilden und massereiche Galaxien nicht unbegrenzt wachsen. Darum führten Theoretiker zusätzliche Regulierungsprozesse ein, die unter dem Namen galaktische Rückkopplung zusammengefasst werden. Sie wirken dem Gravitationskollaps von Gas zu Galaxien entgegen und begrenzen die Anzahl der gebildeten Sterne. Zu solchen Vorgängen gehören Supernova-Explosionen, Ultraviolettstrahlen und Materieströme aus Sternen sowie die enorme Energie, die beim Wachstum der gigantischen Schwarzen Löcher in den Kernen massereicher Galaxien frei wird (siehe »Gegenwind aus dem Schwarzen Loch« von Wallace Tucker et al., Spektrum der Wissenschaft 5/2007, S. 34). In den größten Galaxien sorgen wahrscheinlich vor allem Schwarze Löcher für die Rückkopplung; in kleineren Systemen sind Supernovae und Sternwinde wichtiger.

All diesen Prozessen ist gemeinsam, dass sie Energie in das umgebende Medium abgeben. Dadurch können Galaxien den Zustrom von Materie stoppen, bereits akkumuliertes Gas an der Sternbildung hindern oder sogar Baryonen in den intergalaktischen Raum zurückwerfen. Modelle mit Rückkopplung entsprechen der tatsächlich beobachteten Galaxien verteilung viel besser. Zudem sorgt das galaktische Feedback dafür, dass das WHIM wieder aufgefüllt und erwärmt wird. Durch kontinuierliches Kühlen und Erwärmen zirkulieren die Baryonen zwischen dem intergalaktischen Raum und dem Galaxieninneren. Das Galaxienwachstum wird durch ein empfindliches Gleichgewicht bestimmt, das im Lauf der kosmischen Geschichte hin- und herschwankt. Heute wissen wir: Die Galaxienentstehung hängt vom Kampf um Baryonen ab.


Die Lyman-Alpha-Klumpen

Doch wie funktionieren Gaskühlung und Rückkopplung genau? Wir brauchen empirische Daten, um die Modelle zu prüfen. Die kalte Materie, die einst in Galaxien einströmte, sollte sich durch die diffuse Strahlung verraten, die der Wasserstoff während der Abkühlung aussendet. Indizien für Rückkopplung sind intensive Infrarotemissionen bei der Sternbildung sowie Röntgen- oder Radiostrahlung aus der Umgebung eines massereichen Schwarzen Lochs. Mittlerweile ist es gelungen, beiden Prozessen auf die Spur zu kommen.

Vor rund zehn Jahren entdeckte Charles Steidel vom California Institute of Technology in Pasadena Himmelsobjekte, die anscheinend den Nachweis der Kühlung erlauben: die Lyman-Alpha-Klumpen. Lyman-Alpha bezeichnet eine typische Strahlungsfrequenz von Wasserstoffgas. Die »Klumpen« (blobs) zählen zu den größten leuchtenden Objekten im frühen Universum - helle Wolken, die mit 300.000 Lichtjahren Durchmesser viel größer sind als unsere Milchstraße. Ihre Strahlung stimmt frappierend mit theoretischen Vorhersagen für kaltes Gas überein, das in junge Galaxien strömt.

Allerdings erzeugen auch viele andere astrophysikalische Prozesse Lyman-Alpha-Emissionen. So könnten Ultraviolettstrahlen oder ein kosmischer Wind von galaktischem Ausmaß Energie in die Klumpen pumpen und sie erglühen lassen. Mit dem Chandra-Teleskop haben meine Kollegen und ich festgestellt, dass viele Klumpen Galaxien mit wachsenden Schwarzen Löchern enthalten, die intensive Röntgenstrahlung aussenden. Oft ist diese Aktivität von intensiver Sternbildung begleitet; sie macht sich durch Infrarotemissionen bemerkbar, die aus den umgebenden Staubschichten dringt. Nach unseren Berechnungen reicht die dabei freigesetzte Energie völlig aus, um die Lyman-Alpha-Emission zu erzeugen.

Vielleicht wird das Leuchten der Klumpen also gar nicht durch Kühlung hervorgerufen, wie viele meinen, sondern durch Erwärmung. Wie dem auch sei: Jedenfalls versprechen wir uns von den Klumpen Antworten auf weiterhin offene Fragen der Galaxienentstehung. Beispielsweise besagen detaillierte Simulationen der Dunklen Materie, dass um große Galaxien vom Milchstraßentyp Tausende von Zwerggalaxien schwirren sollten wie Bienen um den Bienenstock. Nun wird die Milchstraße zwar von einigen Zwergsystemen begleitet, doch die Simulationen sagen viel größere Mengen voraus.


Was ist eine Galaxie?

Eine Erklärung wäre, dass Zwerggalaxien zwar tatsächlich im frühen Universum in großer Zahl entstanden, jedoch von ihrer Muttergalaxie mit Strahlung und Wind förmlich bombardiert wurden. Das Trommelfeuer fegte alle von den Zwergen akkumulierten Baryonen hinweg und ließ nur nackte Klumpen Dunkler Materie übrig, die sich seither in der Umgebung der Muttergalaxie verstecken. Demnach gelingt großen Galaxien im Kampf um Baryonen ein Waffenstillstand, während kleinere eine komplette Niederlage erleiden.

Seit der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) in den Spiralnebeln ferne »Welteninseln« vermutete, stellen wir uns Galaxien als isolierte Gebilde vor. Doch diese Inseln sind nur leuchtende Spitzen in einem schier unermesslichen Meer baryonischer Materie. Sie erfüllt das Universum, wird von einer unsichtbaren »dunklen« Architektur geformt und entwickelt sich nach den Gesetzen der Gravitation.

Alle Baryonen waren zu Beginn im selben Zustand: heißes, urtümliches Gas, das schnell die Grundelemente Wasserstoff und Helium sowie kleine Beimengungen von Deuterium und Lithium bildete. Was wir unter Galaxien verstehen, entstand aus diesem Rohmaterial, als es durch die Schwerkraft stark verdichtet wurde. Doch Galaxien bestehen nicht aus konstanten Baryonenmengen; seit dem Urknall bewegt sich die Materie in einem riesigen Kreislauf zwischen ihnen hin und her. Durch die widerstreitenden Einflüsse von Gravitation und Rückkopplung wird kaltes Gas zu Galaxien kontrahiert und erwärmt wieder ausgestoßen. Neuen Computersimulationen zufolge, die Rob Crain von der Swinburne University of Technology in Melbourne (Australien) und Benjamin Oppenheimer von der Universität Leiden (Niederlande) durchführten, zirkulierte fast die Hälfte der Baryonen, die gegenwärtig Galaxien bilden, früher einmal - oft sogar viele Male - durch das intergalaktische Medium. Die Baryonen, aus denen unser Körper besteht, haben seit fast 14 Milliarden Jahren an diesem Zyklus teilgenommen; die Materie Ihres Fingernagels entstammt vielleicht den Sternen fremder Galaxien und verbrachte Milliarden Jahre im intergalaktischen Raum, bevor sie in unserem Sonnensystem zur Ruhe kam. Wir sind bloß ein kurzlebiger Wirt der vergleichsweise sehr seltenen Substanz, die wir normale Materie nennen.

Das neue Bild der Galaxienentwicklung beruht auf dem Baryonenkreislauf. Galaxien entpuppen sich als kleine Details in der großräumigen Entwicklung des intergalaktischen Mediums. Das baryonische Universum ist überwiegend gasförmig. Galaxien sind nur Zwischenstadien in einem Zyklus, der fortwährend Partikel von einem Zustand in den anderen versetzt; zu jedem Zeitpunkt halten sich die meisten Baryonen nicht in Galaxien auf.

Für uns bleiben die leuchtenden Welteninseln dennoch etwas Besonderes: Die Milchstraße ist unsere Heimat - ein riesiges, komplexes Gebilde inmitten kosmischer Finsternis. Nach dem anthropischen Prinzip haben wir das unwahrscheinliche Glück, in einer Zeit zu leben, in der die Baryonen, aus denen die Erde besteht, eine kalte, stabile Form angenommen haben. Doch das kann nicht immer so bleiben. In rund fünf Milliarden Jahren wird die sterbende Sonne die inneren Planeten verbrennen, die äußeren verdampfen und den Abfall aus schweren Elementen allmählich zurück in das interstellare Medium verstreuen. Und so setzt sich der Kreislauf fort.


DER AUTOR
Der Astronom James E. Geach stammt aus Cornwall (England). An der McGill University in Montreal (Kanada) untersucht er die Entwicklung der Galaxien, insbesondere die Entstehung der Sterne und das Verhalten des kalten Gases.

QUELLEN
Bregman, J.N.: The Search for the Missing Baryons at Low Redshift. In: Annual Review of Astronomy and Astrophysics 45, S. 221, 2007

Davé, R. et al.: The Intergalactic Medium over the Last 10 Billion Years. Ly-Alpha Absorption and Physical Conditions. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 408, S. 2051-2070, 2010

Geach, J.E. et al.: The Chandra Deep Protocluster Survey: Ly-Alpha Blobs Are Powered by Heating, Not Cooling. In: Astrophysical Journal 700, S. 1-9, 2009

WEBLINKS

www.scientificamerican.com/may2011/geach

Dreidimensionale Ansicht einer Galaxienentstehung

www.physics.mcgill.ca/~jimgeach

Webseite des Autors mit Bildern und Weblinks

Den vollständigen Artikel und weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1121036


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 45:
Während sich eine Galaxie vom Typ unserer Milchstraße bildet, zieht sie dichtes, kaltes Gas (rote Ströme) an und stößt zugleich heißes Gas (blaue Ströme) in den intergalaktischen Raum zurück. Am Ende enthält sie nur einen kleinen Bruchteil des Rohmaterials. Der Autor erzeugte dieses Bild mit Hilfe eines kosmologischen Simulationsprogramms, das neue Erkenntnisse berücksichtigt.

Abb. S. 47:
Der fehlenden Materie auf der Spur
Der Großteil der normalen Materie im Universum steckt nicht in Galaxien, sondern verbirgt sich im so genannten warm-heißen intergalaktischen Medium (WHIM). Der Name bezeichnet ein vorwiegend aus Wasserstoff bestehendes Gas, das nicht sehr heiß ist und darum zu schwach leuchtet, um direkt beobachtbar zu sein. Als die Astronomen das Chandra-Röntgenteleskop auf die Lücken in einer gigantischen Ansammlung von Galaxien namens Sculptor-Wand richteten, sahen sie quasi den Schatten des WHIMs: Das intergalaktische Gas absorbiert bei einer ganz bestimmten Wellenlänge Röntgenstrahlen, die von einem viel weiter entfernten Hintergrundobjekt ausgehen.

Abb. S. 48:
Der gigantische Klumpen aus Wasserstoffgas (gelb) ist offenbar bei der Bildung einer massereichen Galaxie übrig geblieben.

Abb. S. 49:
Wie gewonnen, so zerronnen
Warum kommen die Galaxien nur für einen derart kleinen Bruchteil der kosmischen Materie auf? Zum einen landet der Großteil der Materie im WHIM, zum anderen wachsen Galaxien nicht unbegrenzt weiter. Das intergalaktische Gas, das durch die Gravitation eingesaugt wird, kollabiert schließlich zu Sternen und Schwarzen Löchern. Diese Objekte strahlen aber wiederum Energie in das interstellare und intergalaktische Medium zurück; das wirkt dem Zustrom entgegen. Zu solchen Rückkopplungsprozessen gehören Sternwinde, Supernova-Explosionen sowie die von Schwarzen Löchern ausgehenden Jets.

Abb. S. 50-51:
Ein turbulenter Wirbel
Früher stellte man sich Galaxien als recht behäbige Gebilde vor: majestätische Scheiben aus unzähligen Sternen, die in der Leere des Weltraums treiben. Jetzt erweisen sie sich als offene dynamische Systeme, die aktiv mit der Umgebung wechselwirken. Fortwährend zirkuliert normale Materie zwischen den Galaxien. Der größte Teil davon hält sich zu jedem Zeitpunkt im intergalaktischen Raum auf. Die Simulation zeigt eine unserer Milchstraße ähnliche Galaxie vor zehn Milliarden Jahren und heute.


© 2011 James E. Geach, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 10/11 - Oktober 2011, Seite 44 - 51
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2011