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GENETIK/124: Das eine Prozent, das alles ändert (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Das eine Prozent, das alles ändert

Von Mikhaïl Stein


Durch die Sequenzierung des Genoms von Mensch und Schimpanse lässt sich die DNA der beiden Arten vergleichen, um die genetischen Grundlagen der Aufzweigung zwischen den beiden Stammlinien vor 5 bis 6 Millionen Jahren zu verstehen. Sie ermöglicht aber auch die Suche nach der Ursache für die erstaunliche Steigerung der kognitiven Fähigkeiten, die unsere Art kennzeichnet.


Als Kind träumte er davon, Archäologe zu werden. Er wurde Biologe. Dennoch geht Svante Pääbo, Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (DE), mit der gleichen Leidenschaft an die Arbeit, wenn er die DNA untersucht, wie andere bei ihren Ausgrabungen: Beiden geht es um den Blick in vergangene Zeiten, um die Menschheitsgeschichte zu rekonstruieren. Bekannt wurde Svante Pääbo durch seine Arbeiten an ägyptischen Mumien und den Fossilien des Neandertalers, deren DNA er isolierte. Seine neue Herausforderung ist es "die Geschichte der evolutiven Änderungen, die zum Auftreten des menschlichen Geistes geführt haben, wie wir ihn heute kennen, zu rekonstruieren".


Zwei Chromosomen oder ein Chromosom 2

Seit über dreißig Jahren ist die Zahl bekannt und sie steht in allen Lehrbüchern: Das genetische Erbe von Schimpanse und Mensch, deren Wege sich vor etwa sechs Millionen Jahren trennten, unterscheidet sich nur um etwa 1 bis 2 %. Aber worin dieser Unterschied besteht, blieb bis zu einem ersten Sequenzierungsversuch des Genoms unseres nächsten Verwandten durch ein internationales Konsortium, an dem 2005 vor allem Forscher des Max Planck-Instituts teilnahmen, rätselhaft. Was haben wir durch diese Arbeit erfahren? Die 1 bis 2 % genetischen Unterschiede lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Zum einen wurden punktuelle Substitutionen eines Nukleotids (die vier Buchstaben für die chemischen Bestandteile, aus denen sich die DNA zusammensetzt) durch ein anderes in Genen festgestellt, deren Sequenz im Großen und Ganzen erhalten blieb. Bei Mensch und Schimpanse wurden davon 35 Millionen gefunden - bei insgesamt drei Milliarden Nukleotiden. Aber ihre Rolle ist nicht leicht zu verstehen, denn auch innerhalb der menschlichen Spezies gibt es solche Variationen. Zum anderen können lokale Änderungen der Genstruktur selbst und deren Verkettung mit Löschungen, Duplikationen und Inversionen von DNA-Sequenzen bis zur Fusion zweier Chromosomen beim Schimpansen reichen, die dann das Chromosom 2 beim Menschen bilden.


Genverdopplung

Für die letztere Kategorie der Umformungen interessieren sich besonders die deutschen, britischen und Schweizer Forscher des von Svante Pääbo geleiteten Projekts PKB 140404 (Molecular Evolution of Human Cognition) (1) - genauer gesagt für die Unterkategorie der Retrogene, die durch DNA-Kopie einer RNA dupliziert werden. Molekulargenetiker vermuten seit Langem, dass die eigenartigen, biochemischen Ereignisse, die zur Verdopplung eines Gens führen, eine Rolle beim Auftreten neuer Tierarten spielen. Diese Frage wird jedoch weiter diskutiert. Da die übliche biologische Rolle von der ersten Kopie übernommen wird, kann sich die zweite Kopie sicherlich "freier" entwickeln, was zum Auftreten neuer Funktionen des codierten Proteins führen kann. Umgekehrt kann die zweite Kopie jedoch, wenn sie zufällig ins Genom eingefügt wird, dessen Expression stören, etwa so, wie die Kopie einer Buchseite das Lesen stört, wenn sie einfach zufällig eingefügt wird.

Haben die Phänomene der genetischen Duplikation etwa eine Rolle bei der Entstehung unserer Spezies gespielt? Das Team von Henrik Kaesmann an der Universität von Lausanne (CH), Partner des Projekts PKB 140404, bestätigt dies. Es hat im menschlichen Genom ungefähr 60 funktionelle Retrogene identifiziert, von denen etwa alle Millionen Jahre eines in der Linie der Primaten auftauchte. Worin besteht ihre funktionelle Rolle? Kaesmann und seine Mitarbeiter untersuchten die Organe, in denen diese Retrogene exprimiert werden, und stellten überrascht fest, dass die meisten besonders in den Hoden aktiv sind, wogegen die Gene, aus denen sie stammen, in vielen unterschiedlichen Organen exprimiert werden. "Die Retrogene tauchen in den Hoden auf, zweifellos weil sie eine Rolle in der Spermatogenese spielen, aber sie entwickeln sich daraufhin stark weiter und ihre Expressionsorte diversifizieren sich", erklärt der Forscher.


Von GLUD1 zu GLUD2

Ein aufsehenerregendes Beispiel einer solchen Diversifizierung ist das Gen GLUD2, das durch Duplizierung beim gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Primaten vor 18 bis 25 Millionen Jahren auftrat. Das Besondere an ihm ist, dass es zu diesen wenigen beim Menschen sowohl in den Hoden als auch im Gehirn exprimierten Retrogenen gehört. Das Protein, das es codiert, ist an der Regulierung des Energiestoffwechsels im Gehirn durch die Astrozyten beteiligt, das heißt jener Zellen, welche die Neuronen ernähren und schützen. Und es kommt noch besser: Im Vergleich zu GLUD1, von dem es abstammt, ist das neue Gen besser geeignet, die Neuronen im Fall intensiver elektrischer Tätigkeit zu ernähren. Dies könnte eine der molekularen Grundlagen sein, die für die Steigerung der Hirntätigkeit notwendig ist und sich beobachten lässt, je mehr man sich in der Linie der Primaten dem Menschen nähert.

Dennoch geht niemand davon aus, dass sich die Menschwerdung lediglich auf die Tätigkeit von ein paar Dutzend jüngst aufgetretenen Genen reduzieren lässt. Die Suche nach dem, was das "Besondere am Menschen" ausmacht, beschränkt sich nicht auf die Untersuchung der DNA-Sequenz, dazu gehört auch das Interesse für das, was ihr ihre Funktion verleiht: nämlich die RNA und die Proteine. "Wir suchen systematisch bei Mensch und Menschenaffen nach den Genen, deren Expressionsebenen sich unterscheiden, denn Unterschiede in der Expression können zu Änderungen in ihrer Funktion führen", erklärt Svante Pääbo. Mit seinen Kollegen verglich er so die Ebenen der genetischen Expression im präfrontalen Cortex des Menschen und des Schimpansen. Der präfrontale Cortex ist die Hirnregion, die beim Homo sapiens im Vergleich zu seinen Vorfahren am meisten entwickelt ist. Bei dieser Form der Analyse besteht die ganze Schwierigkeit darin, die Bedeutung der beobachteten Unterschiede zu ermitteln. Handelt es sich um einfache Variationen von einem Individuum zum anderen, die dafür sorgen, dass sich zwei Schimpansen ebenso stark voneinander unterscheiden wie zwei Menschen, oder um funktionelle Unterschiede, welche die Funktionsfähigkeit von Zellen und Organen ändern?

Dank einer neuen statistischen Methode eit von Zellen und Organen ändern? Dank einer neuen statistischen Methode konnten Pääbo und sein Team eine Untergruppe von Genen identifizieren, deren Expression in RNA im menschlichen Gehirn die größten Besonderheiten zeigt. Die Analyse ihrer Funktion ist noch nicht abgeschlossen und erfordert später den Übergang von der globalen Analyse der RNA des präfrontalen Cortex zu jener der Proteine auf der neuronalen Ebene. Die ersten Ergebnisse weisen jedoch bereits darauf hin, dass viele dieser Gene am Energiestoffwechsel beteiligt sind. Diese Beobachtungen erhalten dann einen Sinn, wenn man in Betracht zieht, dass der Mensch durch seinen aufrechten Gang für das Zurücklegen einer bestimmten Strecke wesentlich weniger Energie verbraucht als der Primat. Die eingesparte Energie kommt wiederum dem Gehirn zugute, das alleine ein Viertel der vom menschlichen Körper erzeugten Energie verbraucht.


Geistige Erkrankungen

Einen anderen, vergleichenden Ansatz zur Untersuchung der Genexpression verfolgen die Forscher des Babraham-Instituts in Cambridge (GB) ebenfalls im Rahmen des Projekts PKB 140404. Ausgehend von geistigen Erkrankungen erhoffen sich die Wissenschaftler durch den Vergleich der Genexpression im Gehirn schizophrener Patienten oder von Patienten mit bipolaren Störungen post mortem und Vergleichsgehirnen eine Identifizierung der Gene, die eine Rolle bei der Kognition spielen, deren Störung die Ursache solcher Erkrankungen sein könnte.

Später möchten die Forscher diese Gene, die möglicherweise eine Rolle bei der Kognition spielen, in das Genom der Maus einschleusen. "Diese Experimente dienen dazu, später ihre Funktion durch einen unserer drei Ansätze - Retrogene, Gene mit unterschiedlicher Expression im Cortex und Gene mit Dysfunktion bei Schizophrenie - im Hinblick auf ihre potenzielle Rolle in der Kognition zu prüfen. So vergleichen wir die anatomischen, biochemischen und verhaltenspsychologischen Folgen der Einschleusung eines menschlichen Gens und des entsprechenden Gens des Menschenaffen bei der Maus", erklärt Pääbo.

Die Experimente begannen mit vier Genen, deren Besonderheiten beim Menschen die Verdreifachung des Gehirnvolumens erklären könnten, die den Übergang vom Menschenaffen zum Menschen kennzeichnet. Das ist beispielsweise der Fall beim ASPM-Gen (Abnormal Spindle-like Microcephaly Associate). Fehlt dieses beim Menschen, wird ein Rückstand in der geistigen Entwicklung in Verbindung mit einer drastischen Verringerung des Hirnvolumens bewirkt. Der Vergleich der Anhäufung von Mutationen dieses Gens beim Menschen und den Primaten zeigte, dass das ASPM im Verlauf der Evolution eine positive Selektion erlebte. So finden sich beim Menschen mehr Mutationen, die dem Gen neue Eigenschaften verleihen, also zur Zunahme des Hirnvolumens beigetragen haben können, als neutrale Mutationen ohne funktionelle Konsequenzen.

Andere, noch vorläufige Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Einschleusung des Retrogens GLUD2 von Primaten bei der Maus die Konzentration mehrerer Neurotransmitter im Cortex des kleinen Nagers verändert und ihn anscheinend zur Erforschung neuer Umgebungen stärker anregt. Daraus schließen zu wollen, dass der Nager nun so gewitzt sei wie ein Affe, wäre ein Schritt, vor dem sich die Forscher gründlich hüten.


Anmerkung

(1) Das Projekt PKB 140404 (Molecular Evolution of Human Cognition) ist Teil der europäischen Initiative Nest Pathfinder, What it means to be human

infos
ftp://ftp.cordis.europa.eu/pub/nest/docs/4-nest-what-it-290507.pdf


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Begegnung zwischen einem Orang-Utan und Kindern im Baseler Zoo (CH) - 1991.


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008, Seite 14-15
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2009