Schattenblick → INFOPOOL → MUSIK → REPORT


INTERVIEW/057: Mediengeburt Spam! - reflektiert bis kritisch ...    Wolf Kampmann im Gespräch (SB)


Berliner hfpk bringt Musikzeitschrift Spam! auf den Markt

Interview mit Wolf Kampmann am 31. Mai 2016 in Berlin


Daß die populäre Musik für den Menschen auch im 21. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielt, läßt sich leicht an der weltweiten Bestürzung ablesen, die in den letzten Monaten der Tod von David Bowie an einer Krebserkrankung und Prince durch eine Medikamentenvergiftung ausgelöst hat. Mit Wichtigkeit sind weniger die obligatorischen Nachrufe der internationalen Medienanstalten gemeint als vielmehr die mannigfaltigen Postings in den sozialen Medien, mit denen unzählige Menschen verschiedenster Herkünfte demonstrierten, wie sehr das Werk der beiden Giganten der westlichen Popmusik sie in ihrem Leben - sei es in den eigenen vier Wänden oder im gefüllten Konzertsaal - berührt und begleitet hat.

Die Musikindustrie hat in den letzten Jahren infolge der Digitalisierung massive Veränderungen vollzogen. CDs und Musikkassetten gibt es praktisch nicht mehr. Gekauft werden Musikdateien per Download. (Nach dem Motto Totgesagte leben länger, sind Vinyl-Platten wieder auf dem Vormarsch - in erster Linie wegen der Hörqualität und in zweiter wegen der schönen, haptisch erfaßbaren Cover Art). Konsumiert wird Musik zunehmend mittels Streaming-Diensten wie Spotify und Tidal, auch wenn deren Betreiber, Musikverlage und Künstler heftig über die Aufteilung der Einnahmen streiten. Über Apps wie TuneIn kann man sich auf seinem Smartphone oder Tablet jeden Radiosender auf der Welt anhören. Dank Podcasts und YouTube kann jeder Archivmaterial in unvorstellbaren Mengen durchforsten und sich seine Vorlieben reinziehen. Nach wie vor erfreuen sich Konzerte und Musikfeste wie Coachella in den USA, Rock am Ring in Deutschland, Glastonbury in Großbritannien und Roskilde in Dänemark großer Beliebtheit. Tourneen, einst ein Verlustgeschäft, das in erster Linie den Plattenverkauf stimulieren sollte, sind heute für viele Profimusiker zur wichtigsten Verdienstquelle geworden.

An der Pop-Musik kommt niemand vorbei, wie der Auftritt der Schlagersängerin und Allround-Entertainerin Helene Fischer beim Siegesempfang für die aus Brasilien heimkehrenden DFB-Weltmeister am Brandenburger Tor zu Berlin im Sommer 2014 oder das Konzert von DJ-Größe David Guetta vor dem Pariser Eiffelturm am Vorabend der diesjährigen Fußballeuropameisterschaft in Frankreich zeigen. Doch im Zeitalter von Casting Shows und Imitatoren wie Bruno Mars, Mark Ronson und Pharrel Williams, die den Back Catalogue der Disco- und Funk-Ära für immer neue Hits ausschlachten, stellt sich die Frage nach der Relevanz der aktuellen Musik. Eher gesellschaftstragend als -fragend erscheint das, was die meisten Musiker von heute aufzubieten haben. Den besten Beleg für diese These lieferte im vergangenen Januar Beyoncé mit einer Halbzeit-Show beim diesjährigen Super Bowl, mit der sich die derzeit erfolgreichste Soul-Interpretin und ihre Tanztruppe mit Schwarzem-Leder-Look und geballten Fäusten die Symbolik der Black-Power-Bewegung à la Panthers und Malcolm X aneigneten und sie quasi "as American as cherry pie" machten.

Auch wenn Neil Young gegen Monsanto zu Felde zieht, Steve Earle den US-Militarismus kritisiert und sich Iggy Pop auf den Bühnen dieser Welt mit jeder Sehne weiterhin Weltschmerz und körperlichem Verfall widersetzt, hat man manchmal den Eindruck, daß vieles der Musik von heute nichts weiter als eine Klangtapete ist, die lediglich Vorgaben des unsäglichen Format-Radios erfüllt. Doch war es jemals anders? Blicken wir zurück, als die Popmusik Bestandteil der sogenannten "Gegenkultur" war. Brian Epstein hat die Beatles in Anzüge gesteckt, damit sie die Herzen der Teenie-Mädchen eroberten, was John Lennon nach eigenen Angaben als "Ausverkauf" empfand. Kit Lambert hat zum Zwecke der Vermarktung The Who zu Mods gemacht. Ohne die Entdeckung durch den Meisterproduzenten John Hammond von Columbia Records hätte vielleicht nur eine kleine Folk-Gemeinde im New Yorker East Village jemals etwas von Bob Dylan gehört. Und selbst der kurze, aber heftige Aufstieg und Fall der Punk-Ikonen Sex Pistols wäre ohne deren Svengali Malcom McClaren nicht denkbar.

Heute ist der Musikmarkt stark fragmentiert und die Szene in unzählige Genres und Subgenres aufgesplittet wie Ambient, Bluegrass, Indie-Rock, Triphop, Shoegaze und Techno, um nur einige zu nennen. Für den Musikinteressierten ist es schwieriger geworden, sich einen Überblick zu verschaffen. Da böten Musikzeitschriften Hilfe, wären deren Formate nicht so ausgelutscht: immer dieselben Plattenbewertungen und Konzertberichte, deren Autoren tunlichst vermeiden, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen, indem sie durch allzu deutliche Kritik die Musikverlage vergrätzen. Im deutschsprachigen Raum will nun eine Gruppe von Dozenten und Studierenden an der Berliner Hochschule für populäre Kunst (hdpk), die bereits seit 2015 den eigenen Campus-Sender Horst.fm betreibt, einen neuen Weg einschlagen. Am 15. Juni geht sie mit der Musikzeitschrift Spam! online. Das "innovative Online-Magazin", das zunächst einmal im Monat und später wöchentlich erscheint, soll nach Angaben seiner Macher "das reine Musikalische mit dem Gesellschaftlichen und Sozialen verbinden". Die Autoren wollen sich weniger um Neuerscheinungen kümmern, als vielmehr der "Musik als Soundtrack zum Leben und identitätstiftendes Instrument der Sozialisation" widmen.

Am 31. Mai luden die Verantwortlichen von der hdpk zur Pressekonferenz ein, um Spam! vorzustellen und das dahinterliegende Konzept einer laufenden Zusammenarbeit zwischen erfahrenen Musikjournalisten und Hochschulstudenten zu erläutern. Im Anschluß sprach der Schattenblick mit dem "Kopf" des Projekts, Wolf Kampmann. Der heutige Lehrbeauftragte für Popgeschichte und Journalismus an der hfpk und für Jazzgeschichte am Jazz-Institut Berlin kennt sich im Spannungsfeld zwischen Plattenindustrie und Musikjournalismus bestens aus. Er hat nicht nur für Fachpublikationen wie Musikexpress, Visions und Jazzthing sowie reguläre Zeitungen wie die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine geschrieben, sondern zeichnet sich zudem als Mitherausgeber sowohl von Rowohlts Rock-Lexikon als auch Reclams Jazz-Lexikon aus.


Die Macher von Spam! stellen sich der Öffentlichkeit - Foto: © 2016 by Schattenblick

Pressekonferenz an der hfpk mit Matthias Welker, Christoph Eiwen, Ulrike Rechel, Wolf Kampmann und Ricarda Wallhäuser (von links nach rechts)
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick: Herr Kampmann, wie soll sich Spam! im wesentlichen von den anderen Musikzeitschriften, die bereits auf dem Markt sind, unterscheiden?

Wolf Kampmann: Der größte Unterschied wird darin bestehen, daß wir nicht von der Musikindustrie abhängig sind. Wir werden keine Anzeigen von Plattenfirmen oder dergleichen schalten. Insofern wird die Musikindustrie keinerlei Zugriff auf das, was wir schreiben, haben. Wir werden beispielsweise natürlich auch immer dabei sein, wenn es irgendwelche Interviews mit Künstlern gibt. Aber wir werden nicht mit den anderen in den Wettstreit treten und versuchen, immer alles so schnell wie möglich zu präsentieren, sondern unsere Inhalte dann vorlegen, wenn wir das für wichtig halten. Das heißt, bei uns geht es nicht um die Aktualität der Themen. Sie ist uns völlig unwichtig, denn uns geht es immer um die Relevanz der Themen. Ein Thema kann auch relevant sein, wenn es 15 Jahre alt ist. Zum Beispiel werden wir uns in der zweiten Ausgabe von Spam! mit 9/11, das 15 Jahre zurückliegt, beschäftigen. Darin wird auch ein Interview zu diesem Thema mit Johnny Cash, der schon länger tot ist, zu lesen sein.

SB: Meinen Sie die Veröffentlichung eines Interviews, das die Country- und Rockabilly-Legende vor ihrem Ableben gegeben hat, oder ein surrealistisches Gespräch mit Johnny Cash aus dem Jenseits?

WK: Es handelt sich um ein Interview, das er tatsächlich gegeben hat.

SB: Zum Thema 9/11?

WK: Unter anderem, ja. Über seine Befindlichkeit, sein Verhältnis zu Amerika nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September.

SB: Werden die musikalischen Auswirkungen von 9/11 wie die Homage von den Beasty Boys an ihre verletzte Heimatstadt New York, "To the Five Boroughs", auch mitangeschnitten?

WK: Wir haben uns noch nicht richtig mit der Planung dieses Themas befaßt, schließlich müssen wir zunächst einmal die erste Ausgabe fertigstellen. Wenn es aber soweit ist, werden solche Fragen sicherlich eine Rolle spielen - aber nicht nur sie. Es geht auch darum, wie sich unsere Alltagskultur, unser Sprachgebrauch durch dieses welthistorische Ereignis und seine Folgen verändert hat. Da ist unter anderem die Frage der political correctness: wie hat 9/11 unseren Umgang mit der Musik verändert? Der Titel "Die Perfekte Welle" von der Gruppe Juli, die im Juni 2004 erschien, wurde nach der verheerenden Tsunami-Katastrophe am Indischen Ozean im Dezember desselben Jahres von den Radiosendern in Deutschland erst einmal aus der Rotation genommen. So etwas wäre vor 9/11 meines Erachtens nicht möglich gewesen.

SB: Nun, während des Golfkrieges im Frühjahr 1991 sah sich das britische Triphop-Trio Massive Attack gezwungen, eine Zeitlang unter dem Namen Massive zu firmieren, um die Single-Auskopplung "Unfinished Symphony" aus seinem Debüt-Album "Blue Lines" bei der BBC gespielt zu bekommen.


Kampmann und SB-Redakteur sitzen einander auf einem schwarzen Sofa gegenüber - Foto: © 2016 by Schattenblick

Wolf Kampmann und SB-Redakteur
Foto: © 2016 by Schattenblick

WK: Ich will nicht behaupten, daß erst am 11. September 2001 die Schere im Kopf eingesetzt hat, aber von diesem Datum an gab es auf einmal eine völlig neue Art des vorauseilendem Anstands, der durch 9/11 besonders getriggert wurde. Die Anlagen dazu waren natürlich schon vorher dagewesen. Der 9/11 bietet Anlaß, über all diese Dinge nachzudenken. Welche Auswirkungen haben die Anschläge auf die Musikkultur und wiederum in der Umsetzung, in der Verarbeitung auf die Alltagskultur gehabt? Diese Frage möchte ich aus so vielen Richtungen wie möglich angehen. So gesehen hat man es bei 9/11 mit einem Thema zu tun, das nur sehr bedingt aktuelle Veröffentlichungen tangiert. Gleichwohl dürfte man bei genauerem Hinsehen seine langfristige Auswirkungen auf Musik- und Alltagskultur sicherlich feststellen. Es geht also immer darum, wie man mittels verschiedenster Perspektiven ein gewichtiges Thema beleuchten kann.

SB: Also wird jede Ausgabe von Spam! ganz im Zeichen eines spezifischen Themas stehen?

WK: Ganz genau. Wir haben andere Ausgaben zu Themen wie Liebe in den Zeiten der Social Media oder Altern und Sterben in der Popkultur vor. Wir werden stets unsere Schwerpunkte mit gesellschaftlichen Themen setzen. Also machen wir uns komplett von diesem permanenten Hinterherrennen bei den Neuveröffentlichungen frei. Aus meiner musikjournalistischen Praxis kenne ich einen bestimmten Satz, der in Gesprächen mit Redakteuren immer wieder auftaucht: "Das Thema ist durch". Diesen Satz wird es bei uns niemals geben. Bei uns wird kein Thema jemals "durch" sein. Das kann nicht passieren, weil wir Musik anders betrachten und weil wir fest davon überzeugt sind, daß Musik auch anders gehört wird, als man sich das üblicherweise vorstellt. Niemand hört nur Neuveröffentlichungen.

SB: Leitet sich der Wunsch, sich nicht allzu sehr an Neuerscheinungen zu orientieren, auch davon ab, daß diese nicht mehr wichtig sind? Als ich vor mehr als vierzig Jahren anfing, mich für Musik zu interessieren, waren die Charts das absolute A und O. Ich erinnere mich an die große Zeit des Glam Rocks. 1972 und 1973 hatte David Bowie mit Songs wie "Starman", "The Jean Jeanie" und "Rebel Rebel" einen Chart-Hit nach dem anderen, und die ganze Jugend in Großbritannien und Irland sehnte sich danach, das jeweils neueste Lied von Bowie, T-Rex und Roxy Music zu hören und deren Auftritt bzw. Videos bei der Fernsehsendung Top of the Pops mitzuerleben. Im Vergleich zu damals scheinen die Charts nicht mehr dieselbe Bedeutung zu haben. Schließen Sie sich also einfach einem Trend an, der sowieso vorhanden ist? Haben die Charts insgesamt an Relevanz verloren?

WK: Das kann ich und will ich auch gar nicht beurteilen. Viele Menschen müssen den Charts nach wie vor eine große Bedeutung beimessen, ansonsten würde es sie nicht mehr geben, denke ich. Allein, daß die Charts durch Verkäufe, Medieneinsätze und dergleichen öffentlich präsent sind, zeugt von einer gewissen Relevanz. Die Musiklandschaft als solche hat sich komplett verändert. Wenn wir an die 1970er Jahre zurückdenken, gab es damals den Mainstream, der durch die Charts repräsentiert wurde, und den Underground, der sich außerhalb von Verkaufszahlen und Playlisten im Radio abspielte. Heute haben wir zahlreiche unterschiedliche Musikströme. Jede Nischenkultur hat ihren eigenen Mainstream und ihren eigenen Underground, und insofern wäre es illusorisch, flächendeckend jede einzelne Neuerscheinung berücksichtigen zu wollen. Wir werden zwar Reviews machen, aber da soll es nicht nur um Neuerscheinungen gehen, sondern auch Rückblicke auf wichtige Platten geben, die in der Musikgeschichte Zeichen gesetzt haben.

SB: Habe ich Sie richtig verstanden, daß irgendwann Besprechungen von Neuerscheinungen auf der Webseite von Spam! zu lesen sein werden, die außerhalb der regulären Ausgabe der Zeitschrift erscheinen?

WK: Stimmt. Solche Reviews werden wesentlich schneller auftauchen. Unser langfristiges Ziel ist es, die Zeitschrift wöchentlich herauszubringen. Aber das können wir jetzt am Anfang noch nicht leisten. Dazu müssen wir unser Budget aufstocken und den Mitarbeiterkreis erweitern.

SB: Also fangen Sie zunächst mit einer Ausgabe pro Monat an, um später auf eine pro Woche zu kommen?

WK. Ganz genau. Was wir definitiv nicht machen werden, ist, bei Konzerten und Neuerscheinungen irgendwelche Pünktchen- oder Sternewertungen zu vergeben. Wer also die Meinung eines Kritikers oder einer Kritikerin haben will, wird die Review lesen müssen und dabei auf Punkte oder Sterne verzichten müssen. Das Fatale an solchen Bewertungssystemen ist, daß die Vergabe der Sterne inflationär gehandhabt wird. Bei den meisten Magazinen, wo es eine Skala von eins bis zehn gibt, werden bei fast allen neuen Platten meistens nur noch zwischen acht und zehn Punkte vergeben aus Angst, sonst Ärger mit der Plattenfirma zu bekommen. Davon wollen wir komplett weg, und deshalb wird es bei uns kein Ranking bei den Reviews geben.

SB: In einem Beitrag im Guardian Ende Mai machte Alex Petridis auf den Umstand aufmerksam, daß seit einiger Zeit in Großbritannien die Musikverlage den Rezensenten die Neuerscheinungen nicht vorab zukommen lassen. Ist das in Deutschland auch bereits der Fall?

WK: Nein. Das kann ich nicht bestätigen.

SB: Der Chefmusikkritiker des Londoner Guardian berichtete auch, daß der Druck für den einzelnen Rezensenten erheblich gestiegen sei, weil man weniger Zeit hat, sich mit der Neuerscheinung auseinanderzusetzen, bevor man seine Review veröffentlicht. Das Phänomen kennen Sie also noch nicht?

WK: Überhaupt nicht. Aber da ich sowieso eine Platte einmal höre und dann darüber schreibe, wäre es mir ziemlich egal, ob ich sie sechs Wochen vorher oder am Tag des Erscheinens in die Hände bekomme. Der Druck, der aber ganz stark auf die Musikkritiker ausgeübt wird, ist ein moralischer. Seitens der Industrie wird einem quasi angedroht, daß man beispielsweise nicht mehr bemustert wird, wenn man Sachen verreißt, oder daß eben die Zeitschrift mit Anzeigensperren bedroht wird und dergleichen mehr. Diesem Druck werden wir uns komplett entziehen.

SB: Sie würden es sich zumuten, eine Platte nach einmaligem Hören besprechen zu können?

WK: Ja, jederzeit.

SB: Meinen Sie nicht, daß man sich Platten, wie sie in der Vergangenheit beispielsweise von Miles Davis oder John Coltrane erschienen sind, ein paarmal anhören muß, bevor man etwas zu Papier bringt?

WK: Bei solchen Werken, wie zum Beispiel "Machine Head" von Deep Purple oder "Exile on Main Street" von den Rolling Stones oder "A Love Supreme" von John Coltrane, kann man nicht einfach nur die Musik, sondern muß den ganzen historischen Kontext und einschließlich der Wirkungsgeschichte einer solchen Veröffentlichung besprechen.

SB: Wenn es sich aber um eine aktuelle Platte von ähnlicher Bedeutung handelt, kann man sich nicht unbedingt nach einmaligem Hören gleich ein Urteil bilden, oder doch?

WK: Ich bin ein großer Freund des unmittelbaren Eindrucks, weil er der unkorrumpierteste ist. Bei der neuen Radiohead-Platte "A Moon Shaped Pool" war mir zum Beispiel sofort klar, daß es sich um ein ausgezeichnetes Werk handelt. Da brauchte ich nicht lange reinzuhören. Die Größe dieser Platte sprang mir entgegen, und dazu stehe ich auch. Wir nehmen nicht in Anspruch, die Wahrheit zu verkünden. Wir geben lediglich Einblicke und machen Gesprächsangebote. Insofern kann es auch durchaus sein, daß einer unserer Rezensenten der einzige auf der ganzen Welt ist, der die Platte so bespricht, wie er es tut. Ich will da auch keinem irgendwelche Vorgaben machen. Wenn einer unserer Rezensenten sagt, er oder sie muß eine CD zehnmal hören, um sie besprechen zu können, dann ist das in Ordnung; dann soll er sie zehnmal hören. Ich selber habe aber kein Problem damit, wenn jemand eine Platte einmal hört und sagt: "Ich kann mich auf diesen Eindruck verlassen; das ist meine Aussage."


Interviewszene - SB-Redakteur stellt eine Frage - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Haben Sie die Erwartung, in Spam! die verschiedensten musikalischen Stilrichtungen decken zu können? Wenn ich mich als Leser besonders für Industrial oder Reggae oder Volksmusik interessiere, werde ich dann bei Ihnen auch fündig?

WK: Wie ich vorhin auf der Pressekonferenz aufgezählt hatte, werden wir verschiedene Leute aus dem deutschen Musikjournalismus sozusagen mit im Beraterteam haben, die dafür sorgen, daß solche Genres vorkommen. Wie die jeweils behandelt werden, weiß ich noch nicht. Jedenfalls werden wir nicht einen Latin-Blog, einen Deep-House-Blog oder einen Death-Metal-Blog oder so was haben. Wir wollen weg von diesen Begrifflichkeiten, die zum größten Teil merkantilen Ursprungs sind, sondern statt dessen das Ohr lesen lassen.

SB: Wenngleich es sein könnte, daß bestimmte Journalisten ihre Schwerpunkte haben, und man sich darauf verlassen kann, daß sie den einen oder anderen Bereich abdecken?

WK. Ganz genau. Das ist mir wichtig. Mir ist aber der völlig unverstellte Blick der Studenten, die eben nicht wie ich 40 Jahre Erfahrung im Musikhören haben, sondern die nur ganz wenig kennen, ebenfalls wichtig. Die kann ich mit Musik konfrontieren und sie zu besprechen bitten, mit der sie bis dahin vielleicht nichts anfangen konnten. Ich möchte sehen, was passiert, wenn ich zum Beispiel einen Studenten, der normalerweise nur Speed Metal hört, auf einmal eine Dubstep-Platte rezensieren lasse. Ich möchte die Leute aus ihren Käfigen rausholen und Musik wirklich nicht nach ihrer Genrerelevanz, sondern nach ihrer allgemeinen kulturellen Relevanz hinterfragen bzw. hinterfragen lassen.

SB: Ihr Kollege Matthias Welker hat vorhin auf der Pressekonferenz durchklingen lassen, daß das Projekt Spam! wie auch die Art und Weise, in der hier an der Berliner Hochschule für populäre Kunst der Journalismus gelehrt wird, in gewissem Sinne eine Reaktion auf das Versagen des Volontariatssystems sind. Können Sie uns das vielleicht etwas näher erläutern?

WK: Das ist nicht mein Ansatz.

SB: Haben Sie vielleicht eine Idee, wie er das gemeint haben könnte?

WK: Ich kann nicht für Matthias sprechen. Das sind Erfahrungen, die er gemacht hat und die in die Art und Weise, wie Musikjournalismus hier an der Hochschule vermittelt wird, einfließen. Aber der didaktische Ansatz ist nur einer von vielen Ansätzen, die wir haben. Für mich persönlich stehen Inhalte und nicht der didaktische Ansatz im Vordergrund. Ich suche mir die Leute für die Arbeit aus, von denen ich das Gefühl habe, daß ich mit ihnen gemeinsam eine inhaltliche Plattform finde, die wir irgendwie zusammen vermitteln können. Das heißt nicht, daß die Leute meiner Meinung sein müssen. Um Gottes willen, das reicht, daß ich meine Meinung habe, denn wir wollen eine große Meinungsvielfalt. Was mir aber wichtig ist, daß es einen ähnlichen Ansatz gibt, was das Herangehen betrifft. Da wir selber nicht mit Volontären zusammenarbeiten, werden wir einen anderen Ansatz als diesen Volontariatsansatz finden müssen. Allerdings machen wir das eben auch mit Studenten, und das ist sicherlich vergleichbar, da wir einerseits erfahrene Journalisten haben und andererseits Nachwuchsleute, die wir ranziehen und so in die journalistische Arbeit einbinden. Da wir keine Zeitschrift sind, die in üblichem Sinne arbeitet, spielen für uns die klassischen Aufstiegsvarianten, die über den Volontarismus bei etablierten Magazinen stattfinden, keine Rolle.

SB: Wenn ich an die Zeit vor etwa 30 Jahre zurückdenke, scheint die Musik damals gesellschaftskritischer als heute gewesen zu sein. Bekommt die Musik in der heutigen Ära der großen Umwälzungen ihre Relevanz zurück oder ist sie einfach zu einem Wegwerfprodukt verkommen nach dem Motto: "Wir wollen uns einfach an den neuen Kostümen von Lady Gaga ergötzen, und was sonst auf der Welt passiert, kann uns egal sein"?

WK: Ich glaube weder noch. Lustigerweise sagte der Rektor der hfpk, Ulrich Wünsch, vor der Pressekonferenz zu mir: "Schön, daß es die Zukunft gibt". Und da habe ich zurückgefragt: "Gibt es die Zukunft?" Ich kann nicht sagen, wie sich die Musik weiter entwickeln wird. Ich kann sehen, wie sich die Musik bis heute entwickelt hat, und morgen werde ich sehen, wie sich die Musik bis morgen entwickelt hat und so weiter. Ich komme aber nicht umhin festzustellen, daß das Konzert der Ablenkungen und der Fluchtmöglichkeiten aus dem Arbeitsalltag wesentlich größer als in den 1970er Jahren ist. In Deutschland ist 2016 der Sport gesellschaftlich viel wichtiger, als das vor vierzig Jahren der Fall gewesen ist. In den 1970ern gab es fast nur den Fußball, und wer nicht fußballbegeistert war, hat sich praktisch nicht für den Sport interessiert. Mittlerweile spielen Volleyball, Tennis, Formel 1 und andere Sportarten jeweils eine nicht unbedeutende Rolle. Hinzu kommen die Bereiche Comics und Videospiele, die unter Jugendlichen sehr beliebt sind und in den 1970er Jahren völlig unterentwickelt waren beziehungsweise gar nicht existierten. Für uns ist es deshalb auch wichtig, die Musik immer im Konzert aller gesellschaftlichen Komponenten zu betrachten und die gegenseitige Beeinflussung zu analysieren. Wenn wir das tun, müssen wir uns gar nicht davor scheuen festzustellen, daß der Platz der Musik im Bewußtseinsspektrum des einzelnen vielleicht nicht mehr so groß ist, wie das noch in den 1970er Jahren der Fall gewesen ist.

SB: Wenn Sie im Abstrakten bzw. theoretisch über die Wirkung von Musik und ihre gesellschaftliche Relevanz schreiben - wie wollen Sie es vermeiden, auf ardornistische oder poststrukturalistische Tangenten abzudriften und dabei vielleicht Leser zu verlieren, die eines solchen Vokabulars nicht mächtig sind und dem nicht folgen können? Oder sehen Sie diese Gefahr nicht?


Interwiewszene - Wolf Kampmann geht auf eine Frage ein - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

WK: Da die Redaktion von Spam! aus mehreren Personen mit ganz unterschiedlicher Betrachtungsweisen besteht, sehe ich diese Gefahr momentan nicht. Als Dozent hier an der Hochschule werde ich niemals in der Lage sein, bei einer Vorlesung jeden Studenten mitzunehmen. Wenn ich eine Rede halte oder eine Radiosendung mache, wird es mir niemals gelingen, jeden Hörer mitzunehmen. Wenn ich einen Artikel schreibe, egal für welches Magazin, werde ich niemals in der Lage sein, jeden Leser zu erreichen. Und so werden wir es bei Spam! auch nicht schaffen, und das sollte auch niemals unser Anspruch sein, jeden Leser mit jedem Artikel gleichermaßen zu beglücken. Es kann immer sein, daß der eine oder andere Leser bei irgend etwas aussteigt, weil ihm das zu hoch ist. Es kann aber auch immer sein, daß die Leser, die dann bei diesen Artikeln mitkommen, bei anderen wiederum aussteigen, weil ihnen das zu banal ist oder weil sie jetzt beispielsweise sagen: "Die inhaltliche Frage, warum ein Student kein Facebook benutzt, interessiert mich überhaupt gar nicht." Das ist ihr gutes Recht.

Wir können keinen Leser zwingen, alles von vorne bis hinten zu lesen; wollen wir auch nicht. Wir wollen ein vielfältiges Angebot machen, damit sich jeder Nutzer, jede Nutzerin das raussuchen kann, was ihn oder sie interessiert. Wir springen in ein Becken rein, von dem wir nicht wissen, wieviel beziehungsweise ob da überhaupt Wasser drin ist. Insofern kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, was wir vermeiden wollen und was wir nicht vermeiden wollen. Ich kann aber sagen, daß wir diese Zeitschrift machen und im Laufe der Arbeit sehen werden, wie es weitergehen soll. Wir werden immer neue Strategien darüber entwickeln, was wir machen und was wir vermeiden wollen. Es kann sein, daß etwas, das wir im Januar 2017 vermeiden wollen, im Juli 2018 ganz wichtig für uns werden könnte. Ich möchte versuchen, nicht in starren Kategorien zu denken, wonach bei uns das eine geht und das andere nicht. Derlei Fragen werden wir immer wieder neu ver- und aushandeln müssen.

SB: Würden Sie dem zustimmen, daß der Versuch, über Musik zu schreiben, eher die schreiberische Kreativität fördert als die Behandlung von Sachthemen?

WK: Ich glaube nicht, daß das mehr Kreativität verlangt als über irgend etwas anderes zu schreiben. Es kommt immer darauf an, eine gute Geschichte zu schreiben, egal was das Thema ist.

SB: Könnte es aber sein, daß man beim Schreiben über Musik mehr als bei anderen Themen auf die eigenen Gefühle und Empfindungen hören und sie in Worte fassen muß, oder ist das zu einfach gedacht?

WK: Ich weiß es nicht. Ich glaube, man kann jedes Thema mit einer emotionalen Ebene unterfüttern, so lange man einen journalistischen Ansatz hat. Wenn ich aber einen musiktheoretischen Artikel schreibe, der rein auf wissenschaftlicher Basis steht, dann kann ich die emotionale Ebene völlig draußen lassen. Das ist auch der Fall, wenn ich einen stomatologischen Artikel schreibe. Wenn ich aber zum Beispiel einen Artikel über Zahnlücken von den Leuten, die mir in der U-Bahn gegenübersitzen, schreibe, kann ich meine Emotionen in den Text miteinfließen lassen. Ich denke, das ist bei jedem Thema, dessen ich mich annehme, der Fall. Von daher will ich nicht sagen, daß man bei der Musik mehr Möglichkeiten über Dinge zu schreiben hat, als wenn man andere Bereiche behandelt, sondern es geht für mich lediglich darum, was wir mit Musik beschreiben können oder wofür Musik steht. Interessant ist zum Beispiel weniger die Frage, wo der Gitarrist der Gruppe My Dying Bride seine Gitarrensaiten gekauft hat und warum er lieber auf Stahl- als auf Nylonsaiten zurückgreift, als vielmehr, warum er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine bestimmte Art von Musik macht.

SB: Noch im April berichtete die Fachzeitschrift Muck Rack Daily, daß seit 15 Jahren in den USA die Zahl der Journalisten insgesamt rückläufig ist, während gleichzeitig die Zahl derjenigen, die für reine PR-Veröffentlichungen schreiben, dramatisch ansteigt. Die Abgänger von der Hochschule für populäre Kunst werden im Berufsleben mit diesem Trend zu tun bekommen. Bieten Sie mit Ihrem Projekt Spam! vielleicht ein kleines Refugium oder einen Raum, in dem man sich frei entfalten kann? Und täuschen Sie Ihren Studenten vielleicht etwas über die Wirklichkeit vor, die sie nach der Hochschule erwartet?

WK: Wir täuschen nichts vor, denn es ist für uns selber ein Refugium. Wir zeigen unseren Studenten, daß es geht. Die Journalisten, die hier ihr Studium absolvieren, werden hoffentlich auch weiterhin mit uns zusammenarbeiten. Das ist das Erfolgsmodell, das wir uns selber gesetzt haben. Insofern machen wir niemandem etwas vor. Aber es ist mehr als das: Wir wollen den Beweis erbringen, daß der Musikjournalismus qualitativ hochwertiger sein kann und daß er nicht immer nur eine Funktion in der Veröffentlichungsstrategie der Plattenfirmen sein muß. Im Grunde wollen wir zurück zu einer Erzählkultur.

SB: Aber Sie haben den Luxus einer Hochschule im Rücken, die Ihnen das ermöglicht, nicht wahr?

WK: Zweifellos, und wir sind uns auch sehr bewußt, daß wir eine absolute Luxussituation genießen. Wenn wir aber zeigen können, daß auf Grund unserer Nutzerzahlen ein Interesse daran besteht, solche Geschichten zu lesen, daß also ein gesellschaftlicher Bedarf an dieser Art von Auseinandersetzung mit Musik vorhanden ist, dann hoffe ich, daß wir langfristig Akzente setzen werden. Wir wollen beispielgebend sein, auch wenn wir natürlich nicht erwarten, im Juli ans Netz zu gehen und im August ist der Musikjournalismus in Deutschland bereits verändert. Schließlich hoffe ich, daß wir junge Musikjournalisten in die Umlaufbahn schicken werden, die von vornherein mit einem bestimmten Anspruch losgehen und sich nicht so leicht entmutigen lassen, wenn sie von der Plattenfirma zu hören bekommen: "Wegen der schlechten Kritik letzte Woche sind Sie aus unserer Bemusterungsliste gestrichen!"

SB: Herr Kampmann, ich bedanke mich sehr und wünsche Ihnen mit Spam! viel Erfolg.


Neoklassische Fassade der hfpk neben dem Heinrich-von-Kleist-Park - Foto: © 2016 by Schattenblick

Eingang der hfpk an der Potsdamerstraße in Berlin-Schöneberg
Foto: © 2016 by Schattenblick


14. Juni 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang