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ORNITHOLOGIE/208: Mönchsgrasmücken - Evolution vor der Haustür (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2010

Mönchsgrasmücken: Evolution vor der Haustür

Von H. Martin Schaefer und Gernot Segelbacher


Seit jeher sind Menschen vom Vogelzug fasziniert. Schon früh beobachteten und notierten Ägypter und Griechen (z. B. Aristoteles, Hesiod und Homer) das Auftauchen von Zugvögeln. Milliarden Individuen - vom Zilpzalp bis zum Weißstorch - pendeln jährlich zwischen ihren Brut- und Überwinterungsgebieten. Die Faszination des Vogelzugs beruht jedoch sicher nicht nur auf der enormen Masse von Zugvögeln. Es ist ebenso die beeindruckende physiologische Leistung, Zehntausende von Kilometern zurückzulegen und mittels eines hoch entwickelten Orientierungssinns Brut-, Rast- und Überwinterungsgebiete über Hunderte und Tausende von Kilometern zu finden. Der Vogelzug ist aber auch deshalb faszinierend, weil er eines der besten Beispiele dafür liefert, wie sich Tiere innerhalb von wenigen Jahrzehnten an ihre sich ändernde Umwelt anpassen können - sozusagen Evolution zum Zuschauen.


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Viele Vogelarten verändern gegenwärtig ihr Zugverhalten. So haben über 50 Vogelarten in den letzten Jahrzehnten ihre Zugwege verkürzt. Bei den einheimischen Arten sind dies u. a. Rotmilan und Kranich, die in Reaktion auf veränderte Nahrungsbedingungen und möglicherweise auch auf die Klimaerwärmung kürzere Strecken ziehen. Solche Verhaltensänderungen können eine plastische Antwort sein, mit der Vögel flexibel auf Umweltbedingungen wie die vorherrschende Witterung reagieren, sie können aber auch genetisch fixiert sein. Die Mönchsgrasmücke ist weltweit das beste Beispiel, dass Änderungen im Zugverhalten eine genetische Grundlage haben können.



Genetische Grundlage des Vogelzugs

Durch ein innovatives Forschungsprogramm gelang es Prof. Peter Berthold und Dr. Andreas Helbig vor knapp zwanzig Jahren an der Vogelwarte Radolfzell nachzuweisen, dass die Zugrichtung von Vögeln genetisch vererbt wird und dass diese Vererbung nach einem relativ einfachen Muster erfolgt. Sie fanden heraus, dass von Hand aufgezogene Mönchsgrasmücken sich während des Zuges in die gleiche Richtung orientierten, in die auch ihre Eltern zogen. Die beiden Wissenschaftler gingen noch einen Schritt weiter und kreuzten auch Mönchsgrasmücken miteinander, die in verschiedene Himmelsrichtungen zogen. Neben den klassischen Überwinterungsgebieten im westlichen Mittelmeer hat sich seit etwa 1960 eine Überwinterungstradition in Großbritannien herausgebildet. Verpaarten die Wissenschaftlicher nach Südwest Richtung Mittelmeer ziehende Vögel mit solchen, die nach Nordwest flogen um in Großbritannien zu überwintern, so wählten die Nachkommen einen mittleren Zugweg, direkt nach West. Damit war zum ersten Mal überhaupt die genetische Grundlage des Vogelzugs nachgewiesen.

Wie sich die relativ neue Zugrichtung nach Nordwest etablierte, lässt sich heutzutage nicht mehr sicher feststellen. Gesichert ist, dass ca. seit dem Jahr 1958 vermehrt Mönchsgrasmücken während des Winters in Großbritannien gesichtet wurden, während zuvor dort während des Winters nur extrem selten Mönchsgrasmücken beobachtet worden waren. Ringfunde belegten, dass diese Vögel nicht etwa in Großbritannien brüteten, sondern in Süd­deutschland und im westlichen Österreich. Während die britischen Mönchsgrasmücken weiterhin nach Süden zogen, überlebten deutsche und österreichische Mönchsgrasmücken den Winter in Großbritannien offensichtlich, weil sie das Nahrungsangebot an Futterstellen nutzen konnten. Jüngste Zählungen belegen, dass in Großbritannien Mönchsgrasmücken an jedem dritten Futterhäuschen beobachtet werden.

Eine besonders spannende Frage ist, welche evolutionären Konsequenzen sich aus der Etablierung einer neuen Zugrichtung bei der Mönchsgrasmücke ergeben. Um dieser Frage nachzugehen, mussten Dr. Martin Schaefer, Dr. Gregor Rolshausen und Dr. Gernot Segelbacher von der Universität Freiburg mit ihren Mitarbeitern viele Puzzlesteine zusammenfügen. Seit dem Jahr 2006 wurden dazu jeweils im Frühjahr weit über 500 Mönchsgrasmücken direkt nach ihrer Ankunft im Brutgebiet gefangen. Als Studienfläche diente dabei ein ca. 50 bis 80 ha großes Gebiet eines Laubmischwaldes bei Freiburg, das wir morgens abgingen und nach neu angekommenen Vögeln absuchten. Die Vögel wurden gefangen, beringt, vermessen und zusätzlich eine Blutprobe genommen und mit einer Nagelschere eine winzige Probe der Fußkrallen geschnitten. Dr. Keith Hobson am Umweltzentrum in Saskatoon, Kanada, konnte aus den Krallenproben das Verhältnis der verschiedenen Wasserstoffisotopen zueinander bestimmen. Das Verhältnis zwischen Deuterium, dem schweren Wasserstoff, und Protium, dem leichteren Wasserstoff, ändert sich mit den Breitengraden und ist daher in den beiden Überwinterungsgebieten unterschiedlich. Da Zugvögel beide Wasserstoffisotope in dem Verhältnis, in dem sie in der Umwelt vorkommen, mit der Nahrung aufnehmen und in lebendiges Gewebe einbauen, verrät die Analyse der Wasserstoffisotope in den langsam wachsenden Krallen der Mönchsgrasmücken ihr Überwinterungsgebiet. So konnten wir die in Freiburg gefangenen Tiere ihrer jeweiligen Zugroute zuordnen und herausfinden, dass die Vögel aus Großbritannien früher in ihren Brutgebieten in Freiburg ankommen.

Mönchsgrasmücken, die in Großbritannien überwintern, haben mehrere Vorteile. Die Zugstrecke nach Großbritannien ist mit rund 1000 km um ein Drittel kürzer als die ins südliche Spanien. Außerdem können Mönchsgrasmücken aus nördlicheren Regionen früher mit dem Rückzug beginnen, da sich die Tageslänge, ein wichtiger Zeitgeber für die Steuerung des Zugverhaltens, im Frühjahr weiter nördlich schneller ändert. Die kürzere Zugstrecke und der frühere Zugbeginn führen dazu, dass Mönchsgrasmücken, die in Großbritannien überwintern, tatsächlich im Durchschnitt zehn Tage früher in ihren Brutgebieten in Freiburg ankommen als solche, die am Mittelmeer überwintern. Die frühere Ankunft ist in der Konkurrenz um das beste Territorium ein deutlicher Vorteil und einer der Gründe, welhalb sich die neue Zugrichtung nach Nordwest schnell ausbreitet. Gegenwärtig überwintern bereits ca. 10 % der in Freiburg brütenden Mönchsgrasmücken in Großbritannien.



Partner aus dem selben Überwinterungsgebiet

Aus den genommenen Blutproben haben wir Erbgut isoliert und konnten dann mittels eigens entwickelter, artspezifischer genetischer Marker (sogenannten Mikrosatelliten) einen genetischen Fingerabdruck der einzelnen Vögel erstellen. Die Verwandtschaftsbeziehungen der einzelnen Tiere untereinander ermöglicht uns zu untersuchen, ob sich Mönchsgrasmücken unterschiedlicher Zugrichtung miteinander verpaaren oder ob sie sich in einem Prozess der Aufspaltung und zunehmender Isolation befinden.

Interessanterweise haben unsere genetischen Analysen gezeigt, dass sich die nordwestlich und südwestlich ziehenden Mönchsgrasmücken genetisch voneinander unterscheiden, obwohl sie direkt nebeneinander in demselben kleinen Gebiet brüten und obwohl sich die neue Zugrichtung nach Südwest erst vor weniger als 30 Mönchsgrasmückengenerationen ausgebildet hat. Die genetische Aufspaltung zwischen beiden Populationen ist relativ gering, aber deutlich größer als die Aufspaltung, die man zwischen südwestlich ziehenden Mönchsgrasmücken aus Freiburg und Wilhelmshaven findet - zwei Populationen, die immerhin ca. 800 km entfernt voneinander brüten. Die Tatsache, dass sich die Mönchsgrasmücken unterschiedlicher Zugrichtung innerhalb von wenigen Jahrzehnten voneinander isolieren, ist außerordentlich bemerkenswert. Eine solche Geschwindigkeit der anfänglichen Aufspaltung ist bisher nur bei sehr wenigen Arten, wie z. B. bei ausgesetzten Lachsen und bei einigen Insekten im Labor nachgewiesen worden. Hält eine solche Aufspaltung lange genug (ca. 1-2 Millionen Jahre) an, kann dieser Prozess letztendlich zur Artbildung führen.

Eine solch schnelle Aufspaltung der Mönchsgrasmücken mit unterschiedlichen Zugrichtungen zeigt, dass sich hauptsächlich Mönchsgrasmücken derselben Zugrichtung miteinander verpaaren. Falls sich Mönchsgrasmücken unterschiedlicher Zugrichtung miteinander paaren würden, könnte sich keine derartige Aufspaltung der Populationen entwickeln. Insofern zeigt das Beispiel der Mönchsgrasmücke, dass das Zugverhalten ein sehr wichtiger Faktor ist, der das Paarungsverhalten der Vögel stark beeinflusst und damit langfristig auch zur Artbildung führen kann. Natürlich stellen die unterschiedlichen Populationen der Mönchsgrasmücke, die sich in ihren Überwinterungsgebieten unterscheiden, bislang keine unterschiedliche Arten, sondern nur unterschiedliche Ökotypen dar. Ökotypen sind dadurch gekennzeichnet, dass die morphologischen und genetischen Unterschiede zwischen den Populationen sehr gering sind. Der Prozess der Aufspaltung wäre wohl schnell umkehrbar, falls sich Umweltbedingungen wie die Winterfütterung in Großbritannien wieder ändern würden.

Bei der Mönchsgrasmücke bewirkt die durchschnittlich frühere Ankunft der aus Großbritannien zurückkehrenden Vögel, dass sich die Großbritannienrückkehrer mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nur untereinander verpaaren. Allerdings haben unsere Berechnungen gezeigt, dass die zeitliche Isolation der Ankunft im Frühjahr alleine nicht ausreicht, um die Aufspaltung der Mönchsgrasmückenpopulationen vollständig zu erklären. Dies liegt hauptsächlich daran, dass die nordwestlich ziehende Population viel kleiner ist als die südwestlich ziehende. Obwohl die Vögel im Durchschnitt früher aus den englischen Überwinterungsgebieten zurückkehren, kommen doch gleichzeitig bereits einige frühe Vögel aus dem Mittelmeergebiet ebenfalls zurück. Insofern sind die beiden Populationen zeitlich nicht klar voneinander isoliert. Welche Faktoren neben der Ankunftszeit zur Aufspaltung zwischen den beiden Populationen beitragen, ist momentan noch nicht geklärt und Gegenstand unserer derzeitigen Forschungsarbeiten.



Morphologische Unterschiede

Die Aufspaltung zwischen den Mönchsgrasmückenpopulationen ist insofern bemerkenswert, weil eine Trennung des Genpools beider Populationen dazu führen kann, dass sich im Laufe der Zeit Individuen beider Populationen gut an die jeweiligen Bedingungen ihrer Zugroute anpassen können. Existiert ein genetischer Austausch zwischen den Populationen, sind solche evolutionären Anpassungen an unterschiedliche Zugrouten erschwert, weil die Vermischung des Genpools der Ausbildung von Merkmalen, die eine spezifische Anpassung an eine Zugroute darstellen, entgegenwirkt. Solche Merkmale können morphologische Anpassungen wie z. B. die Flügelform sein. Ein Vergleich der Morphologie von Mönchsgrasmücken beider Zugrichtungen ergab tatsächlich, dass sie sich morphologisch in fünf Merkmalen voneinander unterscheiden. Mönchsgrasmücken, die in Großbritannien überwintern, haben rundere Flügel als solche, die ans Mittelmeer ziehen. Die rundere Flügelform der Nordwest-Zieher stellt wahrscheinlich eine Anpassung an ihre kürzere Zugstrecke dar, da rundere Flügel eine höhere Manövrierfähigkeit erlauben, gleichzeitig aber weniger gut für den Langstreckenzug geeignet sind. Weiterhin haben die nach Nordwest ziehenden Mönchsgrasmücken einen relativ längeren und schmaleren Schnabel als ihre südwestlich ziehenden Artgenossen. Der Unterschied in der Schnabelform ist möglicherweise durch die unterschiedliche Ernährung der Tiere in den jeweiligen Überwinterungsgebieten zu erklären. Im spanischen Winterquartier ernähren sich Mönchsgrasmücken fast ausschließlich von verschiedenen Früchten, wie z. B. Oliven; ein Großteil dieser Früchte ist jedoch relativ groß. Zum Verschlucken solch großer Früchte ist ein breiter Schnabel notwendig. Für die Aufnahme von Vogelfutter an Futterstellen in Großbritannien ist ein breiter Schnabel nicht erforderlich, möglicherweise ist er für die Ernährung mit Insekten im Sommer sogar hinderlich. Insofern vermuten wir, dass nordwestlich ziehende Vögel einen schlankeren Schnabel entwickelt haben, weil sie nicht mehr dem Selektionsdruck auf einen breiten Schnabel ausgesetzt sind, den die Mönchsgrasmücken während ihrer Überwinterung am Mittelmeer erfahren. Die restlichen Merkmale, die sich zwischen den beiden Populationen unterscheiden, sind die Färbung von Schnabel und Rücken und bei einjährigen Männchen der schwarzen Kappe. Die Rücken der in Großbritannien überwinternden Vögel sind brauner gefärbt als die der Artgenossen, die ans Mittelmeer ziehen. Wie bei den morphologischen Unterschieden sind auch die Unterschiede in der Gefiederfärbung so subtil, dass sie nicht leicht zu erkennen sind, selbst wenn man einen gefangenen Vogel in der Hand hält. Unterschiede in der Gefiederfärbung können durch unterschiedliche Mauserstrategien der beiden Populationen erklärbar sein. Es wird vermutet, dass Mönchsgrasmücken, die weiter nach Süden ziehen, mehr Federn im Winter erneuern. Ob es Unterschiede im Zeitpunkt der Mauser und ihrer Ausprägung gibt, ist bisher noch unbekannt. Denkbar wäre auch, dass die unterschiedliche Gefiederfärbung durch einen Gründereffekt erklärbar werden kann. Ein Gründereffekt liegt vor, wenn die ersten Vögel, die nach Nordwest zogen, zufällig eine Färbung aufwiesen, die sich von der Färbung der Südwest ziehenden Population unterschied. Die Unterschiede in der Schnabelfärbung sind jedoch möglicherweise durch die unterschiedliche Ernährung der Tiere im Überwinterungsgebiet bedingt. Unsere Experimente zur Nahrungswahl von Mönchsgrasmücken haben ergeben, dass die dunkle Färbung des Schnabels - anders als die Gefiederfärbung - ein Merkmal ist, das stark vom Ernährungszustand der Tiere beeinflusst wird. Fressen Mönchsgrasmücken viele Früchte, so färbt sich ihr Schnabel sehr dunkel. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede in der Flügel- und Schnabelform wahrscheinlich Anpassungen an die jeweilige Zugroute darstellen, während Unterschiede in der Färbung wohl keine Anpassung an die unterschiedlichen Zugwege darstellen.

Auch wenn die unterschiedliche Gefieder- und Schnabelfärbung keine für uns erkennbaren Anpassungen darstellen, können sie dennoch von evolutionärer Bedeutung sein. Durch unterschiedliches Aussehen könnten sich z. B. Mönchsgrasmücken der gleichen Zugrichtung erkennen. Ein anderes potenzielles Merkmal ist der Gesang der Männchen, zu dem wir bisher nur vorläufige Daten besitzen. Männliche Mönchsgrasmücken aus den verschiedenen Überwinterungsgebieten zeigten keine deutlichen Unterschiede in ihren Gesangsmerkmalen. Bei Männchen, die in Großbritannien überwinterten, fanden sich jedoch vier Gesangselemente, die wir nicht bei den am Mittelmeer überwinternden Vögeln fanden. Diese Elemente waren aber sehr selten und stellten kein wichtiges Gesangsmerkmal dar.



Zukunftsaussichten für die Ökotypen

Da sich die Mönchsgrasmücken der Südwest- und Nordwestzugroute genetisch und morphologisch voneinander unterscheiden, lassen sie sich als unterschiedliche Ökotypen beschreiben, die an ihre jeweiligen Zugbedingungen angepasst sind bzw. sich in einem fortwährenden Prozess der Anpassung befinden. Wie dynamisch das Zugverhalten der Mönchsgrasmücke ist, wird auch an den zunehmenden Winternachweisen dieser Art in Mitteleuropa deutlich. So überwintern zunehmend Vögel in Süddeutschland und der Schweiz, auch in den Niederlanden und sogar in Skandinavien und auf Island sind überwinternde Vögel festgestellt worden.

Wie geht die Entwicklung dieser Ökotypen nun weiter? Entscheidend dafür ist die Frage, ob die Nachkommen von Eltern, die in unterschiedliche Himmelsrichtungen ziehen, ähnliche Überlebenschancen besitzen wie die Nachkommen von Eltern, die in dieselbe Himmelsrichtung ziehen. Die Nachkommen von Eltern unterschiedlicher Zugrichtung sollten nach Westen, an die französische Atlantikküste, wandern. Falls die Tiere an der Küste bleiben und nicht hinaus aufs Meer ziehen, könnten sie durchaus gute Überlebenschancen besitzen. Sind jedoch ihre Überlebenschancen geringer als die von Vögeln, die am Mittelmeer oder in Großbritannien überwintern, so gäbe es einen Selektionsdruck solche Mischverpaarungen zu vermeiden. In diesem Fall würde man erwarten, dass sich die Unterschiede zwischen den Ökotypen in Zukunft vertiefen. Sollten Mönchsgrasmücken in ganz West- und Zentraleuropa in Zukunft jedoch gute Bedingungen für die Überwinterung finden, so würden sich die Unterschiede zwischen den Ökotypen wieder verringern.

Das Zugverhalten der Mönchsgrasmücke stellt ein besonders anschauliches Beispiel für zeitlich schnell ablaufende evolutionäre Anpassungen an gegenwärtige ökologische Veränderungen dar. Viele Studien haben belegt, dass das Zugverhalten der Mönchsgrasmücke besonders plastisch und dynamisch ist. Wie unsere Arbeiten zeigen, verpaaren sich hauptsächlich Vögel der gleichen Zugroute untereinander. Somit führt das Zugverhalten zur Aufspaltung von Populationen unterschiedlicher Zugrichtung und beschleunigt morphologische Anpassungen an die jeweilige Zugroute. Interessanterweise lassen sich derartige morphologische Unterschiede bereits innerhalb von 50 Jahren, das entspricht etwa 30 Mönchgrasmückengenerationen, nachweisen. Somit ist das Zugverhalten der Mönchsgrasmücke neben dem klassischen Beispiel der Variation in der Schnabelform bei Darwinfinken eines der eindrücklichsten Beispiele für die Geschwindigkeit der Evolution in der Gegenwart.


PD Dr. H. Martin Schaefer arbeitet als Ökologe und Evolutionsbiologe an der Universität Freiburg.

PD Dr. Gernot Segelbacher beschäftigt sich an der Universität Freiburg vor allem mit molekularen Methoden in der Ökologie und im Naturschutz.


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Literatur zum Thema:

Able KP, Belthoff JR 1998: Rapid 'evolution' of migratory behaviour in the introduced house finch of eastern North America. Proc. R. Soc. B 265, 2063-2071.

Bensch S, Grahn M, Muller N, Gay L, Akesson S 2009: Genetic, morphological, and feather isotope variation of migratory willow warblers show gradual divergence in a ring. Mol. Ecol. 18: 3087-3096.

Berthold P 2007: Vogelzug: eine aktuelle Gesamtübersicht. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Berthold P, Helbig AJ, Mohr G, Querner U 1992: Rapid microevolution of migratory behavior in a wild bird species. Nature 360: 668-670.

Helbig AJ, Berthold P, Mohr G, Querner U 1994: Inheritance of a novel migratory direction in central European blackcaps. Naturwissenschaften 81: 184-186.

Pulido F, Berthold P 2010: Current selection for lower migratory activity will drive the evolution of residency in a migratory bird population. Proc. Natl. Acad. Sci. USA, in press.

Rolshausen G, Hobson KA, Schaefer HM 2010: Spring arrival along a migratory divide of sympatric blackcaps (Sylvia atricapilla). Oecologia 162: 175-183.

Rolshausen G, Segelbacher G, Hobson KA, Schaefer HM 2010: Contemporary evolution of reproductive isolation and phenotypic divergence in sympatry along a migratory divide. Curr. Biol. 19: 2097-2101.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2010
57. Jahrgang, Juni 2010, S. 244-249
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2010