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ORNITHOLOGIE/201: Lauschangriff in der Voliere (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2010

Lauschangriff in der Voliere

Von Marcus Anhäuser


Am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen wollen Manfred Gahr und sein Team herausfinden, was sich bei Zebrafinken im Kopf abspielt, wenn Männchen und Weibchen ein Tête-à-Tête haben.


Nur noch drei Kisten. Manfred Gahr entschuldigt sich für das bisschen Unordnung. "Die drei noch, dann ist der Umzug abgeschlossen", sagt er. Dann hat er sein Büro komplett eingerichtet - das Zimmer, in dem einst der bekannte Verhaltensphysiologe Erich von Holst wohnte und arbeitete. Der Kamin neben der Tür stammt noch aus dieser Zeit, sonst gibt es fast nichts mehr, was an die große Zeit der klassischen Verhaltensbiologie hier erinnert. Für das Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen, südwestlich von München, endet eine Zeit des Umbruchs.

Vier Jahre Umbau und Renovierung liegen hinter dem geschichtsträchtigen Institut im Wald zwischen Starnberger See und Ammersee, an dem einst viele berühmte Verhaltenswissenschaftler - allen voran Konrad Lorenz - forschten. Zusammen mit seinem Direktoriumskollegen Bart Kempenaers war Gahr seit seiner Berufung vor allem mit der Planung und Umstrukturierung des gesamten Geländes beschäftigt und hat parallel eine neue Forschungsabteilung aufgebaut. "Bis auf die Außenmauern steht hier praktisch kein Stein mehr auf dem anderen", sagt er. Im nächsten Sommer soll der Abschluss gebührend gefeiert werden.

Inzwischen kann sich der 50-jährige gebürtige Pfälzer wieder auf das eigentliche Ziel seiner Forschung konzentrieren: das Geheimnis des Vogelgesangs zu ergründen. Mit den unterschiedlichsten Methoden der Elektrophysiologie, der Molekular- und der Verhaltensbiologie wollen Gahr und sein Team herausfinden, was im Kopf eines Vogels passiert, wenn er singt oder das Gezwitscher seiner Artgenossen hört. Denn Vögel singen ja nicht der reinen Kunst wegen. Dahinter stehen ganz handfeste Interessen: Vogelmännchen erlernen den Gesang, um damit Weibchen zu beeindrucken und ihre Fortpflanzungschancen zu erhöhen.


Das Geheimnis des Vogelgesangs

Die Seewiesener Forscher konzentrieren sich dabei nicht nur auf die für Singvögel typischen Hirnbereiche, wie etwa die im Vorderhirn gelegenen Gesangskerne (wie etwa den Nucleus robustus arcopallii, kurz RA). Sie schauen selbst einzelnen Nervenzellen bei der Arbeit zu, wenn ein Männchen ein Weibchen mit seinem Gesang bezirzt oder ein Jungvogel das Einmaleins des sozialen Gezwitschers erlernt. Sie versuchen den Einfluss von Geschlechtshormonen auf die Gehirn- und Gesangsentwicklung zu ergründen. Und sie erforschen wie Gene und Lernverhalten gemeinsam den typischen Gesang und die Rufe eines Vogels beeinflussen. "Wir erfassen die Aktivität im Gehirn, um die molekularen Mechanismen auf Zellebene und das Verhalten des Tieres in Zusammenhang zu bringen", sagt Gahr.

Dazu setzt die von seinem Mitarbeiter Andries ter Maat geleitete Arbeitsgruppe Methoden ein, die einem Geheimdienst alle Ehre machen würden, angesichts des umfassenden und tief greifenden Einsatzes von Überwachungstechnik. Gahr kennt den erfahrenen Elektrophysiologen aus seiner Zeit an der Universität in Amsterdam. Der Niederländer mit silbrigem, längerem Haar startete für diese Forschung einen regelrechten Lauschangriff auf die Zebrafinken der Abteilung: Er und seine Mitarbeiter kombinieren das Abhören der Rufe und Gesänge der kleinen Finken mit Ableitungen ihrer Hirnströme - und das nahezu im Dauerbetrieb zusammen mit Videoaufnahmen. Totale Überwachung sozusagen. Die dazu notwendige Technologie hat Gahrs Team weitgehend selbst entwickelt.

Die Wahl fiel nicht zufällig auf die zehn Gramm leichten Zebrafinken, wahrscheinlich der häufigste in den Laboren der Welt gehaltene Vogel. "Sie haben ein paar Nachteile, aber es überwiegen eindeutig die Vorteile", sagt Gahr, der im Laufe seiner Karriere schon mit anderen Singvögeln, aber auch Hühnern und verschiedenen Reptilienarten gearbeitet hat. Entscheidend ist: "Wir können sie gut unter gescheiten Bedingungen im Labor züchten, weil sie Koloniebrüter sind", so der Neurobiologe. Die kleinen Quietscher fühlen sich nur in Gesellschaft sicher und wohl. Deshalb können die Forscher eine große Zahl auf vergleichsweise engem Raum halten. Insgesamt beherbergt die Abteilung 800 bis 900 Zebrafinken; am ganzen Institut sind es wohl an die 2000.


Zebrafinken - Vogelmodell mit Vorteilen

Untergebracht sind sie zum Beispiel im Haus 6b, einem langen, mit naturbelassenen Brettern verschalten Gebäude. Es ist einer der wenigen Neubauten auf dem Gelände, zugleich das Kernstück des gesamten Instituts. Man erreicht das Gebäude trockenen Fußes über einen überdachten Übergang vom Bürohaus der Abteilung. Im ersten Stock lädt eine zentral gelegene Bistroecke zum Kaffee ein. Im Parterre leben die Finken. Hier reiht sich Voliere an Voliere. Die zweieinhalb Meter hohen Gitterkäfige sind ausstaffiert mit ein paar Sitzstangen und vertrocknenden Zweigen.

Sobald jemand den Volierenraum betritt, flattern einige der kleinen Federbälle nervös hin und her. Andere sitzen eng aneinandergeschmiegt auf den Stangen. Der Raum ist erfüllt von diesen typischen Quietschlauten, die immer so ein bisschen wie ein zu tief gestimmtes Gummi-Entchen klingen. Zwischendurch hört man auch etwas komplexere Tonfolgen mit sich wiederholenden Silben. Aber wirklich beeindruckend klingt das nicht, wenn man im Vergleich dazu an den virtuosen Gesang eines Amselmännchens oder eines Schwarzkehlchens denkt. "Das ist aber gerade ein Vorteil der Zebrafinken", sagt Gahr. "Ihr Gesang ist überschaubar." Er besteht aus nur acht bis zehn Einzelelementen, die aber noch komplex genug sind. "Tiere mit vielschichtigeren Gesängen machen uns Probleme beim Quantifizieren", sagt Gahr. Die Zebrafinken-Weibchen singen übrigens nicht, was sie für die vergleichende Forschung geradezu prädestiniert. Und ein weiterer Vorteil: Ein ausgewachsenes Männchen lernt keine neuen Elemente mehr dazu. Es gibt somit einen zeitlichen Endpunkt, bis zu dem alles gelernt ist. Das gibt den Forschern die Möglichkeit festzustellen, was ein Vogel wie und wann gelernt hat. "Das ist aber auch einer der Nachteile", sagt Gahr. Hormon-sensitive Gesangsveränderungen und Lernvorgänge im Erwachsenenalter lassen sich an diesem Vogelmodell nicht untersuchen. Deshalb arbeiten die Max-Planck-Forscher noch mit einer anderen Vogelart: dem Kanarienvogel, der bekannt dafür ist, zeitlebens neue Gesänge zu erlernen.

Andries ter Maats Überwachungsmethoden erkennt man nicht auf den ersten Blick. In einem weiteren Raum steht in einer Ecke eine Voliere, zwei mal zwei Meter in der Fläche und zwei Meter hoch. Der Boden ist ausgestreut, zwei Plastikbäume stehen in der Mitte, im Käfig sind Sitzstangen angebracht. "Das ist unser semi-natürliches-Habitat", sagt ter Maat mit leicht niederländischem Akzent. "Man könnte es auch semi-artifizielles-Habitat nennen", meint er mit ironischem Grinsen. Abgeschirmt ist die Voliere von zwei Schall schluckenden Wänden, die zugleich als Sichtschutz dienen. In den Volierenraum hinein ragen zwei lange Edelstahl-Antennen. Die Finkengruppe lebt in dieser Voliere vergleichsweise ungestört und unter definierten ökologischen Bedingungen - die Nahrung ist auf das Gramm abgewogen, die Zahl der Mitbewohner genau festgelegt.


Neuerung: Nervenzellen mobil abgeleitet

Aus den Köpfen einiger Finken ragen im Nackenbereich zwei kurze dünne Metallstifte, teilweise verdeckt vom Gefieder. Das ist die direkte Verbindung in ihre Hirnwelt. Eine solche Elektrode kennt jeder, der elektrophysiologische Ableitung bei Tieren macht. Doch diese hier ist anders. "Unsere Ableitung erfolgt mobil", erläutert Manfred Gahr. Normalerweise wird an diesen Draht ein Kabel gesteckt, das dann die neuronalen Signale einzelner Nervenzellen oder ganzer Neuronengruppen aus dem Gehirn in den verarbeitenden Rechner überträgt.

Doch Kabel sind in einer solchen Umgebung mit Sitzstangen und künstlichen Bäumen nicht wirklich gut zu gebrauchen. "Wenn wir die Tiere unter weitgehend natürlichen Bedingungen mit normalem Verhalten untersuchen wollen, ist eine mobile Ableitung die einzige Möglichkeit", sagt Gahr. Schon mit einem zweiten verkabelten Tier wäre der Kabelsalat vorprogrammiert. Statt eines Kabels stecken die Forscher einen kleinen, nur ein Gramm leichten Radiosender auf die Metallstifte. Der überträgt die Aktivität der Nervenzellen zu den Edelstahlantennen, von dort geht es über den Empfänger in den Rechner.

Alternativ könnten die Forscher einen mobilen Minirechner auf dem Rücken der Vögel befestigen, einen Datalogger. Doch angesichts der Datenmengen, die der abgeleitete Hirnbereich produziert, wäre der mobile Speicher schnell voll. "Um die neuronalen Signale aufzulösen, müssen wir eine sehr hohe Abtastrate einsetzen, und das produziert schon bei nur einem Tier enorme Datenmengen", sagt Gahr. Die Abtastrate beträgt zwanzig Kilohertz, das ergibt 22 Kilobyte pro Sekunde, also knapp 80 Megabyte in der Stunde oder 800 Megabyte an einem Zehn-Stunden-Tag. Bei bis zu acht Tieren, die typischerweise gleichzeitig abgeleitet werden, kommen schnell mehrere Gigabyte pro Tag zusammen.


Gesucht: kleine und leichte Energiespeicher

Die Übertragung der Daten per Telemetrie ist eigentlich auch nicht das Problem. "Der Knackpunkt der ganzen Geschichte ist die Energieversorgung des Systems", so der Max-Planck-Direktor. Genau wie bei allen mobilen Geräten - ob Laptop, Handy oder Digitalkamera - zeigt die Batteriegröße die technische Grenze auf. Im Fall des Vogelsenders greifen die Forscher auf die kleinsten kommerziell erhältlichen Energiespeicher zurück, die sie bekommen können: Hörgerätebatterien. Nur so halten sie das Gewicht auf etwa einem Zehntel des Körpergewichts der Zebrafinken. Damit steht ihnen Energie für fünf Tage Dauerbetrieb zur Verfügung. Das genügt, um erste Ergebnisse zu produzieren.

Ein solches Gerät gibt es natürlich nicht einfach so auf dem Elektronikmarkt zu kaufen. Das ist eine Selbstentwicklung. "Seit rund dreißig Jahren bauen sich Wissenschaftler mobile Lösungen für elektrophysiologische Ableitungen bei Tieren", erzählt Gahr. Er hat in den 1990er-Jahren schon einmal an einem solchen System gebastelt, als er als Nachwuchsgruppenleiter am "alten" Seewiesener MPI für Verhaltensphysiologie forschte. "Das war aber mehr so nebenher."

Heute leistet er sich zwei Elektroingenieure, die sich mit nichts anderem beschäftigen. Sie suchen regelmäßig den Markt nach neuesten Entwicklungen ab. Das zahlt sich aus: Demnächst vollenden sie die Entwicklung vom analogen ins digitale Zeitalter der mobilen Ableitung - und das bringt einen entscheidenden Fortschritt: Mit der analogen Technologie sind die Wissenschaftler derzeit nur in der Lage, eine Stelle pro Tier abzuleiten. Digital könnten sie Neurone an mehreren Stellen gleichzeitig im Vogelhirn belauschen.

Aber auch ohne die Digitaltechnik sind die Verhaltensphysiologen schon sehr zufrieden mit dem, was sie erreicht haben. "Unser derzeitiges System ist ein Kunststück der Miniaturisierung", freut sich Andries ter Maat. Es besteht aus einem Messverstärker, der Sendeeinheit und der Batterie. Eingewickelt in eine Silikonhülle wiegt das Ganze etwas mehr als ein Gramm und hat eine Reichweite von zwanzig Metern.

Die größte Sorge der Forscher: Schränkt das Gerät die Tiere in ihrem Verhalten ein? Eine Untersuchung zeigte jedoch, dass sich die Finken ein bis zwei Tage nach der OP wieder so verhalten wie vorher. "Die Einschränkungen rühren vor allem von der Betäubung her", sagt ter Maat. Ein Tier nur zu betäuben, ohne einen Sender anzubringen, rufe die gleichen Reaktionen hervor. Der Eingriff ist mit einer Implantation beim Zahnarzt vergleichbar und dauert am betäubten Vogel etwa eineinhalb Stunden.

Das Zeitraubende daran sei die zielgenaue Platzierung der Elektrode im RA, jener Zone von Nervenzellen, die den Gesang mitsteuert, so Gahr. Dabei schiebt der Operateur die einige hundertstel Millimeter dünne Elektrode vorsichtig Mikrometer für Mikrometer in den freigelegten Hirnbereich, bis er ein Signal der Nervenzellen erhält. Dann arretiert er sie mit einem Kunststoffpolymer, das auch Zahnärzte verwenden, und setzt einen Pin mit dem daran befestigten Sender darauf. Dank des Zahnarztklebers sitzt die Elektrode bombenfest und übersteht auch das hektische Treiben der Finken.

Mit ihrer mobilen Ableitung haben die Max-Planck-Forscher nun ein Werkzeug in der Hand, von dem die Zunft lange geträumt hat. Mit diesem Gerät ist es endlich möglich, ein so kleines Tier wie einen zehn Gramm leichten Zebrafinken oder eine Maus zu untersuchen, während das Tier sein ganz normales soziales Verhalten zeigt. Es könnten aber auch größere Vögel sein. Manfred Gahr denkt dabei an Krähen - wie die Zebrafinken auch Singvögel, aber eben wesentlich größer. Denen könnte man sehr viel größere Batterien mitgeben und damit vielleicht über Wochen Ableitungen unter völlig natürlichen Lebensbedingungen durchführen. Derzeit studieren eine Doktorandin und eine Diplomandin das Sexual- und Sozialleben sowie das dafür typische Lautrepertoire von Krähen in der Umgebung.


Datenaufnahme im Dauerbetrieb

Hier, im semi-natürlichen Umfeld der Volieren, kombinieren die Forscher die elektrophysiologische Ableitung mit individuellen Schallaufnahmen der Rufe und Gesänge einzelner Zebrafinken-Männchen und -weibchen, um die Beziehungen zwischen akustischen Reizen und neuronaler Verarbeitung zu untersuchen. Dazu setzen die Forscher neben der mobilen Ableitung auch mobile Mikrofonsender ein. Im Pulk der Zebrafinken erkennt man diese Tiere an einer länglichen Antenne, die parallel zum Rücken der Tiere verläuft. Auch dieses System ist ein Kunststück der Miniaturisierung, nur 1,4 Gramm schwer.

Ter Maats Arbeitsgruppe setzt die mobilen Ableitungen nicht nur in der Voliere, sondern auch in sogenannten Schallboxen für eine Dauerdatenaufnahme ein. Ein Männchen und ein Weibchen teilen sich diese schalldichten heimeligen Kästen mit Fenstertüren - ein Meter breit, einen halben Meter tief und siebzig Zentimeter hoch - für eine gewisse Zeit. Der Gesang der Vögel wird dabei genauso nonstop aufgezeichnet wie die neuronale Aktivität eines der beiden Tiere. Alle diese Daten laufen in separaten Räumen auf Servern zusammen. Dabei produzieren Gahrs Forscher Berge an Information: pro Tag etwa 40 bis 50 Gigabyte an Neuronen- und vor allem Akustikdaten. Hochgerechnet auf ein Jahr produzieren Gahrs Mitarbeiter so zwischen 15 und 20 Terabyte. Für die Auswertung gibt es selbst entwickelte Software, ohne die die Datenmenge gar nicht zu bewältigen wäre.

Die Kunst der Wissenschaftler besteht nun darin, in dem Datenberg Muster und Antworten auf ihre Forschungsfragen zu finden. Eine der zentralen Fragen lautet: Was macht so ein Gesangsneuron im sozial-sexuellen Kontext? Eine Frage, die so zuvor eigentlich nicht zu beantworten war. Und genau dazu machten die Seewiesener aufregende Entdeckungen.

Andries ter Maat sitzt in seinem Büro und zeigt auf eine Grafik mit zwei Kurven: "Oben sieht man die Ableitung eines Neurons im Gesangskern des Männchens, darunter die akustische Kurve eines Weibchens, das einen sogenannten Tet-Laut ausstößt." Einer der häufigsten Laute überhaupt bei Zebrafinken, den sie bis zu zehntausend Mal am Tag ausstoßen. Zu Beginn zeigt das Signal der Nervenzelle eine Aktivität, die einem Rauschen ähnelt. Doch kurz bevor das Weibchen seinen Tet-Laut äußert, senkt sich die Aktivität des Neurons beim Männchen ab. Nachdem der Ruf beendet ist, schießt die Aktivität der Nervenzelle nach oben auf einen Spitzenwert, um dann wieder auf das Niveau vor dem Ruf des Weibchens zurückzufallen.

"Das ist sehr spannend", sagt ter Maat, "denn das Gesangsneuron des Männchens wird inhibiert." Und das zeigt: Das Neuron, das eigentlich Motorik steuert, reagiert in Anwesenheit des Weibchens wie eine sensorische Zelle auf dessen Ruf. Der Befund ist aufregend, doch wie so oft in der Forschung wirft er erst einmal eine Menge Fragen auf. Wieso etwa beginnt die Blockade schon kurz bevor das Weibchen den Laut ausstößt? Reagieren die Gesangsneurone des Männchens etwa auch auf visuell wahrgenommene Verhaltensweisen des Weibchens?

Der Pionier der Zebrafinken-Freilandforschung, der Anfang 2009 bei einem Buschbrand ums Leben gekommene Australier Richard Zann, schreibt noch in seinem Zebrafinken-Klassiker über Tet-Rufe: "(...) sie sind nicht an bestimmte Individuen gerichtet und stimulieren keine spezifische Antwort." Tet-Rufe bildeten eine Art softes Hintergrundrauschen, so Zann, in das andere Rufe eingebettet seien. Doch die Daten von ter Maats Arbeitsgruppe sprechen eine andere Sprache. Denn die Aufnahmen offenbaren einen klaren Zusammenhang zwischen den Tet-Rufen eines Weibchens und eines Männchens.

An den Tet-Rufen zeigt sich auch die besondere Stärke der Telemetrie-Mikrofone. Der Ruf des Weibchens liegt genau zwischen zwei Tet-Rufen eines Männchens. Und zwar so oft und so genau, dass dies kein Zufall mehr sein kann. "Die Männchen und Weibchen hören genau auf ihren Partner", sagt ter Maat. Für den Elektrophysiologen ebnen solche Ergebnisse den Weg in einen ganz anderen Bereich: "Letztendlich wollen wir natürlich wissen, was all diese Tet-Rufe, die Stack-Rufe und das ganze Hin und Her bedeuten. Damit kommen wir dann in den Bereich der Sprache", sagt der Niederländer. Doch bis dahin gibt es noch einige Gigabyte an Daten auszuwerten.

Was sie alles noch entdecken werden mit ihren telemetrischen Methoden, ist im Grunde nur der Fantasie der Forscher überlassen. Weltweit gibt es kein Labor, das mit so kleinen Geräten mobile elektrophysiologische Ableitungen an Tieren in ihrem normalen sozialen Umfeld durchführen kann. Manfred Gahr und seine Mitarbeiter haben jedenfalls noch eine Menge vor mit ihren kleinen Überwachungsgeräten. Und jetzt hat der Max-Planck-Direktor auch endlich die Zeit dazu, jetzt wo Seewiesen wieder in neuem Glanz erstrahlt. Die letzten drei Kisten sind auch bald ausgepackt.


Glossar

Gesangskerne
Regionen im Vogelgehirn, die am Erlernen und Produzieren von Gesang beteiligt sind. Die Gesangskerne HVC und RA in adulten Zebrafinken-Männchen sind um ein Vielfaches größer als bei Weibchen.

Habitat
Lebensraum eines Lebewesens.

Abtastrate
Unter Abtastung wird die Registrierung von Messwerten zu diskreten, meist in gleichem Abstand voneinander liegenden Zeitpunkten verstanden. Die Anzahl der Abtastungen pro Sekunde wird Abtastrate genannt.

Inhibition
Durch einen bestimmten Impuls wird eine Nervenzelle nicht zur Bildung eines Aktionspotentials angeregt, sondern gehemmt und das von dieser Nervenzelle weitergegebene Signal dadurch abgeschwächt.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2010, Seite 52-59
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2010