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INTERVIEW/011: Rolf Becker - Antifaschistischer Widerstand aus Lebenserfahrung (SB)


Interview mit Rolf Becker in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme am 2. Juni 2012



Rolf Becker ist nicht nur Schauspieler und als solcher dem breiteren Publikum durch zahlreiche Fernsehfilme und Kinoproduktionen wie Theaterauftritte bekannt. Der in Leipzig gebürtige Hamburger ist seit jeher politisch aktiv und vertritt dabei eine internationalistische Position, die sich nicht zuletzt aus der persönlichen Erfahrung einer Kindheit unter der NS-Diktatur und im Zweiten Weltkrieg speist. Bei zahlreichen Lesungen und Rezitationen setzt er sein berufliches Können dafür ein, die in der Hochzeit der europäischen Linken entstandenen Kulturleistungen weiterzugeben und so dafür zu sorgen, daß die künstlerischen Errungenschaften und politischen Ideale sozialistischer Kulturschaffender nicht in Vergessenheit geraten, so auch bei der Aufführung des von Mikis Theodorakis und Pablo Neruda geschaffenen Canto General in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Unmittelbar vor seinem Auftritt beantwortete Rolf Becker dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Rolf, du warst heute auf der großen Demo in Hamburg gegen den Aufmarsch der Nazis. Wie ist es dir dort ergangen?

Rolf Becker: Ich war erst auf dem Rathausmarkt und dann auf dem Gänsemarkt, wo die Abschlußkundgebung stattgefunden hat. Hinterher bin ich nach Wandsbek aufgebrochen, aber wir kamen nicht einmal in die Nähe des Wandsbeker Marktes. Ab Berliner Tor waren alle U- und S-Bahnen gesperrt. Die Leute konnten nicht einmal zum Flughafen gelangen. Wir sind dann mit dem Taxi zur Hammer Straße gefahren. Dort habe ich einen befreundeten Pastor getroffen und ihm gesagt, zeige doch einfach deinen Pastorenausweis und sage, daß du zu einem Kollegen in die Christuskirche willst. So kamen wir durch die Sperre. Die Polizisten haben sich darauf eingelassen. Einer hat uns sogar durch die verschiedenen Polizeisperren begleitet. So kamen wir zum Zentrum der ganzen Geschichte. Dort ist aber alles glimpflich verlaufen. Die Auseinandersetzungen sind wohl erst jetzt ausgebrochen. Die Polizei hat die Marschroute für die Nazis verlegt, und dort soll es jetzt Probleme gegeben haben.

SB: Wie stehst du dazu, daß eine Nazi-Demo in Hamburg erlaubt wird und die Blockupy-Proteste in Frankfurt verboten wurden?

RB: Ich hatte seinerzeit eine Auseinandersetzung mit dem damaligen Innensenator Wrocklage, der sogar zugestand, daß er es darauf hätte ankommen lassen und den Naziaufmarsch einfach verbieten sollen, um dann zu sehen, ob sie ihn des Innensenatorpostens entheben. Das Absetzen eines deutschen Innensenators würde weltweit Konsequenzen in einem Ausmaß haben, daß sie sich überlegen müßten, ob man nicht endgültig Schluß macht mit diesen Aufmärschen. Wenn man sich vorstellt, daß sie damals bei Kampnagel ungehindert durchgekommen sind mit Plakaten wie "Ruhm und Ehre der Waffen-SS", während wir durch die Polizeiketten abgehalten wurden, dann faßt man das einfach nicht. Wenn Linke etwas Vergleichbares machen würden, gäbe es Verhaftungen und schwerste Schlägereien.

SB: Die Nazis sind heute mit HVV-Bussen zu ihrer Auftaktkundgebung gefahren worden, während die Polizei die Straße abgesichert hat. Man kann sich ein entsprechendes Privileg für eine linke antikapitalistische Demo eigentlich nicht vorstellen.

RB: Man kommt auf den schlimmen Gedanken, daß sich die Zuständigen in der Politik vielleicht überlegen, daß sie diese Horden eines Tages noch brauchen könnten, um die Verhältnisse aufrechtzuerhalten, die ihr Kapital absichern.

SB: Wie würdest du die direkte Bedrohung, die von Nazis oder dem Neofaschismus in Deutschland ausgeht, im Verhältnis zu den realen Widersprüchen in einer kapitalistischen Gesellschaft und der immer autoritärer werdenden Staatsform beurteilen? Sie wollen ja programmatisch die Macht übernehmen. Gibt es deiner Ansicht nach reale Aussichten für sie, dieses Ziel zu erreichen?

RB: Diesen Horden wird man die Macht sowieso nicht übergeben, aber man wird sie benutzen. Ich glaube, es war sogar ein SPD-Politiker, der nach 1933 gesagt hat, das nächste Mal machen wir es selber. In welchem Umfang Zwangsmaßnahmen gegenüber der Bevölkerung notwendig werden, um den Besitz an Eigentumstiteln zu erhalten und durchzusetzen, ist schwer voraussehbar. Das müssen keine faschistischen, sondern können auch diktatorische Maßnahmen sein. Vielleicht reicht auch eine ausgehöhlte Demokratie aus, die den Namen eigentlich nicht mehr verdient. Es ist ein Prozeß, den wir ohnehin tagtäglich erleben, daß die Demokratie immer weiter eingeschränkt wird, um sie, wie gerne behauptet wird, zu erhalten. In diesem Widerspruch bewegen sich Politiker ja ohnehin. Irgendwann wird diese absurde Grenze erreicht.

Ob das dann eine faschistische Bewegung sein wird, bezweifle ich. Ich weiß auch nicht, ob die Bevölkerung dafür noch einmal zu gewinnen ist. Auch der Faschismus braucht, so verlogen er auch sein muß, aus seiner Sicht positive Ziele. Das waren 1933 Nationalismus, Antisemitismus, Antikommunismus und Neuland im Osten für ein Volk ohne Raum. All diese Titel ziehen nicht mehr. Der Antisemitismus tangiert nur den Randstreifen der Bevölkerung, der fast identisch ist mit diesem Pack, aber er wird nie wieder eine breite Zustimmung bekommen. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen. Da ist dann doch zu viel im Bewußtsein der breiteren Bevölkerung hängengeblieben. Nach Stalingrad werden sie nicht nochmal marschieren. Geschlagene Völker lernen gut.

Positive Ziele gibt es kaum. Die Nazis benutzen ja deshalb im Grunde immer nur die Negativ-Abgrenzung gegenüber dem Gewesenen, den sozialistischen Staaten, der DDR, vielleicht noch gegenüber dem Kommunismus, aber als reale Gefahr können sie ihn im Moment gar nicht ausmachen. Linksbewegungen von einer Kraft, die sie gefährden könnten, sind im Moment nicht in Sicht. In vielen Ländern sind sie völlig zerschlagen. Die einzige Gefahr besteht darin, daß, wenn die Verhältnisse zum Tanzen kommen, dies nicht mehr geordnet, sondern chaotisch geschieht.

SB: Heute abend wird hier in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme der Canto General von Mikis Theodorakis aufgeführt. Du engagierst dich für die Griechenland-Solidarität. Wie beurteilst du das Verhältnis der EU zu Griechenland, daß zum Beispiel eine Technokratenregierung eingesetzt und jetzt erheblicher Druck auch in Bezug auf die Wahlen ausgeübt wird, man praktisch damit droht, daß Griechenland möglicherweise den Euroraum oder gar die EU verlassen muß bzw. Gelder gestrichen werden, um so Einfluß auf ein mögliches Wahlergebnis zu nehmen?

RB: Die Einflußnahme dauert schon eine ganze Weile an. Es ist ja absurd, daß die gleiche Frau Merkel, die vor einem halben Jahr den damaligen Ministerpräsidenten Papandreou gezwungen hat, die Volksbefragung abzusagen - das Votum wäre eindeutig mit Nein beantwortet worden -, jetzt darauf drängt, eine Volksbefragung durchzuführen in der Erwartung, daß die Mehrzahl der griechischen Bevölkerung dafür votiert, in der EU zu bleiben und die Troika-Beschlüsse umzusetzen. Der Hintergedanke wird für mich am deutlichsten, wenn ich an die FAZ denke, die geschrieben hat, wir wollen hoffen, daß nicht Maßnahmen notwendig werden wie wenige hundert Kilometer weiter nördlich von Griechenland. Gemeint sind die KFOR im Kosovo und der Druck auf Serbien und die anderen ehemaligen jugoslawischen Staaten. Das heißt, man denkt darüber nach, notfalls gegen dieses relativ kleine Volk militärisch einzugreifen. Es gibt elf Millionen Griechen, davon leben über fünf Millionen in Athen. Wenn Athen unter Kontrolle gebracht ist und vielleicht noch Iraklion und Thessaloniki, dann ist die Sache gelaufen. Das ist der EU ebenfalls klar. Das wäre die eine Seite.

Andererseits ist es fraglich, ob sie Griechenland aus der EU herausdrängen werden wegen der Signalwirkung für die südlichen EU-Länder, abgesehen von der Provokation gegenüber den Griechen. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) versucht ihnen ja zuvorzukommen, indem sie 'raus aus dem Euro und der EU und zurück zur Drachme und Griechenland' fordert, in der meines Erachtens irrigen Meinung, die Verhältnisse dann auf nationaler Grundlage umwälzen zu können. Das ist jedenfalls meine persönliche Einschätzung aus vielen Diskussionen in Athen und auf Kreta. Der Haupttenor ist: Wir wissen, was uns droht. Wir haben euren Einmarsch im Zweiten Weltkrieg erlebt und danach die Niederschlagung der griechischen Revolution 1946 bis 1949 mit Hilfe der Amerikaner und Engländer. Wir sind nicht bereit, diese Erfahrung noch einmal zu machen oder für euch die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Wir sind solidarisch mit euch, aber weiter nicht.

Ich bin persönlich in Bezug auf SYRIZA sehr skeptisch, weil es dort einen ungeheuren Zulauf von enttäuschten Sozialdemokraten gibt. Das sind Leute, die jetzt hoffen, mit einer Partei weiter links wieder Verhältnisse herstellen zu können, wie sie vor zehn Jahren geherrscht haben. Das ist genauso illusorisch wie die Linke hier einmal geglaubt und es Oskar Lafontaine regelrecht gefordert hat, die soziale Bundesrepublik wiederherzustellen. Das ist ja gerade entscheidend durch die SPD aufgegeben worden, nachdem sie gemerkt hat, den Anspruch nicht verteidigen zu können, weil der Druck von der Kapitalseite zu groß wird. Dazu müßte sie die Bevölkerung mobilisieren, aber davor schreckt sie zurück, weil sie nicht weiß, wie sie die Kuh wieder vom Eis bekommt, wenn sie erst einmal drauf ist.

Ich denke, was wir im Moment konkret machen können, ist, Kontakte aufzubauen. Wir überlegen bei uns in Hamburg St. Georg gerade, eine Partnerschaft mit dem Stadtteil Omonia in Athen aufzubauen. Erste Gespräche hat es bereits gegeben. Das ist ein ähnlich belasteter Stadtteil wie es St. Georg lange Zeit war. Es gibt auch in Berlin eine Reihe von betrieblichen Kolleginnen und Kollegen, die mit Leuten aus den Stahlwerken und der Zeitung Eleftherotypia Kontakt aufgenommen haben und jetzt mit einer Delegation nach Griechenland fahren. Sie haben sogar den Vorschlag gemacht, arbeitslosen Jugendlichen aus Griechenland hier Wohnungen anzubieten, dann könnten sie bei uns stempeln gehen und etwas mehr Geld als dort erhalten. Das sind reale Schritte, die zu einer Völkerverständigung und Verbreitung auch des Gedankens führen, was den Griechen heute geschieht, kann sich morgen hier bei uns ereignen.

SB: Das Verhältnis der deutschen Linken zur KKE ist mitunter von starker Ablehnung geprägt. Das geht bis dahin, daß der Schriftzug der KKE auf dem berühmten Bild, das das Banner "Peoples of Europe, RISE UP" auf der Akropolis zeigt, wegretuschiert wird. Wie erklärt sich diese Abneigung deiner Ansicht nach?

RB: Die Mehrzahl der Linken bei uns denkt ideologisch und nicht konkret. Außerdem tut sich jetzt dieser große Konflikt auf, wer die Partei übernimmt, nachdem Lafontaine ausgestiegen ist. Sie führen parteiinterne Debatten um Bundestagssitze, um Führung und so weiter. Sie müssen das ganz Einfache und Konkrete machen. Weder die KKE noch SYRIZA, darum geht es nicht. Es geht um die Masse der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung, um die hungernden Kinder, die versorgt werden müssen, und um die riesige, ständig steigende Zahl der Obdachlosen in Griechenland. Wir nehmen konkrete Verbindung auf, wir treten dafür hier im Land ein und werben für Unterstützung. Wenn das Die Linke täte, wären in dem Moment viele ihrer Probleme erledigt.

Was nützt es, daß Die Linke Flugblätter verteilt, wenn hier ein Betrieb dichtgemacht wird? Das kann man vergessen. Nein, sich konkret in die Konflikte hineinzubegeben, Kontakt mit den Leuten aufzunehmen, meinetwegen mit einer Kaffeekanne zu ihnen gehen und mit ihnen reden, nicht um Parteiwerbung zu machen, sondern um sich zu verständigen, zuzuhören, das Ohr an die Basis zu kriegen und die Verknüpfung an der Basis weiterzutreiben, das würde von der Stelle führen, aber dazu gibt es im Augenblick wenig Bereitschaft. Da brauchen wir noch mehr Prügel (lacht).

SB: Du bist 77 Jahre alt und hast gestern auf der Hommage an Franz Josef Degenhardt im Polittbüro vorgetragen. Heute warst du auf der Demo gegen den Naziaufmarsch in Hamburg und bereitest dich jetzt auf die große Aufführung des Canto General vor. Was veranlaßt dich dazu, dich derart intensiv zu engagieren?

RB: Ich habe fünf Kinder, das fünfte ist adoptiert und jetzt zehn Jahre alt. Aus alledem, was ich selber in der Nazi-Zeit erlebt und teilweise erlitten habe - ich bin kein Verfolgter gewesen, mein Vater ist als aktiver Offizier in Rußland gefallen, aber man hat trotzdem viele schlimme Dinge in der Kriegszeit, aber auch in der Nachkriegszeit miterlebt. Daraus ist ein ganz einfacher Vorsatz entstanden: Du ersparst deinen Kindern, was du selber hast erleben müssen. Doch dann kommt der Treppenwitz der Geschichte: Es ziehen Verhältnisse auf, die einen befürchten lassen, daß sie noch schlimmer werden, als was man selbst erlebt hat. Mir geht es darum, zu verhindern, daß die Generationen, die nach uns kommen, das noch einmal in gesteigerter Form durchmachen müssen, was hier in Europa über 60 Millionen Menschen das Leben gekostet, Länder verwüstet und ein Leid über die Familien gebracht hat, von dem sich heute keiner mehr eine Vorstellung macht.

SB: Man kann manchmal auf politischen Veranstaltungen den Eindruck erhalten, als sei die ältere Generation paradoxerweise so etwas wie die Hoffnungsträgerin im Vergleich zu einer Jugend, die in vielen Dingen recht zögerlich erscheint.

RB: Bei den ganz Jungen, die sozusagen ideologisch noch nicht vorbeeinflußt sind, läßt sich wieder eine verblüffende Aufgeschlossenheit feststellen. Vor 14 Tagen habe ich in der Ida-Ehre-Schule vorgelesen. Hinterher haben die Kids in der Geschichte der Schule, die früher Jahn-Schule hieß, also eine mehr als rechts ausgerichtete Schule war, nach den Lebensläufen der Schüler aus dem Dritten Reich nachgeforscht. Dabei stießen sie auf eine große Anzahl jüdischer Biographien und sind den Spuren nachgegangen. Und das Ergebnis ist, daß sie jetzt Gedenksteine draußen für die setzen, die ermordet worden sind. Das ist eine sehr konkrete Geschichte, damit führt man Jugendliche ans Forschen und Fragen heran. Sie machen das selber, haben den Dachboden der Schule durchstöbert, das Material gesammelt und dann Kontakte mit Überlebenden aufgenommen. Dieser konkrete Prozeß fördert ein Bewußtsein, das keine ideologische Beeinflussung erreichen kann.

SB: Rolf, vielen Dank für das Gespräch.

Rolf Becker - Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

12. Juni 2012