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ASTRO/168: Kosmische Inflation auf dem Prüfstand (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 8/11 - August 2011

Astrophysik
Kosmische Inflation auf dem Prüfstand

Von Paul J. Steinhardt


Nach gängiger Meinung blähte sich das Universum unmittelbar nach dem Urknall extrem auf. Doch das Modell dieser so genannten kosmischen Inflation beruht auf derart willkürlichen Annahmen, dass einige Forscher nach Alternativen suchen.


AUF EINEN BLICK

Fragwürdige Voraussetzungen

1. Die kosmische Inflation gilt Astrophysikern als verbürgte Tatsache. Demnach lassen sich die »flache« Geometrie und die Gleichförmigkeit des Kosmos durch einen intensiven Wachstumsschub kurz nach dem Urknall erklären.

2. Doch zu Beginn der Inflation müssen höchst unwahrscheinliche Bedingungen vorgelegen haben. Außerdem geht sie ewig weiter und erzeugt unendlich viele Universen, in denen völlig beliebige Verhältnisse herrschen können.

3. Manche Forscher bezweifeln, dass es sich dabei nur um Kinderkrankheiten der Theorie handelt. Sie diskutieren daher neue Ansätze, um das Modell zu retten oder durch ein anderes zu ersetzen - etwa jenes eines zyklisch expandierenden und kollabierenden Universums.


Vor 30 Jahren hielt das Wort Inflation in den kosmologischen Sprachgebrauch Einzug. Alan H. Guth, damals angehender Physiker am Stanford Linear Accelerator Center in Menlo Park (Kalifornien), postulierte einen kurzen Ausbruch extrem beschleunigter Expansion in den ersten Momenten nach dem Urknall. Mich faszinierte die Idee sofort, und seither denke ich fast jeden Tag darüber nach. Vielen meiner Kollegen aus der Astrophysik, Gravitations- und Teilchenforschung geht es genauso. Da wundert es kaum, dass die Theorie der kosmischen Inflation ein besonders aktives Forschungsgebiet ist.

Ihre Aufgabe besteht darin, eine klaffende Lücke in der Urknalltheorie zu füllen. Deren Grundidee besagt, dass das Universum sich seit seiner Entstehung vor 13,7 Milliarden Jahren langsam ausdehnt und abkühlt. Expansion und Abkühlung erklären viele Merkmale des heutigen Universums bis ins Detail - allerdings nur unter einer Voraussetzung: Das Universum hatte zu Beginn ganz bestimmte Eigenschaften. Zum Beispiel war es demnach von Anfang an extrem gleichförmig; die Materie- und Energieverteilung durfte nur ganz geringfügig variieren. Zudem musste es »geometrisch flach« sein. So bezeichnen Astronomen ein Universum, in dem Lichtstrahlen und die Bahnen bewegter Objekte nicht durch weit gespannte Verzerrungen der Raumzeit gebeugt werden.

Aber warum soll das Ur-Universum so gleichförmig und »flach« gewesen sein? Eigentlich muten diese Bedingungen höchst unwahrscheinlich an. Hier kam Guths Idee ins Spiel: Selbst wenn zu Beginn beliebige Unordnung im Universum herrschte - mit höchst ungleichförmiger Energieverteilung und ausgesprochen runzliger Geometrie -, würde ein spektakulärer Wachstumsschub die Energie gleichmäßig verteilen und alle Raumverzerrungen schlagartig ausbügeln. Nach dieser Inflationsphase dehnte sich das Universum dann im gemächlicheren Tempo der ursprünglichen Urknalltheorie weiter aus - doch nun herrschten genau passende Bedingungen für die Entwicklung der heutigen Sterne und Galaxien.

Das Inflationsmodell füllt eine große Lücke der Urknalltheorie

Die Idee ist so unwiderstehlich, dass Kosmologen sie heuteihren Studenten und der Öffentlichkeit als feststehende Tatsache präsentieren. Im Lauf der Jahre geschah allerdings etwas Seltsames: Zwar wurden die Argumente für die Inflation immer stärker, jedoch mehrten sich auch die Einwände. Aber nur eine überraschend kleine Minderheit verfolgt die Gegenargumente - zu der auch ich gehöre. Die meisten Astrophysiker überprüfen stattdessen die Vorhersagen der etablierten Inflationstheorie, ohne sich um ihre Anfechtbarkeit zu kümmern. Sie hoffen, die Probleme würden allmählich verschwinden. Leider ist das nicht der Fall.

Da ich sowohl an der Inflationstheorie gearbeitet habe (siehe »Das inflationäre Universum« von Alan H. Guth und Paul J. Steinhardt, Spektrum der Wissenschaft 7/1984, S. 80) als auch an konkurrierenden Modellen, bin ich hin- und hergerissen. Wie mir scheint, wissen auch viele Kollegen nicht so recht, was sie von den Einwänden halten sollen. Um das Dilemma zuzuspitzen, stelle ich die kosmische Inflation im Folgenden quasi vor Gericht und vertrete dabei zwei entgegengesetzte Standpunkte: Zuerst präsentiere ich als Verteidiger die größten Vorteile der Theorie; dann liste ich als Ankläger die ungelösten Probleme auf.


Plädoyer der Verteidigung

Die Inflation ist so bekannt, dass die Verteidigung sich kurzfassen kann - ein paar Details genügen, um die Vorzüge zu würdigen. Das Modell beruht auf einer speziellen Größe namens inflationäre Energie, die das Universum in einem kurzen Augenblick erstaunlich stark aufzublähen vermag. Die Dichte dieser Energie muss ungeheuer groß sein und während der Inflationsphase fast konstant bleiben. Ungewöhnlich ist, dass ihre Kraft nicht anziehend, sondern abstoßend wirkt. Durch die Abstoßung schwillt der Raum rapide an.

Guths Idee wirkte so plausibel, weil Theoretiker bereits viele mögliche Quellen einer solchen Energie identifiziert hatten. Favorit ist ein hypothetischer Verwandter des Magnetfelds, ein so genanntes Skalarfeld; im Fall der Inflation heißt es Inflatonfeld. Das berühmte Higgs-Teilchen, das derzeit mit dem Large Hadron Collider am CERN bei Genf gesucht wird, leitet sich von einem ähnlichen Skalarfeld her.

Wie jedes Feld hat das Inflaton in jedem Raumpunkt eine bestimmte Stärke, welche die Kraft angibt, die es auf sich selbst und auf andere Felder ausübt. Während der Inflationsphase ist diese überall fast konstant. Je nach Stärke enthält das Feld einen bestimmten Energiebetrag; Physiker sprechen von potenzieller Energie. Der Zusammenhang zwischen Feldstärke und Energie lässt sich als Kurve in einem Diagramm darstellen. Im Fall des Inflatons verläuft die Kurve wie der Querschnitt durch ein tiefes Tal neben einem sanft geneigten Plateau (siehe Kasten unten). Entspricht die Feldstärke anfangs einem Punkt auf dem Plateau, so büßt das Feld allmählich sowohl Stärke als auch potenzielle Energie ein und wandert den Abhang hinab. Gewissermaßen beschreiben die Feldgleichungen einen Ball, der einen Hügel von der Form der Energiekurve hinunterrollt.


Das klassische Modell

Astronomischen Daten zufolge dehnt sich das Universum seit seiner Entstehung vor 13,7 Milliarden Jahren immerfort aus. Doch was geschah in den allerersten Momenten, die sich direkter Beobachtung entziehen? Nach herrschender Auffassung blähte sich das urtümliche Universum plötzlich ungeheuer stark auf. Der inflationäre Wachstumsschub bügelte alle Verzerrungen und Krümmungen des Raums schlagartig aus. Das erklärt die »flache« Geometrie des gegenwärtigen Universums.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Wie die Inflation wirkte
Das Wachstumstempo war selbst für astronomische Maßstäbe gewaltig. Innerhalb von 10-30 Sekunden wuchs das All um einen Faktor von mindestens 1025 in alle Richtungen. Es dehnte sich beschleunigt aus und zerrte Raumgebiete sogar mit Überlichtgeschwindigkeit auseinander.

Als die Inflation einsetzte, war der Radius des heute beobachtbaren Universums 100 Billiarden Mal kleiner als ein Atom. Während der Inflation wuchs es auf die Größe einer Geldmünze an. In den Milliarden Jahren seither dehnte sich der Raum weiter aus, allerdings langsamer, und ermöglichte die Bildung von Galaxien.

Wodurch die Inflation verursacht wurde
Das so genannte Inflatonfeld erzeugte eine abstoßende Schwerkraft, durch die der Raum augenblicklich rapide anschwoll. Dafür musste die Energiedichte des Felds mit der Feldstärke so variieren, dass ihre Kurve ein hochenergetisches Plateau und ein niederenergetisches Tal bildete. Das Feld verhielt sich dadurch wie ein abwärtsrollender Ball. Auf dem Plateau wirkte es abstoßend; sobald es das Tal erreichte, hörte die Inflation auf.


Die potenzielle Energie des Inflatons kann eine beschleunigte Expansion des Universums verursachen und es dabei glätten und »verflachen« - vorausgesetzt, das Feld bleibt lange genug (10-30 Sekunden) auf dem Plateau, um das Universum in jeder Richtung um einen Faktor von mindestens 1025 zu strecken. Die Inflation hört auf, wenn das Feld das Ende des Plateaus erreicht und in das Energietal stürzt. Dort verwandelt sich die potenzielle Energie in die Materie- und Energieformen, die heute das Universum erfüllen - Dunkle Materie, heiße gewöhnliche Materie und Strahlung. Es beginnt eine Phase mäßiger, sich verlangsamender Expansion, in deren Verlauf sich die Materie zu kosmischen Strukturen verdichtet.

Die Inflation glättet das Universum ähnlich einem Gummituch, das bei straffer Spannung seine Falten verliert - zumindest weit gehend. Auf Grund von Quanteneffekten bleiben kleine Unregelmäßigkeiten übrig, denn die Gesetze der Quantenphysik fordern, dass das Feld nicht überall gleich stark ist, sondern zufällig schwankt. Wegen dieser Fluktuationen endet die Inflation in unterschiedlichen Raumregionen zu etwas verschiedenen Zeiten und erwärmt sie auf etwas unterschiedliche Temperaturen. Diese räumlichen Abweichungen sind die Keime späterer Sterne und Galaxien. Der Inflationstheorie zufolge sind die Schwankungen fast skaleninvariant; das heißt, sie hängen nicht von der Größe des Gebiets ab, sondern treten in jedem Maßstab mit gleicher Stärke auf.

Das Plädoyer für die Inflation lässt sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens: Sie ist geradezu unvermeidlich. Seit Guths Vorschlag haben theoretische Physiker Gründe für die Hypothese gefunden, wonach das frühe Universum Felder enthielt, welche die Inflation antreiben konnten; in der Stringtheorie und anderen »großen Vereinigungen« der Naturkräfte treten solche Felder zu Hunderten auf. Im chaotischen Urzustand des Kosmos gab es gewiss ein Raumgebiet, wo eines dieser Felder die Bedingungen für Inflation erfüllte.

Zweitens erklärt die Inflation, warum das All heute so gleichförmig und geometrisch »flach« ist. Niemand weiß, wie es unmittelbar nach dem Urknall aussah, aber wegen der Inflation muss man das gar nicht wissen, denn die Phase der beschleunigten Expansion dehnte das Universum in die richtige Form.

Drittens und vor allem liefert die inflationäre Theorie exakt zutreffende Vorhersagen. Viele Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung und der Galaxienverteilung bestätigen, dass die räumlichen Energieschwankungen im frühen Universum fast skaleninvariant waren.


Plädoyer der Anklage

Dass eine Theorie versagt, kündigt sich oft durch kleine Diskrepanzen zwischen Beobachtung und Vorhersage an. Das ist hier nicht der Fall: Die empirischen Daten stimmen hervorragend mit den theoretischen Vorhersagen aus dem Beginn der 1980er Jahre überein. Die Argumente gegen die Inflation betreffen vielmehr das logische Fundament der Theorie. Funktioniert sie wirklich wie angekündigt? Entsprechen die Vorhersagen von vor 30 Jahren immer noch unserem heutigen Verständnis des Inflationsmodells? Tatsächlich gibt es gute Gründe, beide Fragen zu verneinen.

Das erste Argument der Verteidigung besagte, die Inflation sei unvermeidlich. Doch die Sache hat einen Haken: Schlechte Inflation ist wahrscheinlicher als gute. Mit schlechter Inflation ist eine Periode beschleunigter Expansion gemeint, deren Ergebnis den Beobachtungen widerspricht. Beispielsweise können die Temperaturunterschiede zu groß ausfallen. Das hängt von der genauen Gestalt der Energiekurve ab; diese wird durch einen numerischen Parameter bestimmt, der im Prinzip völlig beliebige Werte annehmen kann. Nur ein extrem schmaler Wertebereich führt zu der beobachteten Temperaturverteilung. In einem typischen Inflationsmodell muss der Wert bei 10-15 liegen, das heißt bei 0,000000000000001. Eine abweichende Zahl, etwa 10-12 oder 10-8 würde schlechte Inflation ergeben: ähnlich stark beschleunigte Expansion, aber viel zu große Temperaturunterschiede.

Wir könnten die schlechte Inflation ignorieren, wenn sie kein Leben zuließe. Dann würden wir derart große Temperaturschwankungen, selbst wenn sie prinzipiell möglich wären, niemals beobachten. Dieses Argument ist als anthropisches Prinzip bekannt. Doch hier greift es nicht. Größere Temperaturabweichungen würden zu mehr Sternen und Galaxien führen; das Universum wäre sogar noch wohnlicher als heute.

Schlechte Inflation ist wahrscheinlicher als gute, aber noch wahrscheinlicher ist gar keine Inflation. Der Physiker Roger Penrose von der University of Oxford wies darauf erstmals in den 1980er Jahren hin. Aus thermodynamischen Prinzipien, wie sie für Atome und Moleküle in einem Gas gelten, berechnete er die möglichen Anfangskonfigurationen des Inflatonund Gravitationsfelds. Einige dieser Anordnungen führen zur Inflation und damit zu fast gleichförmiger Materieverteilung und »flacher« Geometrie. Andere Konfigurationen ergeben aber auch ohne Inflation ein derartiges Universum. Beide Fälle sind allerdings so selten, dass ein »flaches« Universum insgesamt unwahrscheinlich wird. Der Knalleffekt dabei: Ein solches Universum ohne Inflation ist laut Penrose um den Faktor 10100 wahrscheinlicher als eines mit Inflation!


Die Katastrophe ewiger Inflation

Ein anderer Ansatz, der zum selben Schluss kommt, nutzt geltende physikalische Gesetze, um den gegenwärtigen Zustand des Kosmos in die Vergangenheit zu extrapolieren. Die Extrapolation ist nicht eindeutig: Viele Ereignisfolgen können zum heutigen flachen und glatten Zustand geführt haben. Im Jahr 2008 zeigten Gary W. Gibbons von der University of Cambridge und Neil G. Turok vom Perimeter Institute for Theoretical Physics in Ontario, dass die meisten Extrapolationen nur unwesentlich Inflation enthalten. Das passt zum Ergebnis von Penrose.

Beide Schlussfolgerungen wirken zunächst nicht plausibel, denn ein flaches und glattes Universum ist erst einmal unwahrscheinlich, und die Inflation wäre ein starker Mechanismus, um das nötige Glätten und Verflachen zu erreichen. Doch dieser Vorteil wird anscheinend völlig durch die Tatsache aufgehoben, dass die Bedingungen für das Auslösen einer Inflation noch viel unwahrscheinlicher sind. Demzufolge hätte das Universum seinen gegenwärtigen Zustand wohl ohne Inflation erreicht.

Viele Physiker finden diese theoretischen Einwände allerdings weniger überzeugend als das stärkste Argument für die Inflation: Die vor drei Jahrzehnten formulierten Vorhersagen werden heute durch kosmologische Beobachtungen glänzend bestätigt. Dennoch hat dieser Triumph einen üblen Beigeschmack, denn die Prognosen der frühen 1980er Jahre beruhten auf einem naiven Bild der Inflation - und dieses Bild hat sich als völlig falsch erwiesen.

Der Umschwung begann mit der Erkenntnis, dass die Inflation ewig ist: Wenn sie einmal begonnen hat, hört sie nie wieder auf (siehe »Das selbstreproduzierende inflationäre Universum« von Andrei Linde, Spektrum der Wissenschaft 1/1995, S. 32). Diese Tatsache folgt direkt aus der Quantenphysik einer beschleunigten Expansion. Bekanntlich können Quantenfluktuationen das Ende der Inflation hier und da ein wenig verzögern. Wo diese Schwankungen klein sind, fallen auch ihre Wirkungen minimal aus. Doch die Fluktuationen gehorchen dem Zufallsprinzip. In manchen Raumregionen werden sie groß sein und zu erheblichen Verzögerungen führen.

Echte Verzögerungsgebiete sind freilich so extrem seltene Ausreißer, dass man versucht sein könnte, sie zu ignorieren. Das darf man aber nicht, denn sie blähen sich inflationär auf. Dadurch wachsen sie blitzartig über das Gebiet hinaus, in dem die Inflation rechtzeitig zum Stillstand kam. So entsteht ein Meer von inflationär expandierendem Raum um eine kleine Insel aus heißer Materie und Strahlung. Außerdem bringen Ausreißer weitere Ausreißer hervor sowie neue Materieinseln - jede ein eigenständiges Universum. Der Vorgang schreitet ungehemmt fort und erzeugt eine unbegrenzte Anzahl von Inseln, die von immer mehr inflationär expandierendem Raum umgeben werden. Dieses beunruhigende Bild ist aber noch längst nicht alles - das Beste kommt erst.

Die Inseln sind nämlich nicht alle gleich. Wegen des Zufallscharakters der Quantenphysik sind einige höchst ungleichförmig oder stark gekrümmt. Ihre Ungleichmäßigkeit scheint der oben beschriebenen schlechten Inflation zu ähneln, sie hat aber eine andere Ursache. Schlechte Inflation tritt auf, weil die Parameter, welche die Form der Energiekurve steuern, meist zu groß sind. Hier jedoch folgt die Ungleichförmigkeit aus ewiger Inflation und zufälligen Quantenfluktuationen, ganz unabhängig von den Parameterwerten.

Und im Grunde handelt es sich nicht nur um einige Inseln, sondern um unendlich viele. In einem ewig inflationären Universum haben unendlich viele Inseln Eigenschaften, wie wir sie kennen - aber unendlich viele andere nicht. Das eigentliche Ergebnis der Inflation hat Guth am besten zusammengefasst: »In einem ewig inflationären Universum geschieht alles, was überhaupt geschehen kann; es geschieht sogar unendlich oft.«

Ist unser Universum also die Ausnahme von der Regel? Das lässt sich bei einer unendlichen Ansammlung von Inseln schwer beantworten. Angenommen, ein Sack enthält endlich viele Ein- und Zweieuromünzen, deren Anzahl wir kennen. Greifen wir blind hinein, können wir vorhersagen, welches Geldstück wir am wahrscheinlichsten in der Hand halten werden. Doch wenn der Sack unendlich viele Münzen enthält, geht das nicht. Um die Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, können wir versuchen, die entnommenen Münzen in Stapeln zu sortieren.

Zunächst legen wir eine Zweieuromünze hin, dann daneben eine Eineuromünze, dann eine zweite Zweieuromünze und eine zweite Eineuromünze auf die jeweils entsprechende erste und so weiter. Diese Prozedur vermittelt uns den Eindruck, es gebe gleich viele Münzen von jeder Sorte. Doch dann probieren wir ein anderes System aus: Wir stapeln erst zehn Zweieuromünzen, dann eine Eineuromünze, dann wieder zehn zwei Euro, dann eine Eineuromünze und so fort. Nun haben wir den Eindruck, auf jeden einzelnen Euro kämen zehn Zweieuromünzen.


Das Ausmaß unseres Versagens

Welche Zählmethode ist richtig? Die Antwort lautet: keine. Unendlich viele Münzen lassen sich auf unendlich viele Arten sortieren, und das ergibt unendlich viele Wahrscheinlichkeiten. Es gibt kein richtiges Verfahren, um herauszufinden, welche Münze wahrscheinlicher ist. Ebenso wenig lässt sich in einem ewig inflationären Universum die Wahrscheinlichkeit eines Inseltyps bestimmen.

Jetzt sollten Sie wirklich beunruhigt sein. Was bedeutet die Aussage, die Inflation treffe bestimmte Vorhersagen - zum Beispiel, das Universum sei gleichförmig oder zeige skaleninvariante Fluktuationen -, wenn alles, was geschehen kann, unendlich oft geschieht? Und wenn die Theorie keine prüfbaren Vorhersagen macht, wie können die Kosmologen dann weiter behaupten, sie stimme mit den Beobachtungen überein?

Die Theoretiker sind sich zwar des Problems bewusst, aber sie halten es für lösbar. Sie hoffen, das naive Bild der Inflation aus den frühen 1980er Jahren wiederherstellen zu können - obwohl sie seither vergeblich um eine plausible Lösung ringen. Einige versuchen, nichtewige Inflationstheorien auszuhecken, um die unendliche Vielfalt der Universen im Keim zu ersticken. Doch Ewigkeit ist eine natürliche Konsequenz der Kombination von Inflation und Quantenphysik. Um sie zu vermeiden, muss das Universum in einem sehr speziellen Anfangszustand und mit einer speziellen Form von inflationärer Energie beginnen; nur dann hört die Inflation überall im Raum auf, bevor Quantenfluktuationen eine Chance bekommen, sie erneut in Gang zu setzen. In diesem Szenario hängt das beobachtete Ergebnis äußerst empfindlich vom Anfangszustand ab. Das widerspricht jedoch dem eigentlichen Zweck der Inflation: Sie soll das Ergebnis unabhängig von den zuvor herrschenden Bedingungen erklären.

Ein anderer Ansatz nimmt an, dass Inseln wie unser Universum das wahrscheinlichste Ergebnis der Inflation sind. Zu diesem Zweck wird ein so genanntes Maß postuliert, das regelt, wie man die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Inseln gewichtet - als würde man uns im Beispiel mit dem Sack Münzen etwa vorschreiben, wir sollten immer drei Zweieuromünzen pro fünf Eineuromünzen stapeln. Die willkürliche Einführung eines Maßbegriffs kommt jedoch dem Eingeständnis gleich, dass die Inflationstheorie für sich genommen gar nichts erklärt oder vorhersagt.

Theoretiker haben viele plausible Maße vorgeschlagen, die zu unterschiedlichen Schlüssen führen. Zum Beispiel besagt das Volumenmaß, dass man Inseln durch ihre Größe messen soll - auf den ersten Blick eine vernünftige Wahl, denn die Inflation soll ja große Volumina erzeugen, die so gleichförmig und »flach« sind wie unser Kosmos. Leider versagt das Volumenmaß, weil es Verzögerung bevorzugt. Das zeigt der Vergleich von Inseln wie der unseren mit anderen, die später - nach mehr Inflation - entstanden sind. Auf Grund des exponentiellen Wachstums der Inflation werden die späteren Regionen ein sehr viel größeres Gesamtvolumen einnehmen. Darum sind Gebiete, die jünger sind als unseres, unermesslich viel häufiger, und es wäre unwahrscheinlich, dass wir überhaupt existieren.

Laut Inflationsmodell ist unsere Existenz sehr unwahrscheinlich

Die Verfechter der Maßidee gehen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum vor. Sie erfinden und erproben ein Maß nach dem anderen, bis eines vielleicht das ersehnte Resultat liefert: dass unser Universum besonders wahrscheinlich ist. Angenommen, sie haben eines Tages Erfolg. Dann werden sie erklären müssen, was dieses Maß vor allen anderen auszeichnet, und womöglich noch eine Rechtfertigung für diese Erklärung finden müssen, und so weiter.

Andere Forscher berufen sich auf das anthropische Prinzip. Während das Maßkonzept besagt, dass wir auf einer typischen Insel leben, nimmt das anthropische Prinzip an, unsere Insel sei sehr untypisch, biete aber die Voraussetzungen für die Entstehung von Leben. Die Bedingungen in typischeren Inseln seien hingegen unvereinbar mit Galaxien oder Sternen oder einer anderen Voraussetzung für Lebensformen unserer Art. Obgleich die typischen Inseln viel mehr Raum einnehmen als solche, die unserer Insel gleichen, könnten wir erstere ignorieren, denn uns interessieren nur Gebiete, in denen Menschen möglich sind.

Diese Idee hat aber leider den Nachteil, dass unser Universum flacher, glatter und präziser skaleninvariant ist, als es sein müsste, um Leben zu ermöglichen. Typischere, insbesondere jüngere Inseln sind fast ebenso bewohnbar wie unsere, aber viel häufiger.

Von der oft zitierten Behauptung, die kosmologischen Daten hätten die wichtigsten Aussagen der Inflationstheorie verifiziert, bleibt im Licht dieser Argumente wenig übrig. Richtig ist, dass die Daten die Vorhersagen der ursprünglichen naiven Theorie bestätigen, aber das ist nicht die inflationäre Kosmologie von heute. Der naiven Theorie zufolge führt die Inflation zu einem Ergebnis, das den Gesetzen der klassischen Physik gehorcht. In Wahrheit gehorcht die Inflation aber der Quantenphysik, und alles, was geschehen kann, geschieht auch. Doch wenn die Inflationstheorie keine klaren Vorhersagen trifft, wozu ist sie dann gut?

Das eigentliche Problem ist, dass Verzögerung nicht bestraft, sondern belohnt wird. Da Ausreißergebiete, die das Ende der Inflation hinauszögern, beschleunigt weiterwachsen, gewinnen sie unweigerlich die Oberhand. Besser wäre es, wenn jede Ausreißerregion langsamer expandieren würde - oder sogar schrumpfen. Der weitaus größte Teil des Universums bestünde dann aus braven Regionen, in denen die Glättungsphase rechtzeitig aufhört, und unser Universum wäre angenehm normal.


Gezähmte Verzögerung

Genau diese Eigenschaft besitzt die so genannte zyklische Theorie, die meine Kollegen und ich vorschlagen. Demnach ist der Urknall nicht der Beginn von Raum und Zeit (siehe »Die Zeit vor dem Urknall« von Gabriele Veneziano, Spektrum der Wissenschaft 8/2004, S. 30), sondern eher ein »Rückprall« (bounce) von einer vorherigen Kontraktions- zu einer Expansionsphase, die mit der Erzeugung von Materie und Strahlung einhergeht. Die Theorie ist zyklisch, denn nach rund einer Billion Jahre geht die Expansion in Kontraktion über, und diese führt dann über einen neuen Rückprall wieder zur Expansion. Entscheidend ist, dass die Glättung des Universums vor dem Urknall stattfindet - während der Kontraktionsperiode. Alle Ausreißergebiete schaffen sich quasi selbst ab: Die Nachzügler ziehen sich noch weiter zusammen, während brave Regionen bereits rechtzeitig den Rückprall durchmachen und zu expandieren beginnen. Darum bleiben die Ausreißer vernachlässigbar klein.

Die Glättung während der Kontraktion hat eine beobachtbare Konsequenz. Im Lauf jeder Glättungsphase, ob in der inflationären oder der zyklischen Theorie, erzeugen Quantenfluktuationen kleine, sich ausbreitende Verzerrungen der Raumzeit, so genannte Gravitationswellen, die in der kosmischen Hintergrundstrahlung eine charakteristische Spur hinterlassen. Die Amplitude der Wellen ist proportional zur Energiedichte. Die Inflation müsste bei extrem hoher Dichte des Universums stattfinden, während der entsprechende Vorgang im zyklischen Modell einen praktisch leeren Kosmos voraussetzt. Darum wären die vorhergesagten Spuren völlig verschieden: Ohne Inflation wären sie viel schwächer. Freilich ist die zyklische Theorie relativ neu und mag ihre eigenen Probleme haben, doch sie zeigt, dass Alternativen denkbar sind, die nicht mit dem unkontrollierbaren Makel der ewigen Inflation behaftet sind. Unsere bisherigen Resultate legen nahe, dass das zyklische Modell auch andere hier beschriebene Probleme vermeidet.

Gewiss habe ich meine Plädoyers pro und kontra Inflation extrem zugespitzt, ohne Nuancen und ohne ein Kreuzverhör zuzulassen. Viele führende Theoretiker sind überzeugt davon, die erwähnten Probleme seien nur Kinderkrankheiten und sollten unser Vertrauen in die Grundidee nicht erschüttern. Ich und andere wenden ein, die Kritikpunkte beträfen den Kern der Theorie; diese müsse entweder grundlegend verändert oder komplett verworfen werden.

Letzten Endes werden Daten entscheiden, insbesondere Vermessungen des kosmischen Mikrowellenhintergrunds. Schon wird auf Berggipfeln, mit Stratosphärenballons und Satelliten nach den Spuren von Gravitationswellen gesucht; Resultate sind in den nächsten zwei, drei Jahren zu erwarten. Die Entdeckung einer Gravitationswellenspur würde das Inflationsmodell stützen; ihr Ausbleiben brächte es in ernste Schwierigkeiten. Um die Inflation trotz eines Nullresultats zu retten, müssten die Kosmologen für das Inflatonfeld ein speziell geformtes Potenzial annehmen, das die Gravitationswellen unterdrückt - doch das mutet gekünstelt an. Viele Forscher würden dann eher einer Alternative wie dem Modell des zyklischen Universums zuneigen, weil es aus sich heraus ein unbeobachtbar kleines Gravitationswellensignal vorhersagt. Das Resultat wird uns jedenfalls der Antwort auf die Frage, wie das Universum so wurde, wie es ist, und was künftig aus ihm werden soll, ein entscheidendes Stück näher bringen.


DER AUTOR
Paul J. Steinhardt ist Direktor des Princeton Center for Theoretical Science an der Princeton University (US-Bundesstaat New Jersey). Er ist Mitglied der National Academy of Sciences und wurde 2002 für seine Beiträge zur Inflationstheorie mit der Dirac-Medaille des International Center for Theoretical Physics ausgezeichnet. Außerdem war er an der Entdeckung von Quasikristallen in der Festkörperphysik beteiligt.

QUELLEN
Carroll, S.: From Eternity to Here: The Quest for the Ultimate Theory. Dutton Adult, New York 2010

Guth, A.: Die Geburt des Kosmos aus dem Nichts: Die Theorie des inflationären Universums. Droemer Knaur, München 2002

Linde, A.: Quantum Cosmology, Inflation, and the Anthropic Principle. In: Barrow, J.et al. (Hg.): Science and Ultimate Reality: Quantum Theory, Cosmology and Complexity. Cambridge University Press, 2004

Steinhardt, P. Turok, N.: Endless Universe: Beyond the Big Bang. Doubleday, New York 2007

WEBLINKS
www.scientificamerican.com/apr2011/inflation . Ein kurzes Video illustriert die ewige Inflation; US-Blogger diskutieren den Artikel.
http://arxiv.org/abs/hep-th/0609095 . Preprint von Gibbons, G.W., Turok, N.: The Measure Problem in Cosmology. In: Physical Review D 77, Paper Nr. 063516, 2008

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1114584


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 40-41:
Trifft das klassische Inflationsmodell zu? Manche Kosmologen bezweifeln, dass das Universum tatsächlich kurz nach dem Urknall einen heftigen Wachstumsschub erfuhr (gelbes Gebiet).

Abb. S. 44:
Unwahrscheinlich gut, wahrscheinlich schlecht
Die Inflation soll ein riesiges Raumvolumen erzeugen, das von selbst die beobachteten großräumigen Eigenschaften unseres Universums aufweist. Doch dafür muss die Energiekurve des Inflatonfelds eine ganz bestimmte Form haben, die nur durch Feinabstimmung eines Parameters λ erreicht wird. Andernfalls verläuft die Inflation »schlecht« und erzeugt ein riesiges Volumen mit allzu hoher Dichte und falscher Galaxienverteilung. Angesichts des großen Bereichs möglicher λ-Werte ist eine »schlechte« Inflation viel wahrscheinlicher.

»Gute« Inflation: Nur für einen kleinen λ-Bereich liefert die Inflation die beobachtete Galaxiendichte.
»Schlechte« Inflation: Ein typischer λ-Wert erzeugt eine höhere Galaxiendichte und möglicherweise mehr Raum.

Abb. S. 45:
Aller Anfang ist schwer
Die Inflation soll der gängigen Theorie zufolge bei beliebigen Anfangsbedingungen des Universums eintreten. Doch bei näherer Analyse führt nur ein Bruchteil aller möglichen Bedingungen zu dem gleichförmigen, »flachen« Zustand, der heute herrscht. Von diesen speziellen Anfangsbedingungen benötigt wiederum nur ein winziger Bruchteil eine ausgeprägte Inflationsphase, um den heutigen Zustand des Alls zu erreichen.

Abb. S. 46:
Immer und ewig
Die Inflationstheorie soll präzise Vorhersagen treffen, die mit den Beobachtungen übereinstimmen. Doch leistet sie das wirklich? Sobald die Inflation beginnt, breitet sie sich durch Quantenfluktuationen fast überall im Raum immer weiter aus. Wo sie aufhört, bildet sich eine Blase, die ihrerseits wächst. Wir leben in einer solchen Blase, doch sie ist untypisch; die meisten sind jünger. Tatsächlich entstehen unendlich viele Blasen mit einer unendlichen Vielfalt von Eigenschaften. Alles, was geschehen kann, geschieht in irgendeiner Blase. Aber eine Theorie, die alles vorhersagt, besagt gar nichts.


© 2011 Paul J. Steinhardt, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 8/11 - August 2011, Seite 40 - 48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2011