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ZOOLOGIE/1151: Die Liaison der Kauzeköpp (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 4.2013
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Die Liaison der Kauzeköpp

von Harald Rösch



Schönheiten sind sie nicht - die Groppen von Arne Nolte, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön bei Kiel. Trotzdem gibt es für ihn kaum ein faszinierenderes Objekt als diese unscheinbaren Fische, die erst in den 1990er-Jahren im Niederrhein aufgetaucht sind. Es sind nämlich Hybriden, also die gemeinsamen Nachkommen zweier Arten.


Es war ein historischer Moment, als die Arbeiter im Jahr 1807 in der Nähe von Antwerpen in Belgien ihre Schaufeln und Spitzhacken ein letztes Mal in den matschigen Boden rammten. Auf Geheiß Napoleons hatten sie mit dem finalen Spatenstich eine Verbindung zwischen dem Fluss Schelde und einem an dieser Stelle nur 35 Kilometer entfernten Mündungsarm des Rheins geschaffen. Der französische Kaiser wollte so die Rheinschifffahrt mit dem damals französischen Inlandshafen Antwerpen verbinden. Dass sie damit auch die Geburt einer neuen Fischart einleiteten, wäre nicht weiter aufgefallen, hätten Fischkundler nicht fast 200 Jahre später einen bis dato im Rhein unbekannten Fisch entdeckt.

Die künstliche Wasserstraße zwischen Schelde und Rhein hat der Groppe Cottus perifretum das Tor nach Osten geöffnet. Unbeeindruckt von Wirren und Kriegen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts nutzte der kleine, versteckt am Gewässergrund lebende Fisch seine Chance: Er ließ sich von der Strömung aus seinem Lebensraum in den Oberläufen der Scheldezuflüsse treiben, schwamm durch den neuen Kanal hindurch und gelangte schließlich in das Mündungsgebiet des Rheins.

Eigentlich kann Cottus perifretum in großen Flüssen nicht lange überleben, denn Schlamm mag sie überhaupt nicht. Außerdem wird es ihr dort im Sommer zu warm, und es fehlt an Sauerstoff. Im Rhein traf der Neuankömmling aus der Schelde aber einen nahen Verwandten, die Rheingroppe Cottus rhenanus. Der Name täuscht, denn Cottus rhenanus lebt nicht im Rhein, sondern in den Zuflüssen des Mittel- und Niederrheins. Aber wie bei ihren westlichen Kollegen treiben immer wieder einzelne Tiere aus den Quellgebieten der Zuflüsse in den Hauptstrom. Irgendwo im Niederrheingebiet, kurz bevor der Fluss in die Nordsee mündet, haben es die beiden Arten dann trotz der für sie ungünstigen Lebensbedingungen geschafft, Nachwuchs zu produzieren.

Begünstigt durch die massiven ökologischen Veränderungen im Unterlauf des Rheins haben die Nachkommen dieser Liaison seitdem einen Siegeszug angetreten und fast den gesamten Rhein erobert. Mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zehn Kilometern pro Jahr wandern die auch Kauzeköpp genannten Fische flussaufwärts. Inzwischen haben sie bereits den Oberrhein bei Karlsruhe und den unteren Main erreicht.


Kein Ort für Groppen

Arne Nolte verfolgt die Ausbreitung der neuen Groppen, die vor rund zwanzig Jahren erstmalig im Unterlauf des Rheins gesichtet wurden. Fischexperten waren damals völlig ratlos, denn nie zuvor waren Groppen in einem ähnlichen Lebensraum beobachtet worden, der noch dazu stark vom Menschen verändert worden ist. "Das ist, als ob man Bachforellen im Rhein oder Karpfen in einem Gebirgsfluss finden würde", sagt Nolte.

Aber das blieb nicht die einzige Überraschung. 2005 belegte Nolte anhand genetischer Untersuchungen, dass die Invasoren das Ergebnis einer Kreuzung sind. Biologen sprechen von Hybriden. Obwohl sie äußerlich mehr ihrer Elternart aus der Schelde ähneln, sind sie genetisch eine Mischung aus Cottus perifretum und Cottus rhenanus.

Dass diese Mischlinge einen neuen Lebensraum offensichtlich erfolgreicher erobern können als die Elternarten, widerspricht der unter Evolutionsbiologen lange Zeit vorherrschenden Lehrmeinung. "Kreuzungen galten früher als Ausrutscher, die in der Natur eigentlich nicht vorgesehen sind. Hybriden waren demzufolge minderwertiger Ausschuss, der - wenn er überhaupt vorkommt - keine Nachkommen hervorbringen kann", erklärt Nolte. Paradebeispiel dafür ist das Muli, eine sterile Mischform aus der Kreuzung von Pferd und Esel.

Der Grund für diese Sichtweise liegt in der Art, wie der Biologe Ernst Mayr in den 1940er-Jahren eine biologische Art definierte: als Gemeinschaft von Individuen, die sich untereinander fortpflanzen. Alle Individuen, die zusammen lebensfähige Nachkommen produzieren können, würden demnach zur selben Art gehören. Seitdem hat sich jedoch herausgestellt, dass die Definition von Mayr zu eng ist und viele eindeutig unterschiedliche Arten nicht berücksichtigen würde.

So haben Botaniker früh erkannt, dass sich verschiedene Pflanzenarten oft untereinander vermehren und trotzdem konkurrenzfähige Nachkommen erzeugen. Bei den Zoologen hat sich diese Einsicht erst spät durchgesetzt. Die neuen Groppen im Rhein sind nur ein Beispiel, dass sich in der Natur auch Tierarten regelmäßig miteinander vermischen. Und nicht nur das: Nolte ist überzeugt, dass Hybriden eine zentrale Rolle für die Entstehung neuer Arten spielen können. Schätzungen besagen, dass etwa jede zehnte Fisch- und Vogelart mit einer anderen Art hybridisiert. Damit liegt die Vermutung nahe, dass Hybridisierungen immer wieder für neue genetische Varianten sorgen, besonders zwischen nahe verwandten Arten. "Hybriden sind mehr als Unfälle der Natur, im Gegenteil: Sie könnten maßgeblich zur Artenfülle auf der Erde beigetragen haben. Ohne die Vermischung gäbe es also weniger Arten", sagt Nolte.


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WIE ENTSTEHT EINE ART?

Damit sich eine neue Art ausbilden kann, muss der Genfluss innerhalb einer Art verhindert oder zumindest eingeschränkt werden. Dies ist der Fall, wenn Individuen von ihrer Population räumlich getrennt werden, etwa durch einen Fluss oder ein Gebirge (allopatrische Artbildung). Die beiden Gruppen entwickeln sich nun unterschiedlich weiter, sodass bei ausreichend langer Trennung zwei Arten daraus werden können. Wissenschaftler haben diese Form der Artbildung häufig bei Vögeln beobachtet.

Aber auch ohne räumliche Trennung können neue Arten entstehen. So können innerhalb einer Population die Individuen mit einem extremen Merkmal optimal an die Umwelt angepasst sein, etwa wenn kleine Individuen sich auf einen Nahrungstyp spezialisieren und große auf einen anderen. Bei einer solchen sympatrischen Artbildung wird der Genfluss unterbunden, wenn die beiden Gruppen den eigenen Typ bevorzugen und sich nur noch untereinander fortpflanzen. Gerade für Fischarten und Insekten ist dieser Prozess mittlerweile gut belegt.

Darüber hinaus kann der Genaustausch zwischen Populationen auch verhindert werden, wenn sie sich beispielsweise auf unterschiedliche Lebensräume spezialisiert oder ein unterschiedliches Balzverhalten entwickelt haben, sich zu unterschiedlichen Zeiten paaren oder wenn die Hybriden den beiden Ausgangspopulationen unterlegen sind.

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Ein grosses Sammelsurium

Die Groppen sollen dem Forscher zeigen, wie aus Hybriden neue Arten werden. Doch zunächst beschäftigte er sich mit der Vielfalt der europäischen Fischfauna. Denn diese war bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts nur ungenau beschrieben. Eine umfassende und systematische Zusammenstellung der europäischen Fische wurde erst 2007 veröffentlicht. Kein Wunder, dass vorher auch die Verwandtschaftsverhältnisse der Groppenpopulationen kaum Beachtung gefunden hatten. Ichthyologen hatten die Groppen Mitteleuropas oft in einen Topf geworfen, den sie als Cottus gobio-Artenkomplex bezeichneten. Zusammen mit Maurice Kottelat und Jörg Freyhof, damals am Museum Alexander Koenig in Bonn, schälte Nolte allein drei unterschiedliche Arten aus diesem Sammeltopf heraus, die im Niederrheingebiet und in direkt benachbarten Flüssen vorkommen.

Mit Fischen beschäftigte sich Arne Nolte von Kindesbeinen an. Buntbarsche, Schmerlen, Skalare, Killifische - in seinen Aquarien tummelte sich das "Who's Who" beliebter Aquarienfische. Bis zu vierzig verschiedene Becken umfasste sein Bestand in Hochzeiten, sogar aus dem Gewächshaus seiner Eltern musste das Gemüse weichen und den Fischen Platz machen. Schon dem angehenden Diplom-Biologen war klar: "Ich will später einmal etwas mit Fischen machen!" Da ihm seine Universität in Oldenburg dazu keine Möglichkeiten bot, fuhr er auf eigene Faust quer durch Europa und sammelte Groppen, um sie zu bestimmen. Kaum jemand kennt diese Fische deshalb so gut wie er.

Aber schon bald zeigten seine Untersuchungen, dass zur Artbestimmung die Morphologie allein nicht mehr ausreichen würde. Analysen des Erbguts wurden eine immer wichtigere Ergänzung für die Verwandtschaftsbestimmung. Im Labor von Diethard Tautz an der Universität Köln eignete er sich daraufhin das molekularbiologische Rüstzeug an, mit dem er fortan die Groppen untersuchte. Im Jahr 2008 berief ihn Tautz, inzwischen Direktor am Plöner Max-Planck-Institut, zu sich.

Ein Blick in das Erbgut der Groppen enthüllte, was anhand äußerer Merkmale nicht zu erkennen war: Die im Rhein aufgetauchten Tiere sind genetische Mischlinge. Genetische Analysen prägen seitdem den Forschungsalltag Noltes. Mit ihrer Hilfe will er herausfinden, wie sich die Hybridgroppen im neuen Lebensraum zu einer neuen Art entwickeln und was sie so erfolgreich macht.

Auf Fangtour ist der Forscher nur noch selten. Für seine Analysen muss er die Fische unter kontrollierten Bedingungen halten und gezielt miteinander kreuzen. Seine bevorzugten Untersuchungsobjekte schwimmen deshalb im Fischkeller des Plöner Max-Planck-Instituts in fein säuberlich aufgereihten Aquarien, versorgt mit Frischwasser aus dem benachbarten Schöhsee.


Evolution bei der Arbeit

Für die Wissenschaft ist es ein großer Glücksfall, die Geburt einer Art in einem so frühen Stadium beobachten zu können. In vielen Fällen untersuchen Biologen Populationen, die sich schon seit Tausenden oder Millionen von Jahren auseinanderentwickeln. "Unsere Hybridlinie ist wahrscheinlich nur maximal 200 Jahre alt. Das ist einzigartig", sagt Arne Nolte.

Zunächst wollten die Plöner Forscher die Frage klären, ob die Nachkommen der Hybridgroppen ein genetisches Handicap mit auf ihren Weg bekommen. Denn wenn sich die Hybriden untereinander fortpflanzen, vermischen sich die Erbgutanteile, die ursprünglich von den beiden Elternarten stammen. Dabei können spezielle Mutationen auftreten, welche die Lebensfähigkeit der Hybriden beeinträchtigen. So werden zum Beispiel manchmal sogenannte Transposons aktiv, springende DNA-Abschnitte, die irgendwo im Erbgut eingebaut werden und Gene unterbrechen. Bei vielen Tierarten sind besonders männliche Hybriden weniger lebensfähig, weil ihre Geschlechtschromosomen X und Y nur in einer einzelnen Ausführung vorliegen. Erbgutschäden wirken sich deshalb bei männlichen Tieren sofort aus. Die Untersuchungen der Plöner Forscher haben jedoch keine schädlichen Mutationen bei den Hybridgroppen zutage gefördert.

Die ersten Hybriden waren genetisch also nicht benachteiligt, nachdem Cottus perifretum und Cottus rhenanus im Rhein aufeinandergetroffen waren. Aber nicht schlechter zu sein als die Elternarten reicht nicht. Schon diese hatten es ja nicht geschafft, dauerhaft im Rhein zu überleben.

Irgendetwas müssen die Mischlinge folglich beherrschen, das die Ausgangsformen nicht können. Noch wissen Nolte und seine Kollegen nicht genau, was es ist. "Wir vermuten, dass die Hybriden ihren Stoffwechsel besser an höhere Wassertemperaturen anpassen können. Sie tolerieren wärmeres Wasser eher und wachsen darin schneller", sagt er.


Spuren im erbgut

Wieder hält das Erbgut wichtige Hinweise bereit. Rund 500 Gene sind bei den Elternarten und den Hybriden unterschiedlich stark aktiv. In diesen Genen steckt das Geheimnis des Erfolgs der Mischlinge. Außerdem sind die heute lebenden Hybridgroppen genetisch nicht mehr identisch mit den ursprünglichen Hybriden. Ein Vergleich zwischen den Hybriden aus der Natur und erst kürzlich im Labor erzeugten Kreuzungen hat deutliche Unterschiede im Erbgut ergeben. Die heute im Rhein lebenden Groppen haben sich folglich bereits weiterentwickelt und an die dort herrschenden Umweltbedingungen angepasst.

Arne Nolte möchte es jedoch noch genauer wissen. Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat ihn dafür mit fast 1,4 Millionen Euro ausgestattet. Damit will er in den nächsten fünf Jahren mithilfe umfangreicher Genanalysen herausfinden, welche genetischen Veränderungen es den Hybriden ermöglichen, in den großen Strömen zu überleben, und welche ökologischen Vorteile diese Mutationen mit sich bringen.

Wie stark die Evolution die Hybriden im Rhein schon geformt hat, lässt sich in natürlichen Hybridzonen beobachten. Diese entstehen in den Mündungsbereichen, wo die in den großen Strömen lebenden Hybriden auf die einheimischen Groppen in den Zuflüssen treffen. Nolte und sein Team haben mehrere dieser Hybridzonen entlang des Flusses Sieg untersucht, der bei Bonn in den Rhein mündet. In den Oberläufen der Zuflüsse in die Sieg leben ausschließlich Cottus rhenanus, in der Sieg selbst dagegen die Hybriden mit Cottus perifretum. An den Mündungen stoßen die beiden Linien aufeinander und pflanzen sich fort. Es entstehen Rückkreuzungen, die man auch als sekundäre Hybriden bezeichnet.


In den Mündungen gefangen

Ausgangsarten, Hybriden, sekundäre Hybriden - die Verwandtschaftsverhältnisse könnten nun endgültig unübersichtlich werden. Aber die sekundären Hybriden haben offenbar ein Problem: Sie besiedeln nur die Mündungsbereiche dauerhaft - Bereiche also, in denen kaum andere Groppen vorkommen. Von dort scheinen sie sich nicht ausbreiten zu können. Denn obwohl die Groppen sich in der Sieg mit einer Geschwindigkeit von etwa vier Kilometern pro Jahr ausgebreitet haben, sind die Hybridzonen seit Jahren nur etwa zwei Kilometer breit. Für Nolte ist deshalb klar: "Bachmündungen stellen ökologische Grenzen und deshalb Ausbreitungsbarrieren dar. Die sekundären Hybriden sind sowohl den angestammten Rheingroppen in den Oberläufen unterlegen als auch den Rhein-Schelde-Hybriden in den Hauptflüssen."

Einen weiteren Hinweis darauf, dass die natürliche Selektion die Ausbreitung der sekundären Hybriden bestimmt, liefern Genanalysen von Fischen aus den Hybridzonen. Sie haben nämlich gezeigt, dass die sekundären Hybriden durchaus lebens- und fortpflanzungsfähig sind. Sie vermehren sich untereinander und an den Rändern der Hybridzonen auch mit den Ausgangslinien, ein regelrechter Hybridschwarm ist die Folge. Es sind folglich nicht rein genetische Ursachen, welche die Ausweitung der Hybridzonen verhindern. Bleibt die Erklärung, dass die Hybriden in den Übergangszonen schlechter an die Lebensräume ihrer Eltern angepasst sind. Nur in den Flussmündungen, wo die Lebensbedingungen abrupt wechseln, können sie sich halten.

Die Befunde aus den Hybridzonen entlang der Sieg sind für Nolte aber auch noch in anderer Hinsicht wichtig: "Sie sind ein Beispiel dafür, dass Hybriden den Ausgangslinien in deren angestammtem Lebensraum unterlegen sind, wenn sie mit ihnen in direkter Konkurrenz stehen. Das gilt besonders dann, wenn die Lebensräume intakt sind." Diese Nachricht wird vor allem Naturschützer beruhigen, die vor Faunenverfälschung durch die Freisetzung von Zuchtlinien warnen. Sie bestätigt die Beobachtung bei Hechten, Saiblingen und Forellen, derzufolge entkommene Zuchtfische fast keine genetischen Spuren in den Wildpopulationen hinterlassen haben.

Ein ähnlicher Fall ist der unter Aquarienliebhabern beliebte Kampffisch Betta splendens. In seiner Heimat Thailand werden nicht nur bunte Varianten mit auffälligen Flossen für die Aquarienhaltung gezüchtet, sondern seit Jahrhunderten auch aggressive, kurzflossige Formen, um mit ihnen Wettkämpfe zu veranstalten. Es ist naheliegend anzunehmen, dass Zuchtformen über die Jahre immer wieder in Freiheit gelangt sind und sich mit den Wildformen vermischt haben. Manche Fischkundler gingen sogar so weit, den ursprünglichen Kampffisch für ausgestorben zu erklären - vermutlich zu Unrecht, denn die Zuchtformen und ihre Hybriden haben in der Natur keine Chance gegen die wilden Verwandten.


Hybriden besetzen Nischen

Dass Hybriden schlechter an die Umwelt angepasst sind als ihre Elternarten, gilt allerdings nur für den angestammten Lebensraum. Neue Lebensräume können Hybriden dagegen oft besser in Besitz nehmen, wie die Groppen im Rhein zeigen. "Hybriden sind die besseren Eroberer. Deshalb ist ihre Rolle bei der Artbildung so wichtig. Mit ihren aus verschiedenen Linien zusammengesetzten Genomen liefern sie neue Vorlagen, mit denen die Evolution dann spielen kann", sagt Arne Nolte.

Hybriden besiedeln aber nicht nur leichter neue Lebensräume, sie haben auch Vorteile, wenn sich die angestammte Umwelt verändert. Dann sind nämlich neue Anpassungen gefragt, und die Mischlinge können die Ausgangsarten überflügeln.

Ein solcher Lebensraum im Wandel ist auch der Rhein. Vom Menschen begradigt und in ein Korsett aus Dämmen und Uferbefestigungen gezwängt, hat sich das Ausmaß der Veränderungen in den vergangenen zwanzig Jahren beschleunigt. Seit nach einer Reihe von Chemieunfällen in den 1980er-Jahren der Gewässerschutz in Deutschland verbessert wurde, steigt die Wasserqualität im Rhein kontinuierlich an. Inzwischen beherbergt der Fluss wieder mehrere zuvor verschwundene Arten. Gleichzeitig hat aber die Menge an Lebewesen im Rhein abgenommen, da nun weniger Nährstoffe zur Verfügung stehen.

Hinzu kommen weitere im Zuge des Klimawandels eingewanderte oder durch den Menschen eingeschleppte Tierund Pflanzenarten. Mehrere Einwanderungswellen hat der Rhein innerhalb weniger Jahre erlebt: Zuvor nicht heimische Körbchenmuscheln, Flohkrebse und Borstenwürmer dominieren heute große Teile des Ökosystems. "Ein solcher Lebensraum im Umbruch bietet Hybriden die Gelegenheit, neue Nischen zu besetzen. Vermutlich wird der Klimawandel die Entstehung neuer Arten aus Hybriden noch weiter beschleunigen", sagt Nolte.

Hybriden sind also nicht nur ein unerwünschtes Nebenprodukt im Zusammenspiel der Arten. Sie sind in der Natur allgegenwärtig und ein unverzichtbarer Treibstoff für die Evolution. Selbst in der Evolution des Menschen hat Hybridisierung eine Rolle gespielt: Homo sapiens, Neandertaler und möglicherweise noch weitere Menschenformen haben sich, neuesten Erkenntnissen zufolge, im Laufe ihrer Geschichte miteinander vermischt. Auch der Mensch hat bei seiner Ausbreitung über den Globus von fremdem Genmaterial profitiert.

Der Vormarsch der Groppenmischlinge im Rhein bereitet Nolte daher auch kein Kopfzerbrechen. Für ihn ist das ein völlig natürlicher Prozess. Mehr Sorgen machen ihm andere Eroberer: Seit wenigen Jahren wandern Schwarzmund-, Kesser-, Nackthals- und Nasengrundeln aus dem Mündungsgebiet der Donau ins Schwarze Meer flussaufwärts. Aus der Donau sind sie unter anderem über den Rhein-Main-Donau-Kanal in den Rhein gelangt und breiten sich dort rasant aus.


Grundeln mit Migrationshintergrund

Für Noltes Groppen sind die Grundeln direkte Konkurrenten. Die Pioniere sind besonders große und kräftige Tiere, die ein breites Nahrungsangebot nutzen und sich gegen andere Arten durchsetzen können. Nach und nach verdrängen die Neuankömmlinge angestammte Fischarten. Mancherorts bestehen Fänge vom Flussgrund schon zu mehr als siebzig Prozent aus eingewanderten Grundeln.

Noch finden sich große Populationen der Hybridgroppen in den Hauptzuflüssen des Rheins. Aber die Gefahr besteht, dass die heimliche Ausbreitung der Groppen, weniger als 200 Jahre nach dem Startschuss, von einer neuen Expansion schon wieder beendet ist. Die Exemplare in Noltes Fischkeller wären dann die Letzten ihrer Art. Überlebende eines zuerst erfolgreichen, letztlich aber doch gescheiterten Experiments der Natur.


AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • In der Natur pflanzen sich unterschiedliche Arten regelmäßig miteinander fort. Aus solchen Hybriden können unter bestimmten Voraussetzungen neue Arten entstehen.
     
  • Die Kombination der beiden Genome der Elternarten kann Hybriden neue Eigenschaften und Fähigkeiten verleihen. Dadurch können Hybriden leichter neue Lebensräume besiedeln.
     
  • Im angestammten Lebensraum sind meist die Ausgangsarten überlegen. Dort können sich Hybriden nicht durchsetzen. Dies gilt aber nur für ungestörte Habitate. Veränderungen wie etwa der Klimawandel erhöhen die Überlebenschancen für Hybriden.

GLOSSAR

Biologische Art: Mit der Einteilung in Arten wollen Wissenschaftler die Vielfalt der Natur beschreiben. Lebewesen unterscheiden sich jedoch in mehr oder weniger großen Abstufungen voneinander. Deshalb sind die Trennlinien, die Forscher zwischen Arten ziehen, notwendigerweise willkürlich. Heute gibt es mehr als zwanzig verschiedene Art definitionen. Sie trennen Organismen anhand von äußeren Merkmalen, Genen, Verhalten, Physiologie oder Fortpflanzungsfähigkeit. Einem gängigen Artkonzept zufolge gehören zu einer Art alle Individuen, die sich miteinander fortpflanzen können und deren Nachkommen ebenso fruchtbar sind. Bisher ist es aber noch keinem Artkonzept gelungen, Individuen in jedem Einzelfall widerspruchsfrei zu kategorisieren.

Hybriden: Hybriden im engeren Sinne sind das Ergebnis einer Kreuzung von Individuen, die sich in einem oder mehreren Merkmalen unterscheiden. In der Regel meint man aber die Fortpflanzung unterschiedlicher Arten. Der umgangssprachlich verwendete Ausdruck "Mischling" trifft nicht immer zu, da Hybriden einem Elternteil ähnlicher sein können. Manche Hybriden übertreffen sogar ihre Elternformen oder weisen völlig neue Eigenschaften auf.

Hybridschwarm: Ein Hybridschwarm entsteht, wenn sich Hybriden weiter mit den Ausgangsformen kreuzen, aus denen sie ursprünglich hervorgegangen sind. Die Nachkommen davon pflanzen sich untereinander, mit ihren Hybrideltern und den Aus gangsformen fort, sodass viele verschiedene genetische Linien entstehen.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Groppen, Koppen, Kauzeköpp - die Fische der Gattung Cottus haben im Volksmund viele Namen. Die Männchen kümmern sich hingebungsvoll um ihren Nachwuchs. Sie bewachen die an die Unterseite größerer Steine gehefteten Eier vor Räubern und fächeln ihnen mit ihren großen Brustflossen unentwegt Sauerstoff zu.

- links: Cottus perifretum (oben) und Cottus rhenanus (unten) sind äußerlich für Laien schwer zu unterscheiden. Musterung und Färbung helfen bei der Unterscheidung nicht weiter, da sie auch innerhalb einer Art von Lebensraum zu Lebensraum variieren. Hybriden der beiden Arten ähneln äußerlich Cottus perifretum. rechts: Fischkundler erkennen die beiden Groppenarten daran, wie stark der Rumpf mit Stachelschuppen bedeckt ist (hier durch einen Farbstoff sichtbar gemacht): Bei Cottus perifretum bedecken diese Schuppen die Körperflanken und den Schwanzstiel (oben), bei Cottus rhenanus sind sie auf den Bereich hinter den Brustflossen beschränkt (unten) oder fehlen völlig.

- Groppenstammbaum: Ein Vergleich von sechs besonders variablen Regionen im Erbgut zeigt, dass die Hybridgroppen (rot) genetisch eine gut abgrenzbare Gruppe zu den beiden Elternarten bilden. Sie unterscheiden sich fast gleich stark von Cottus perifretum (lila) und Cottus rhenanus (blau). Die Hybriden sind sich zudem genetisch untereinander ähnlicher als die Elternarten, die in einzelne Linien untergliedert sind. (Die Zahlen entsprechen den Fundorten in der Karte auf Seite 60.)

- Die früher als Cottus gobio bezeichneten Groppen gehören in Wirklichkeit mehreren Arten an: Cottus perifretum (lila) lebt unter anderem im Flusssystem der Schelde. Östlich davon kommt in den Zuflüssen des Mittel- und Niederrheins Cottus rhenanus (blau) vor. Hybriden dieser beiden Arten haben den Rhein selbst sowie die größeren Nebenflüsse wie Sieg, Mosel und Main besiedelt (rot). Die echte Cottus gobio hat im Vergleich dazu ein sehr großes Verbreitungsgebiet, das den gesamten Donau- und Alpenraum bis nach Skandinavien umfasst (grüngelb).

- Karte oben: Im Umfeld der Sieg bei Bonn treffen verschiedene Groppenlinien aufeinander. Die Zuflüsse in die Sieg werden ausschließlich von Cottus rhenanus besiedelt (blau), in der Sieg selbst sind nur Hybridgroppen beheimatet (rot). An den Bachmündungen treffen die Linien aufeinander und bilden Hybridzonen. Eine Ausnahme ist hier der untere Pleisbach, der einen anderen Charakter hat als andere Bäche der Re gion und in dem keine Cottus rhenanus vorkamen, sodass die Hybridgroppen hier Fuß fassen konnten. Im Unterlauf des Wahnbachs hat der Bau eines Staudamms die angestammte Population von Cottus rhenanus ausgelöscht - auch hier konnten die Hybriden flussaufwärts wandern.

- oben: Auch privat beschäftigt sich Arne Nolte am liebsten mit Fischen, hier mit einem frisch gefangenen Bachsaibling (Salvelinus fontinalis) am Sainte-Marguerite in Québec, Kanada.

- unten links: Jörg Freyhof (links) und Arne Nolte auf der Jagd nach Groppen im Pleisbach, einem Zufluss der Sieg in Nordrhein-Westfalen. Groppen leben am Bachgrund und verstecken sich gern unter Steinen und Ästen. Sie besitzen keine Schwimmblase und können schlecht schwimmen. Vor Fangversuchen fliehen sie deshalb mit ruckartigen Zickzackbewegungen.

- unten rechts: Der Fischkeller des Max-Planck-Instituts in Plön beherbergt Dutzende Aquarien mit Groppen aus unterschiedlichen Populationen. In den flachen, mit Flusskies und Tonscherben als Versteckmöglichkeiten ausgestatteten Becken können die Wissenschaftler die Lebensweise der Fische untersuchen und Kreuzungsexperimente vornehmen. Temperatur und Tageslänge im Raum lassen sich genau regulieren, denn die Groppen brauchen zum Überleben und für die Fortpflanzung kühles Wasser und jahreszeitliche Schwankungen.

- Schön, aber nicht durchsetzungsfähig: Zuchtformen wie diese Kampffische aus dem Aquarium können sich in ihrem ursprünglichen Lebensraum meist nicht mehr behaupten und vermischen sich auch nicht mit ihren wilden Artgenossen. Bei der Paarung der Kampffische umschlingt das Männchen das auf dem Rücken liegende Weibchen und fängt die herabrieselnden Eier mit dem Maul auf. Anschließend spuckt das Männchen sie in ein Nest aus Luftbläschen, welches es an der Wasser Oberfläche errichtet hat.


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Dieser Artikel kann als PDF-Datei mit Abbildungen heruntergeladen werden unter:
http://www.mpg.de/7801501/W003_Biologie-Medizin_056-063.pdf

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, 4.2013, S. 56-63
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2014