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PLANET/389: Wenn die Atmosphäre ins All entweicht (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 1/10 - Januar 2010

Planetenatmosphären
Wenn die Atmosphäre ins All entweicht

Von David C. Catling und Kevin J. Zahnle


Die dünnen Lufthüllen um manche Planeten sind höchst fragile Gebilde, denn Gase können auf vielerlei Wegen in den Weltraum verloren gehen. Nicht nur für Erde, Venus und Mars ist dies ein Prozess mit gravierenden Folgen.


In Kürze
Viele der Gase, aus denen sich die Atmosphären der Erde und anderer Planeten zusammensetzen, entweichen mehr oder weniger rasch ins All. Zu den Gründen dafür zählen ihre Wärmebewegung und chemische Reaktionen, aber auch Einschläge von Kometen und Asteroiden.
Diese Verluste erklären viele Auffälligkeiten im Sonnensystem, etwa die Röte des Planeten Mars und die Dichte der Lufthülle von Venus. Sie deuten auch darauf hin, dass die Erde einst das Schicksal der Venus mit ihrem galoppierenden Treibhauseffekt teilen wird.
Der Verlust von irdischem Wasserstoff könnte letztlich aber auch mit dafür verantwortlich sein, dass sich vor 2,4 Milliarden Jahren Sauerstoff in der Erdatmosphäre ansammelte.

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Zu den auffälligsten Eigenschaften des Sonnensystems gehört die Vielfalt planetarer Atmosphären. So erhitzt die Lufthülle der Venus die Oberfläche des Planeten auf 460 Grad Celsius, und der dort herrschende Druck ließe sich auf der Erde erst in über 900 Meter Wassertiefe messen. Und das, obwohl beide Planeten vergleichbare Größe und Masse besitzen. Etwa denselben Umfang weisen auch die planetengroßen Monde von Jupiter und Saturn auf, Kallisto und Titan. Doch Titans stickstoffreiche Lufthülle ist sogar dichter als die irdische, während Kallistos außerordentlich dünne Atmosphäre kaum erwähnenswert ist. Worin liegen die Ursachen solcher extremen Unterschiede? Und wie ist es eigentlich um die Zukunft der irdischen Atmosphäre bestellt, die für unser Leben eine so zentrale Rolle spielt?

Zu einer Lufthülle gelangt ein Planet, wenn aus seinem Inneren Dämpfe aufsteigen, wenn er flüchtige Substanzen von abgestürzten Kometen und Asteroiden aufnimmt oder dank seiner Schwerkraft Gase aus dem interplanetarischen Raum anzieht. Doch die Atmosphäre kann auch wieder verschwinden - unter Umständen in einem einzigen kosmischen Augenblick. Zwar ist etwa auf der Erde die gegenwärtige Verlustrate der beiden leichtesten Gase gering: Bei Wasserstoff beträgt sie nur rund drei Kilogramm pro Sekunde, bei Helium sind es 50 Gramm. Über geologische Zeiträume hinweg ist aber auch dieses Heraussickern von Bedeutung: »Selbst ein kleines Leck kann ein großes Schiff zum Sinken bringen«, sagte schon Benjamin Franklin. Und möglicherweise war die Verlustrate einst erheblich höher.

Das Wissen um die Vergänglichkeit von Atmosphären hat unseren Blick auf das Sonnensystem verändert. So versuchten Forscher jahrzehntelang herauszufinden, warum der Mars eine so dünne Atmosphäre besitzt. Jetzt aber fragen wir uns: Warum besitzt der Rote Planet überhaupt noch eine Atmosphäre? Stand für Titan während seiner Entstehungsgeschichte schlicht mehr Gas zur Verfügung, oder ist es vielmehr Kallisto, der seine Atmosphäre im Lauf der Zeit verlor? War Titans Lufthülle vielleicht früher noch dichter als heute? Wie konnte die Venus Stickstoff und Kohlendioxid an sich binden, während sie doch ihr Wasser verlor? War der Verlust von Wasserstoff möglicherweise sogar eine Voraussetzung dafür, dass auf der Erde komplexe Lebensformen entstanden? Und wird sich unser Planet deshalb einst in einen Zwilling der Venus verwandeln?

Genau wie eine Rakete die so genannte Fluchtgeschwindigkeit besitzen muss, um das Gravitationsfeld der Erde verlassen zu können, müssen auch Atome und Moleküle diese Minimalgeschwindigkeit erreichen, um in den Weltraum zu entkommen. Wenn dafür bei hohen Gastemperaturen schon die Wärmebewegung der Moleküle ausreicht, sprechen Forscher von thermischem Verlust oder thermischer Flucht. Vor allem in dieser Verlustart scheint es auch begründet zu sein, dass unser Sonnensystem mit atmosphärelosen Körpern durchsetzt ist. Bei diesen Himmelsobjekten übertrifft die Intensität der Sonneneinstrahlung einen bestimmten Grenzwert, der wiederum von der Schwerkraft des jeweiligen Körpers abhängig ist (siehe Grafik S. 26).

Der thermische Verlust geht auf zweierlei Weise vonstatten. Beim Jeans-Verlust, benannt nach dem englischen Astronomen James Jeans, der den Prozess im frühen 20. Jahrhundert erstmals beschrieb, verdampft die Luft Atom für Atom und Molekül für Molekül vom oberen Rand der Atmosphäre. In niedrigen Höhen werden die Teilchen noch von Kollisionen aufgehalten, aber oberhalb einer bestimmten Höhe, der so genannten Exobase - sie liegt im Fall der Erde in etwa 500 Kilometer Höhe -, ist die Luft so dünn, dass sie nur noch selten zusammenstoßen. Hier wird ein Atom oder Molekül mit der notwendigen Geschwindigkeit durch nichts mehr vom Entweichen ins All abgehalten.

Dank seiner geringen Masse kann Wasserstoff die Schwerkraft eines Planeten zwar im Vergleich zu anderen Elementen am leichtesten überwinden, doch zunächst muss auch er die Exobase erreichen. In der irdischen Atmosphäre ist das ein langwieriger Prozess, denn wasserstoffhaltige Moleküle gelangen meist nicht über die untersten Schichten der Atmosphäre hinaus. Wasserdampf kondensiert und regnet wieder auf die Oberfläche herab, Methan oxidiert zu Kohlendioxid und Wasser. Allerdings entgehen einige der Wasser- und Methanmoleküle diesen Prozessen. Sie erreichen die Stratosphäre, zerfallen und geben den Wasserstoff frei, der dann langsam nach oben diffundiert, bis er die Exobase erreicht. Wieder ein Teil davon schafft es dann ins Weltall, wie der Halo aus Wasserstoffatomen rund um unseren Planeten belegt (Aufnahme rechts).

Die Temperatur in Höhe der irdischen Exobase schwankt typischerweise um 1000 Kelvin. Bei dieser Temperatur besitzen Wasserstoffatome im Mittel eine Geschwindigkeit von fünf Kilometer pro Sekunde, doch die Geschwindigkeitsverteilung umfasst auch viel schnellere Atome. Manche von ihnen erreichen auch Fluchtgeschwindigkeit, die in dieser Höhe 10,8 Kilometer pro Sekunde beträgt, was 10 bis 40 Prozent des gegenwärtigen Wasserstoffverlusts der Erdatmosphäre erklärt. Auf dem Mond geschieht Vergleichbares: Das Fehlen einer lunaren Atmosphäre lässt sich teilweise ebenfalls durch den Jeans-Verlust beschreiben, denn aus dem Mond oberflächengestein freigesetzte Gase können leicht ins All entweichen.

Statt Molekül für Molekül verloren zu gehen, kann erwärmte Luft aber auch in großen Mengen abströmen. Absorbiert die Hochatmosphäre ultraviolette Strahlung, erwärmt sie sich und dehnt sich aus, wobei Luftmassen in Richtung Weltall gedrückt werden. Dabei werden sie allmählich beschleunigt, überschreiten die Schallgeschwindigkeit und erreichen schließlich Fluchtgeschwindigkeit. Diesen so genannten hydrodynamischen Verlust bezeichnen Forscher in Analogie zum Sonnenwind - geladene Teilchen, die von der Sonne in den interplanetaren Raum strömen - auch als planetarischen Wind. Besonders anfällig für diese Verlustart sind Atmosphären mit hohen Wasserstoffanteilen. Strömt Wasserstoff nach außen, kann er auf seinem Weg schwerere Moleküle und Atome mitreißen. Je schwerer diese sind, in desto geringerem Umfang ist dies allerdings der Fall, weshalb uns die gegenwärtige Zusammensetzung einer Atmosphäre zeigen kann, ob ein solcher Prozess in der Vergangenheit stattgefunden hat.

Bei dem jupiterähnlichen Exoplaneten HD 209458b stießen Astronomen tatsächlich auf die typischen Anzeichen für einen hydrodynamischen Verlust. Alfred Vidal-Madjar vom Institut d'Astrophysique de Paris und seine Kollegen berichteten 2003 von Beobachtungen mit dem Weltraumteleskop Hubble. Sie belegen, dass HD 209458b eine durch nach oben drückende Luftmassen aufgeblähte Atmosphäre aus Wasserstoff besitzt. Nachfolgende Messungen zeigten, dass die aufgeblähte Lufthülle zudem Kohlenstoff und Sauerstoff enthält. (In ihren tieferen Schichten hätten sich diese Elemente gar nicht entdecken lassen.) Weil diese Atome eigentlich zu schwer sind, um solche Höhen zu erreichen, müssen sie vom Wasserstoff mitgerissen worden sein.


Die gesamte Atmosphäre entrissen

Der hydrodynamische Verlust erklärt wohl auch, warum die Astronomen keine großen Gasplaneten finden, die auf erheblich engeren Bahnen als HD 209458b um ihren Stern kreisen. Objekten, die weniger als etwa drei Millionen Kilometer (rund die Hälfte des Bahnradius von HD 209458b) von ihrem Stern entfernt sind, entreißt der hydrodynamische Verlust innerhalb einiger Milliarden Jahre die gesamte Atmosphäre. Von Gasplaneten bleibt dann nur ein kleiner, nicht beobachtbarer Kern zurück.

Hinweise auf planetarische Winde wie in diesem Fall stärken die in den 1980er Jahren aufgekommene Idee, dass der hydrodynamische Verlust wohl auch eine wichtige Rolle in der Frühzeit von Venus, Erde und Mars spielte. Darauf weisen drei wichtige Indizien hin. Das erste betrifft die Edelgase: Kommt es nicht zu Verlusten, müssten chemisch nicht reagierende Gase wie Neon und Argon auf Dauer in der Atmosphäre verbleiben - die Häufigkeitsverteilungen ihrer Isotope sollten daher immer noch ihren ursprünglichen Werten entsprechen. Die wiederum können als ungefähr bekannt gelten, weil Sonne und Planeten einst aus der gleichen Gaswolke entstanden. Tatsächlich aber unterscheiden sich die beobachteten Häufigkeitsverteilungen von denen, die zu erwarten wären.

Das zweite Indiz: Junge Sterne - und unsere Sonne bildete vermutlich keine Ausnahme - senden intensive ultraviolette Strahlung aus, die den hydrodynamischen Verlust angetrieben haben könnte. Und drittens besaßen die jungen terrestrischen Planeten möglicherweise wasserstoffreiche Atmosphären. Der Wasser stoff könnte aus chemischen Reaktionen von Wasser mit Eisen stammen, aber auch von Gas aus der einstigen Gas- und Staubwolke, die Ur sprung unseres Planetensystems war, und aus der Aufspaltung von Wassermolekülen durch die UV-Strahlung der Sonne. In der Frühphase des Sonnensystems stürzten erheblich mehr Asteroiden und Kometen als heute auf die Planeten. Immer, wenn sie in einen Ozean einschlugen, füllte sich die Atmosphäre mit Dampf. Dieser kondensierte zwar im Verlauf von Jahrtausenden und fiel als Regen zurück auf die Oberfläche. Doch zumindest die Venus ist der Sonne so nah, dass optimale Bedingungen für den hydrodynamischen Verlust herrschten. Weil sich der Wasserdampf lange in der erwärmten Atmosphäre hielt, konnte er durch die Strahlung aufgespalten werden.

In den 1980er Jahren zeigte James F. Kasting, jetzt an der Pennsylvania State University, dass die Venus auf diesem Weg binnen einiger weniger zehn Millionen Jahre extrem viel Wasserstoff verloren haben könnte - eine Menge, die dem Wasserstoffgehalt eines ganzen Ozeans entspricht (siehe SdW 4/1988, S. 46). Gemeinsam mit einem von uns (Zahnle) zeigte Kasting dann auch, dass der Wasserstoff einen Großteil des Sauerstoffs mitreißen, das Kohlendioxid jedoch zurücklassen würde. Damit aber fehlte Wasser, das eine wichtige Rolle bei chemischen Reaktionen spielt, in denen aus Kohlendioxid und anderen Elementen Mineralien wie etwa Kalkstein entstehen. Kohlendioxid wurde also nicht gebunden, sondern sammelte sich in der Atmosphäre an und machte die Venus zu einer extrem lebensfeindlichen Welt.

Mars und Erde litten in geringerem Maß ebenfalls unter hydrodynamischem Verlust. Leichte Isotope nämlich - die leichter verloren gehen können - finden sich hier in relativ geringer Menge. In den Atmosphären der beiden Planeten liegt das Verhältnis von Neon-20 zu Neon-22 um 25 Prozent unter dem solaren Wert. In der Marsatmosphäre ist ein ähnliches Defizit an Argon-36 gegenüber Argon-38 nachzuweisen. Und selbst die Isotope von Xenon, dem von Schadstoffen abgesehen schwersten Gas in der Erdatmosphäre, zeigen Spuren des hydrodynamischen Verlusts. Dies wirft allerdings eine Frage auf. Wenn der hydrodynamische Verlustprozess sogar Xenonatome betraf: Warum riss er dann nicht auch alles andere mit? Die Antwort steht bislang noch aus.

Auch Titan verlor wahrscheinlich einen Großteil seiner Luft durch hydrodynamischen Verlust. Beim Sinkflug der ESA-Sonde Huyens durch die Atmosphäre des Saturnmonds im Jahr 2005 stellten die Messinstrumente fest, dass das Verhältnis von Stickstoff-14 zu Stickstoff-15 70 Prozent über dem irdischen Wert liegt - ein Rätsel, denn schließlich unterscheiden sich diese Isotope kaum in ihrer Anfälligkeit für den hydrodynamischen Verlust. Falls die Atmosphäre Titans ursprünglich die gleiche Stickstoffzusammensetzung besaß wie die irdische, dürfte Titan jedenfalls gewaltige Stickstoffverluste erlitten haben - ein Vielfaches der heute vorhandenen, immer noch großen Menge. Vielleicht war seine Atmosphäre einst also sogar dichter als heute, was die ganze Sache indessen nur noch verwirrender macht.

Bei einigen Planeten, zu denen auch die heutige Erde gehört, spielen indessen nichtthermische Prozesse die größere Rolle. Dabei katapultieren chemische Reaktionen oder Teilchenkollisionen die Partikel auf Fluchtgeschwindigkeit. Durch ein einziges Ereignis oberhalb der Exobase erhält ein Atom oder Molekül so eine sehr große Geschwindigkeit und kann auch durch weitere Zusammenstöße nicht mehr am Entweichen gehindert werden. Oft sind auch Ionen beteiligt. Üblicherweise sind diese geladenen Teilchen magnetisch an einen Planeten gebunden - entweder durch sein globales Magnetfeld oder durch lokale, vom Sonnenwind induzierte Felder. Entkommen können sie trotzdem. Eines der Schlupflöcher ist der Ladungsaustausch: Kollidiert ein schnelles Wasserstoffion mit einem neutralen Wasserstoffatom und fängt dessen Elektron ein, ist das so entstandene schnelle neutrale Atom immun gegen das magnetische Feld. Dieser Prozess ist für 60 bis 90 Prozent des derzeitigen Wasserstoffverlusts der Erde und für den überwiegenden Teil des Wasserstoffverlusts der Venus verantwortlich.

Auch einen weiteren Schwachpunkt der planetaren Magnetfalle nutzen Ionen aus. Die meisten Magnetfeldlinien verlaufen von einem magnetischen Pol zum anderen. Doch der Sonnenwind zieht die äußeren Feldlinien noch weiter nach außen - sie krümmen sich nicht zum Planeten zurück, sondern sind zum interplanetarischen Raum hin offen. Den Weg entlang dieser Linien können allerdings nur die leichtesten Teilchen wie Wasserstoff- und Heliumionen nehmen, weil sie natürlich dennoch die Schwerkraft überwinden müssen. Der so entstehende geladene Teilchenstrom, der polare Wind, ist für 10 bis 15 Prozent des Wasserstoffverlusts und nahezu den gesamten Heliumverlust der Erde verantwortlich.

Manchmal reißen die leichten Ionen auch schwerere Exemplare mit, was möglicherweise das Xenonrätsel löst. War der polare Wind einst stärker, ist denkbar, dass er Xenonionen mit ins All trug. Als eines der Indizien dafür gilt, dass die Isotopenverteilung von Krypton - das Gas ist leichter als Xenon und sollte unter sonst gleichen Bedingungen daher anfälliger für Verluste sein - nicht dieselben Auffälligkeiten wie jene von Xenon aufweist. Anders als Xenon lässt sich Krypton nämlich nicht ionisieren und darum auch von stärkeren polaren Winden nicht mitreißen.


Der vollen Wucht des Sonnenwinds ausgeliefert

Auf Mars und möglicherweise auf Titan ist ein dritter nichtthermischer Prozess am Werk. Beim fotochemischen Verlust wandern Sauerstoff-, Stickstoff- und Kohlenmonoxidmoleküle in die Hochatmosphäre, wo die Strahlung der Sonne sie ionisiert. Rekombinieren die ionisierten Moleküle mit Elektronen oder stoßen sie miteinander zusammen, werden sie von der freigesetzten Energie in Atome aufgespaltet, die dann Fluchtgeschwindigkeit besitzen können. Ein vierter nichtthermischer Prozess ist das Sputtering (englisch: to sputter = zerstäuben). Weil Mars, Titan und Venus kein globales, schützendes Magnetfeld besitzen, ist ihre Hochatmosphäre der vollen Wucht des Sonnenwinds ausgeliefert. Dieser reißt Ionen mit sich, die - wenn aus ihnen per Ladungs austausch neutrale Atome entstehen - schließlich entkommen können. Vor allem Sputtering und fotochemische Verluste sind wohl dafür verantwortlich, dass der Mars bis zu 90 Prozent seiner einstigen Atmosphäre verloren hat. Dies schließen Forscher aus der Anreicherung der Marsatmosphäre mit schweren Stickstoff- und Kohlenstoffisotopen. Genauer wird dies erst die NASA-Sonde Mars Atmosphere and Volatile Evolution herausfinden, die ab 2014 um den Roten Planeten kreisen und entkommende Ionen und neutrale Atome untersuchen soll.

Thermische wie nichtthermische Prozesse verursachen indessen nur ein unbedeutendes Herauströpfeln im Vergleich zu den gewaltigen Fontänen, die Kometen- oder Asteroideneinschläge verursachen. Große und schnelle Projektile können dabei vollständig verdampfen; dasselbe geschieht mit einer vergleichbar großen Masse an Material der Planetenoberfläche. Das entstehende heiße Gas expandiert dann mit einer Geschwindigkeit jenseits der Fluchtgeschwindigkeit und treibt die darüberliegende Luft ins Weltall hinaus.

Je größer die Einschlagenergie, desto größer ist die betroffene kegelförmige Region. Bei dem möglicherweise für das Dinosauriersterben verantwortlichen Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren umfasste der Kegel vermutlich den gesamten Bereich innerhalb von 80 Grad zur Vertikalen. Etwa ein Hunderttausendstel der Erdatmosphäre ging so verloren. Ein noch gewaltigerer Einschlag könnte gar den gesamten Atmosphärenbereich hinwegfegen, der oberhalb der Tangentialebene am Ort des Einschlags liegt.

Der verloren gehende Atmosphärenanteil ist dabei umso größer, je dünner die Luft ist - mit der Folge, dass eine bereits unter Verlusten leidende Atmosphäre für Erosion durch weitere Einschläge umso anfälliger ist. Mit der Zeit kann so die gesamte Lufthülle verschwinden. Der durch seine geringe Größe ohnehin anfällige Mars verbrachte bereits seine frühen Jahre nahe dem Asteroidengürtel. Die Konsequenz: Der Rote Planet könnte seine Atmosphäre infolge vieler Einschläge binnen weniger als 100 Millionen Jahren verloren haben, wie Berechnungen ergaben. Die großen Jupitermonde halten sich aber ebenfalls in gefährlicher Umgebung auf, nämlich tief im Schwerefeld des Jupiters, das einfallende Asteroiden und Kometen weiter beschleunigt. Sollten die Monde jemals Atmosphären besessen haben, hätten Einschläge sie ihnen rasch entrissen. Im Gegensatz dazu zieht Titan seine Bahn in relativ großem Abstand vom Saturn. Die Einschlaggeschwindigkeiten sind daher kleiner, Titans Atmosphäre blieb bestehen.

Thermische und nichtthermische Verluste liefern ebenso wie Einschläge von Himmelskörpern Erklärungen für die Verschiedenheit der Atmosphären im Sonnensystem. Zu ihren weniger offensichtlichen Konsequenzen gehört die Oxidation der Planetenoberflächen. Sauerstoff entkommt weniger leicht als Wasserstoff, und dies ist letztlich der Grund, warum Mars, Venus und Erde rot sind. Im Fall der Erde verbergen Erdreich und Vegetation diese natürliche Farbe der kontinentalen Kruste allerdings. Doch ursprünglich bestanden die Oberflächen aller drei Planeten aus grauschwarzen Gemischen vulkanischen Gesteins, das sich erst durch chemische Reaktionen mit Sauerstoff und vor allem die Bildung von Eisenoxid rot färbte. So lässt sich die Farbe des Mars nur damit erklären, dass er einst Wasser besaß und es in Mengen verlor, die den gesamten Planeten mit einem mehrere zehn Meter tiefen Ozean hätten bedecken können.

Auch ein weiteres Phänomen könnten die Gasverluste aufklären. Die Zunahme des Sauerstoffgehalts der irdischen Atmosphäre vor 2,4 Milliarden Jahren schreiben die meisten Forscher dem Aufkommen fotosynthetischer Organismen zu. Wir schlugen jedoch im Jahr 2001 vor, dass bei diesem Prozess auch der Wasserstoffverlust eine wichtige Rolle spielte. Wenn Mikroben Fotosynthese betreiben und dabei Wassermoleküle aufspalten, kann der entstehende Wasserstoff wie ein Stab beim Staffellauf von der organischen Materie zu Methan weiterwandern und schließlich das Weltall erreichen. Dem durch diesen Prozess zu erwartenden Wasserstoffverlust entspricht eine im System verbliebene Sauerstoffmenge, die wiederum hilft, die Menge an oxidiertem Material auf der heutigen Erde zu erklären.

Die dünne Marsatmosphäre lässt sich durch das Entweichen von Gasen ins All ebenfalls erklären. Lange Zeit wurde vermutet, dass chemische Reaktionen zwischen Wasser, Kohlendioxid und Gestein Bestandteile der ursprünglich dichten Atmosphäre in Kar bonate, also kohlenstoffhaltige Mineralien, umwandelten. Diese Karbonate wurden dann nie wieder zu Kohlendioxid zurückverwandelt, weil der kleine Mars zu schnell abkühlte und der Vulkanismus auf seiner Oberfläche zu früh endete.

Doch ob dieses Szenario zutrifft, ist ungewiss. Denn Raumsonden entdeckten bislang nur eine einzige Region auf dem Planeten, wo tatsächlich karbonathaltiges Gestein existiert. Überdies sind diese Felsaufschlüsse vermutlich durch unterirdisches warmes Wasser entstanden. Außerdem kann die Karbonattheorie nicht erklären, warum die Marsatmosphäre so wenig Stickstoff und Edelgase enthält. Die Prozesse entweichender Gase bieten dagegen bessere Antworten: Die Atmosphäre wurde nicht im Gestein gebunden, sie entkam ins Weltall.

Trotzdem beschäftigt die Astronomen ein weiteres Problem. Eigentlich hätte die Marsatmosphäre durch Impakte vollständig verloren gehen müssen. Was also stoppte diesen Vorgang? Eine mögliche Antwort lautet: der Zufall. Große Einschläge sind ohnehin selten, vor etwa 3,8 Milliarden Jahren nahm deren Häufigkeit zudem rapide ab. Vielleicht ist der Mars dem finalen zerstörerischen Einschlag also einfach glücklich entkommen. Zudem könnte ein großer eishaltiger Asteroid oder Komet mehr flüchtige Stoffe zum Mars transportiert haben, als ihm die nachfolgenden Einschläge wieder entrissen. Oder aber Atmosphärenüberreste überdauerten im Marsboden, dem sie nach den Einschlägen allmählich wieder entströmten.

Die Erde wiederum überstand Verluste bislang relativ unbeschadet. Doch die Helligkeit der Sonne steigt um etwa zehn Prozent pro einer Milliarde Jahre. Über geologische Zeiträume hinweg wirkt sich dieser Anstieg zerstö rerisch aus, weil die Atmosphäre stärker erwärmt und dadurch auch feuchter wird. Nach und nach wird der in den interplanetaren Raum fließende Strom von Wasserstoff immer mehr anschwellen. In rund zwei Milliarden Jahren werden die irdischen Ozeane ausgetrocknet sein. Dann ist die Erde zu einem Wüstenplaneten geworden, auf dem nur noch an den Polen Spuren von Wasser existieren. Und weitere zwei Milliarden Jahre später brennt die Sonne so gnadenlos auf die Erde herab, dass alles verbleibende Wasser verdampft und der atmosphärische Treibhauseffekt so stark wird, dass sogar das Gestein auf der Oberfläche schmilzt. Ganz zum Schluss wird die Erde der heutigen Venus ähneln - und als leblose Welt enden.


Der Planetenforscher David C. Catling untersucht das Wechselspiel zwischen Oberflächen und Atmosphären von Planeten. 2001 wechselte er vom Ames Research Center der NASA an die University of Washington, wo er als Projektwissenschaftler an der Marslandemission Phoenix beteiligt war.

Kevin J. Zahnle ist seit 1989 als Wissenschaftler am Ames Research Center tätig. Seine Interessen reichen von Planetenatmosphären über die Oberflächen bis hin zum inneren Aufbau von Planeten. 1996 zeichnete ihn die NASA für seine Arbeiten über den Einschlag des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf Jupiter mit einer Medaille für außergewöhnliche Leistungen aus.


Literaturhinweise:

Catling, D.C., Kasting, J.F.: Planetary Atmospheres and Life. In: Sullivan, W. Baross, J.(Hg.): Planets and Life: The Emerging Science of Astrobiology. Cambridge University Press, 2007.

Catling, D.C. et al.: Biogenic Methane, Hydrogen Escape, and the Irreversible Oxidation of Early Earth. In: Science 293, S. 839, 2001.

Vidal-Madjar, A. et al.: An Extended Upper Atmosphere around the Extrasolar Planet HD 209458b. In: Nature 422, S. 143, 13. März 2003.

Zahnle, K.J.: Origins of Atmospheres. In: Woodward, C.et al. (Hg.): Origins. Astronomical Society of the Pacific Conference Series 148, S. 364, 1998.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/1015399.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Der Verlust mancher Gase und insbesondere von Wasserstoff hat unseren Planeten verändert. Er zählt möglicherweise sogar zu den Gründen dafür, dass sich überhaupt Sauerstoff in der Atmosphäre anreichern konnte. In einigen Milliarden Jahren aber werden die Ozeane austrocknen und Leben wird allenfalls in den Polarregionen überdauern.

Bildunterschrift 2-4:
Thermische Verluste: Entweichen aus dem planetarischen Teekessel
Eine Hauptursache für atmosphärische Verluste besteht in der Erwärmung von Gasmolekülen durch die Sonnenstrahlung. Dann kann es infolge zweier unterschiedlicher Mechanismen zum Entweichen der Luft kommen.

Bildunterschrift 5:
Auffälliger Zusammenhang: Himmelskörper, die keine Atmosphäre (mehr) besitzen, sind eher starker Erwärmung ausgesetzt, üben aber nur schwache Gravitation aus (links der Diagonale). Bei Welten mit Atmosphären verhält sich dies umgekehrt (rechts der Diagonale).

Bildunterschrift 6:
Entweichende Wasserstoffatome erscheinen auf diesem im Ultravioletten aufgenommenen Bild der Nachtseite der Erde als rotes Glühen rund um den Planeten. Aufgenommen wurde das Foto im Jahr 1982 vom NASA-Satelliten Dynamic Explorer I. Für den Streifen um den Nordpol und die schwach leuchtenden Strukturen in quatornähe sind Sauerstoff und Stickstoff verantwortlich.

Bildunterschrift 7:
Leichte Gase wie Wasserstoff sind weniger stark an einen Himmelskörper gebunden als schwere wie Kohlendioxid. Ihre Anfälligkeit für den Jeans-Verlust hängt von der Temperatur (vertikale Achse) am äußeren Rand der Atmosphäre beziehungsweise an der Oberfläche atmosphäreloser Körper sowie der Stärke der Schwerkraft (horizontale Achse) ab. Himmelskörper rechts der Linie für ein bestimmtes Gas können dieses an sich binden. Liegen sie links der Linie, verlieren sie es. Mars etwa verliert Wasserstoff und Helium, außerdem viel Wasser, behält aber Sauerstoff und Kohlendioxid.

Bildunterschriften 8, 9, 10:
Nichtthermische Verluste: Moleküle verschwinden durch Schlupflöcher
Auch elektrisch geladene Teilchen verlassen die Atmosphäre in Richtung Weltall. Elektrische Felder können solche Ionen nämlich auf Entweichgeschwindigkeit beschleunigen. Zwar hält das Magnetfeld des Planeten die meisten von ihnen gefangen, doch auf unterschiedlichen Wegen entkommen manche dennoch.

Auf Elektronenfang
Stößt ein schnelles Ion mit einem neutralen Atom zusammen, kann es von diesem ein Elektron übernehmen. Dann ist es elektrisch neutral und kann dem Magnetfeld entkommen.

Auf der Feldlinie ins All
Manche Feldlinien in hohen Breiten krümmen sich nicht zum Planeten zurück, sondern verbinden sich mit interplanetarischen Feldlinien. Ionen können durch die entstehenden Öffnungen im Magnetfeld entweichen.

Zerstäubt und entkommen
Besitzt ein Planet kein eigenes Magnetfeld, ist er dem Sonnenwind ungeschützt ausgesetzt. Dann kommt es zum so genannten Sputtering (Zerstäuben): Die Magnetfelder des Sonnenwinds können Ionen in den interplanetaren Raum reißen.

Bildunterschriften 11, 12:
Impakt: Die Atmosphäre wird hinausgeschleudert
Durch auftreffende Himmelskörper gehen auf einen Schlag große Atmosphärenanteile verloren.

Die Erosion einer Atmosphäre infolge von Einschlägen fällt umso stärker aus, je schwächer die Schwerkraft (horizontale Achse) und je höher die Geschwindigkeit (vertikale Achse) des einschlagenden Asteroiden oder Kometen ist. Körper ohne Atmosphäre liegen eher links oben im Diagramm, hier ist die Erosion am stärksten. (Die Geschwindigkeiten im grün unterlegten Bereich treten nicht auf, denn die jeweilige Stärke der Schwerkraft sorgt für eine Mindestgeschwindigkeit einschlagender Himmelskörper.)

Bildunterschrift 13:
WELCHER PLANET VERLIERT WELCHE GASE?
Die Wirksamkeit der unterschiedlichen Prozesse, die zu Gasverlusten in Planetenatmosphären führen, ist von verschiedenen Faktoren abhängig.


© 2010 David C. Catling und Kevin J. Zahnle, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 1/10 - Januar 2010, Seite 24 - 31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2010