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ORNITHOLOGIE/105: Das Schicksal eines jungen Schelladlers (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 1/2009

Das Schicksal des jungen Schelladlermännchens Tõnn


Ein in Estland mit einem Satellitensender ausgestattetes junges Schelladlermännchen mit dem Namen Tõnn ist im Oktober unbemerkt quer durch Deutschland nach Frankreich gezogen (Der Falke 2008, H. 12). Dort riss der Kontakt zu dem Vogel vorübergehend ab. Der Satellitensender schaltete wie geplant am 21. November 2008 auf sein Winterprogramm um, was bedeutet, dass Informationen nur alle zehn Tage übermittelt werden. Am 28. November 2008 konnte der Aufenthaltsort von Tõnn dann wieder genau festgestellt werden. Der Vogel hält sich mittlerweile in der südspanischen Provinz Murcia in der Nähe von Torre Pacheco auf. Die dortige Landschaft zeichnet sich durch relative Trockenheit und intensive Landwirtschaft mit Melonenanbau und Kulturen in Gewächshäusern aus. Für einen Schelladler ist dieser Lebensraum sicherlich nicht ideal.

Der weitere Zug des jungen Schelladlermännchens Tõnn kann im Internet unter www.looduskalender.ee/en/node/2046 verfolgt werden. Wenn alles gut geht, wird der Vogel im zeitigen Frühjahr seinen Rückflug nach Estland antreten und hierbei voraussichtlich auch wieder durch Deutschland fliegen. Sollte es Vogelbeobachtern gelingen, den Vogel hierbei zu sehen oder sogar zu fotografieren, bitten wir dies der Redaktion von Der Falke mitzuteilen.


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Wir haben den Experten Prof. Dr. Bernd-Ulrich Meyburg, Vorsitzender der Weltarbeitsgruppe für Greifvögel und Eulen e. V. (www.Raptor-Research.de, www.raptors-international.de) gebeten, uns das Verhalten des jungen Schelladlermännchens Tõnn etwas genauer zu erläutern und eine Prognose zu wagen, ob und wann der Vogel wieder durch Deutschland zieht.

DER FALKE: Was ist der Status des Schelladlers in Deutschland? Brütet der Schelladler derzeit hier?

B.-U. MEYBURG: Nein, das einzige Mischpaar bestehend aus einem eindeutigen Schelladler-Weibchen und einem Schreiadler-Männchen gibt es seit 2007 nicht mehr. Ein Hybridjunges dieses Paares wurde vor einigen Jahren von uns telemetriert. Derzeit gibt es vielleicht ein bis zwei Hybridweibchen, die in Deutschland brüten; die DNA-Analysen dazu stehen aber noch aus.

DER FALKE: Wie viele Schelladler kommen alljährlich auf ihrem Zug ins Winterquartier durch Deutschland und wie viele Beobachtungen durch deutsche Vogelkundler gelingen hierbei?

B.-U. MEYBURG: Eine Zahl ließe sich allenfalls schätzen, aber es ist davon auszugehen, dass die meisten, wenn nicht alle Schelladler, die in Spanien, Frankreich und in der Schweiz (in den letzten Jahren nur ein Fall, der Vogel kommt aber jetzt nicht mehr in die Gegend von Bern) durch Deutschland ziehen. Die Überwinterungszahlen in Spanien und Frankreich sind recht gut dokumentiert. Ob auch die in Italien überwinternden Schelladler durch Deutschland ziehen ist bisher nicht klar. Es gibt inzwischen auch viele Hybride.

DER FALKE: Könnte es sein, dass deutlich mehr Schelladler durch Deutschland fliegen, diese aber für Schreiadler gehalten werden?

B.-U. MEYBURG: Ja, könnte sein.

DER FALKE: Wo liegen die Hauptüberwinterungsquartiere von Schelladlern?

B.-U. MEYBURG: Unsere telemetrierten Schelladler aus Polen überwintern von Griechenland über die Türkei bis in den Sudan und sogar Sambia. Weiter östlich brütende Schelladler überwintern weiter östlich, z. B. in Indien bis Japan.

DER FALKE: Spanien gehört also nicht zu den Hauptüberwinterungsquartieren dieser Adlerart? Warum verschlägt es einen jungen Schelladler aus Estland nach Südspanien?

B.-U. MEYBURG: In Spanien überwintern regelmäßig Schelladler, auch in Italien zum Beispiel.

DER FALKE: Wagen Sie eine Vorhersage, ob der Vogel in Südspanien bleiben oder weiter ziehen wird?

B.-U. MEYBURG: Wahrscheinlich wird er in Spanien bleiben. Wir telemetrieren derzeit einen Jungadler, der von einem wahrscheinlichen Hybridweibchen und einem Schreiadler-Männchen in Mecklenburg-Vorpommern abstammt, der sich derzeit in der Elfenbeinküste (Westafrika) aufhält.

DER FALKE: Wie lange wird sich das junge Schelladlermännchen in Südwesteuropa aufhalten?

B.-U. MEYBURG: Voraussichtlich bis März. Jungadler können aber auch länger im Überwinterungsgebiet bleiben.

DER FALKE: Wird der Vogel voraussichtlich wieder durch Deutschland nach Estland ziehen?

B.-U. MEYBURG: Wahrscheinlich ja.

DER FALKE: Wann ist gegebenenfalls damit zu rechnen, dass der Vogel wieder durch Deutschland fliegt?

B.-U. MEYBURG: März.

DER FALKE: Sollte der junge Schelladler wieder durch Deutschland ziehen und dabei beobachtet werden, wo würde ein derartiger Nachweis am wahrscheinlichsten publik gemacht?

B.-U. MEYBURG: Es würde Telemetrie-Daten geben. Nur ein Bruchteil der telemetrierten Tiere wird wirklich im Feld beobachtet.

Herr Prof. Meyburg, herzlichen Dank für das Gespräch!


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Was sagen die Seltenheitskommissionen?

Ausgelöst durch den unbemerkten Zug des mit Satellitensender ausgestatteten jungen Schelladlermännchens Tõnn durch Deutschland haben wir bei den Seltenheitskommissionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz nachgefragt, wie mit derartigen Nachweisen umgegangen wird.


Die Fragen lauteten:

(1) Wie oft kommt es vor, dass satellitenbesenderte Vögel durch Deutschland/Österreich/Schweiz fliegen, ohne dass diese durch Sichtbeobachtungen bestätigt werden?

(2) Werden Nachweise von satellitenbesenderten Vögeln anerkannt, auch wenn keine Sichtbeobachtungen vorliegen?

(3) Gibt es in Deutschland/Österreich/Schweiz Beispiele von "Erstnachweisen" durch satellitenbesenderte Vögel?


Hier die Antworten:

Peter Barthel, Deutschland

(1) Mit Sicherheit sehr oft, da inzwischen ja unglaublich viele Vögel mit Sendern versehen werden, darunter auch häufige Arten wie Störche und Gänse. Manchmal werden Vögel mit Antenne gesehen, ohne dass der Beobachter eine Idee hat, woher das Tier stammt. Er sucht ja auch nicht ständig die Vielzahl von internationalen Webseiten im Internet ab, auf denen mehr oder weniger aktuell von besenderten Vögeln berichtet wird. Zudem sind viele bescheidene Wissenschaftler gar nicht daran interessiert, die Menschheit permanent darüber aufzuklären, wo sich von ihnen besenderte Vögel gerade aufhalten - es genügt ihnen erst einmal, die Daten des Satelliten zu empfangen und hinterher dann seriöse Auswertungen zu publizieren. Ornithologische Arbeit muss nicht immer nach aktuellen Sensationen heischen.

Wahrscheinlich wird die Mehrzahl der besenderten Vögel nicht gesehen oder nicht als besendert erkannt. Der Vorteil dieser Methode liegt ja eben gerade darin, dass eine Beobachtung gar nicht nötig ist, um z. B. eine Ringnummer oder eine Farbmarkierung abzulesen! Betrachtet man lediglich die auf der nationalen Meldeliste der Deutschen Seltenheitenkommission stehenden Arten, lässt sich nach bisherigem Kenntnisstand sagen, dass solche Fälle ganz extrem selten sind. Eins der wenigen Beispiele ist ein in Ungarn besenderter Kaiseradler, der sich im Juli 2006 im Raum Hamburg und Schleswig-Holstein herumtrieb, ohne von Vogelbeobachtern gesehen zu werden. Dabei gab es sogar Suchaktionen von Leuten, die einen nachweislich wilden und nicht irgendwo entflogenen Kaiseradler gerne auf ihrer Deutschlandliste haben wollten - erfolglos. Auch in dieser Hinsicht ist der Fall mit dem aktuellen Schelladler vergleichbar.

(2) Selbstverständlich werden sie anerkannt. Immerhin sind sie sauberer belegt als so manche Sichtbeobachtung ...

(3) Nein, und sie sind, wenn man sich das aktuell besenderte Artenspektrum und die lange Liste von ca. 510 in Deutschland bereits nachgewiesenen Arten anschaut, auch kaum zu erwarten. Auch der Schelladler ist ja eigentlich keine so extreme Seltenheit, sondern sogar deutscher Brutvogel. Gleichwohl wäre es sehr erfreulich, künftig bei einzelnen seltenen Arten - z. B. Würgfalken, bei denen sich viele deutsche Feststellungen auf wahrscheinliche Hybriden und Gefangenschaftsflüchtlinge beziehen - über die Satellitentelemetrie saubere Nachweise von aus dem pannonischen Raum stammenden Wildvögeln zu bekommen.


Johannes Laber, Österreich

(1) Einen vergleichbaren Fall hat es erst einmal gegeben (Kaiseradler in der Steiermark).

(2) Ja.

(3) Nein.

Vielleicht noch zur Konkretisierung betreffend Kaiseradlernachweise via Sender: Meldepflichtig und daher von der Kommission behandelt sind nur Nachweise außerhalb der bekannten Brut- und Überwinterungsgebiete - daher wurde durch die Avifaunistische Kommission Österreich (AFK) nur der steirische Nachweis behandelt; es gibt aber weitere Nachweise durch besenderte Kaiseradler in Niederösterreich und Burgenland, die aber nicht meldepflichtig sind!


Peter Knaus, Schweiz

(1) Meines Wissens ist dies nachweislich nur einmal vorgekommen: Im September 1997 hat ein mit Satellitensender ausgerüsteter Schwarzstorch die Schweiz durchquert, ohne beobachtet worden zu sein. Diese Feststellung habe ich auch ins Buch "Die Vögel der Schweiz" von 2007 aufgenommen (S. 122). Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass dies öfters vorkommt. Genaueres wüsste allenfalls die Schweizerische Beringungszentrale (ring@vogelwarte.ch).

(2) Bislang gab es keine Nachweise von satellitenbesenderten Seltenheiten. Eine Anerkennung könnte ich mir aber sehr gut vorstellen, und zwar aus folgendem Grund: Vom 25.-27.11.1996 wurde ein Schelladler bei Büsingen (Deutschland) beobachtet und mit Foto dokumentiert. Büsingen ist bekanntlich eine Exklave östlich von Schaffhausen. Der Vogel wurde zwar nur in Deutschland beobachtet, musste aber zwangsläufig auch Schweizer Territorium überflogen haben. Der Nachweis wurde daher anerkannt und ebenfalls im Buch "Die Vögel der Schweiz" publiziert (S. 226).

(3) Nein.


Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Vertretern der Seltenheitskommissionen von Deutschland, Österreich und der Schweiz für ihre klaren und sehr prompten Antworten.

Redaktion DER FALKE


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 1/2009
56. Jahrgang, Januar 2009, S. 34-35
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,80 Euro
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2009