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HINTERGRUND/178: Melodien für (drei) Millionen (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2012

Melodien für (drei) Millionen

Von Peter Brünger



"Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten", meinte einmal der österreichische Komponist Gustav Mahler. Was Sängerinnen und Sänger in Deutschland zur Mitgliedschaft in einem Chor motiviert und wie sie soziodemographisch zu charakterisieren sind, untersuchte eine Studie der KU.


Weit mehr als 1,5 Millionen Menschen sind Mitglied in einem Laienchor unter dem Dach des Deutschen Chorverbands. Etwa genau so groß wird noch die Zahl der Sängerinnen und Sänger in Chören geschätzt, die nicht in einem Verband organisiert sind. Soziologisch betrachtet sind diese Chormitglieder Teil eines sozialen Gebildes, denn sie stehen untereinander in vielerlei Beziehungen: Sie verfolgen ein gemeinsames musikalisches Ziel, kommunizieren und interagieren auf soziale und musikalische Weise miteinander, ordnen sich den musikalischen Vorstellungen einer Chorleiterin oder eines Chorleiters unter, erleben miteinander Anspannung und Erfolg bei Konzerten und verbringen nicht selten auch außerhalb der Chorzeiten einen weiteren Teil ihrer Freizeit mit gleich gesinnten Chormitgliedern.
Die hohe Zahl der Menschen, die ihre Freizeit Woche für Woche zumeist über viele Jahre dem Chorsingen widmen, gibt Anlass zu fragen, warum sich Chorsängerinnen und Chorsänger einem Chor anschließen und auf welche Weise sie vom Chorsingen persönlich profitieren? Diesen Fragen ist eine empirische Studie nachgegangen, die im Zeitraum zwischen Mai und August 2008 als Forschungskooperation zwischen der Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (Prof. Dr. Peter Brünger) und dem Institut für Musik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Prof. Dr. Gunter Kreutz) durchgeführt wurde.

Zentrale Fragestellungen der Untersuchung waren: Wer sind Chorsänger? Wie sind sie soziodemographisch zu charakterisieren? Welche musikalischen Hintergründe und Erfahrungen kennzeichnen Chormitglieder? In welcher Weise sind sie musikalisch sozialisiert? Welche Formen von Chören prägen gemeinschaftliche Gesangsangebote? Im Folgenden werden einzelne Teilergebnisse der umfangreichen Studie dargestellt. Zentrales Erhebungsinstrument der Untersuchung war ein standardisierter Fragebogen mit überwiegend geschlossenen Items, der aber zusätzlich zu verschiedenen Inhaltsbereichen qualitative Antwortmöglichkeiten bot. Die Gesamtstichprobe von insgesamt 3145 Befragten gliederte sich in eine Online-Befragung, die von 2668 Chorsängern (84,8%) genutzt wurde, und eine Untersuchung mit Papier-Fragebögen, an der sich 477 Sängerinnen und Sänger (15,2%) unterschiedlicher Chöre aus ganz Deutschland beteiligten.

Das mittlere Alter liegt bei beiden Geschlechtern bei 43 Jahren. Die Bildungsabschlüsse der Chorsängerinnen und Chorsänger zeigen ein von der Gesamtbevölkerung eklatant abweichendes Profil. Auffällig ist der unerwartet geringe Anteil von Hauptschülern sowie der hohe Anteil an Chorsängern mit höheren Bildungsabschlüssen. Dieser vergleichsweise hohe Bildungsgrad der Befragten spiegelt sich auch in der beruflichen Stellung der Chorsänger wider. Insgesamt 82% der Befragten können der erwerbstätigen Bevölkerung zugerechnet werden. Die kleinste Gruppe unter den Chorsängern sind Arbeiterinnen und Arbeiter (1,2%). Ihnen stehen 14,6% Selbständige, 15,5% Beamtinnen und Beamte sowie 50,3% Angestellte gegenüber. Zudem sind 9,0% Hausfrauen/Hausmänner, 8,7% Rentnerinnen und Rentner, 11,7% Studentinnen und Studenten, 5,8% Schülerinnen und Schüler in der Stichprobe vertreten. Lediglich 2,7% geben an, entweder arbeitslos oder noch nie berufstätig gewesen zu sein. Chorsängerinnen und -sänger sind demnach hinsichtlich zentraler soziographischer Merkmale untypisch für den Bevölkerungsdurchschnitt. Asymmetrische Geschlechterverteilungen, überdurchschnittliche Bildung und Erwerbstätigkeit legen nahe, dass soziokulturelle Einflüsse Mitgliedschaften in Chören stark beeinflussen.

Die deutsche Chorlandschaft hat sich in den vergangenen 15-20 Jahren zunehmend differenziert. So werden allerorts Gospelchöre gegründet; Pop- und Jazzchöre finden hohen Anklang bei Sängerinnen und Sängern unterschiedlicher Altersstufen. Die vorliegende Untersuchung zeigt abweichend von bisher bekannten Daten folgendes Bild der gegenwärtigen Laienchorlandschaft: Mehr als drei Viertel aller Chorchorsänger singt der Tradition entsprechend in einem Gemischten Chor. An zweiter Stelle rangiert zahlenmäßig der Projektchor, der sich entsprechend seiner Definition über einen vereinbarten Zeitraum mit spezieller und im Vorfeld bekannt gegebener Chorliteratur beschäftigt und zumeist nicht vereinsmäßig organisiert ist. Frauenchöre, insbesondere aber Männerchöre spielen rein statistisch betrachtet nur noch eine relativ geringe Rolle. Weitere Chorarten, die statistisch jedoch keine Relevanz besitzen, machen die Diversifikation der deutschen Chorlandschaft noch deutlicher: unterschiedliche Vokalensembles, Barbershop-Chöre, A-capella-Chöre, Schwullesbische Chöre, Politische Chöre, Shantychöre. Es sind Chorarten, die über musikalisch-ästhetische Bedürfnisse hinaus auch persönliche Einstellungen und Lebensstile repräsentieren.

Für den Bereich der Gemischten Chöre wurde zusätzlich untersucht, wie viele Probanden gleichzeitig sowohl in einem Gemischten Chor als auch einem weiteren Chor singen. Die Daten weisen die Kombination aus Gemischtem Chor und Projektchor als statistisch besonders relevant aus. Wenn knapp ein Sechstel aller Chorsänger aus Gemischten Chören gleichzeitig in einem Projektchor singt, dann darf vermutet werden, dass individuelle ästhetische Bedürfnisse und der Wunsch, ein in der Vergangenheit bereits erarbeitetes und emotional positiv besetztes Chorwerk mit zumeist fremden Chorsängern und unter fremder Chorleitung nach kurzer, aber intensiver Probenphase noch einmal aufführen zu dürfen hierfür ein wesentliches Motiv sind.

Chorsingen ist eine Freizeitaktivität, die offensichtlich für die meisten Sängerinnen und Sänger bedeutender Teil ihrer Lebensgestaltung ist und die von familiären und beruflichen Veränderungen nicht dauerhaft beeinträchtigt wird. Im arithmetischen Mittel verfügen die Befragten über ca. 20 Jahre Chorerfahrung. Setzt man die Dauer der Chorerfahrung ins Verhältnis zum Lebensalter, so sind die Befragten ab Geburt durchschnittlich zu 45,6% ihrer bisherigen Lebenszeit in Chören aktiv gewesen. Das zeigt, dass einzelne Chorenthusiasten erhebliche Anteile ihrer Freizeit musikalisch und organisatorisch mit Choraktivitäten füllen.

Ein Anteil von 5,6% der Befragten sammelte erste Erfahrungen mit Chorsingen bis zum Alter von 5 Jahren. Bis zum zwölften Lebensjahr beginnen 60,6% und bis zum zweiunddreißigsten Lebensjahr 90,0% der Befragten mit dem Singen in Chören. Verhältnismäßig wenige Menschen treten in mittleren und höheren Lebensaltern Chören bei. Die auf das Lebensalter bezogene Rate von Choreintritten bleibt ab dem 20. Lebensjahr auf niedrigem Niveau konstant. Aus musikpädagogischer Sicht und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ca. 80% des Musikunterrichts an Grundschulen ausfallen bzw. fachfremd erteilt werden ist von allerhöchstem Interesse, dass die meisten Chorkarrieren in der Grundschule begonnen haben. Mehr als die Hälfte aller Befragten gibt an, die persönliche Chorkarriere in einem Schulchor begonnen zu haben. Daten, die in aller Deutlichkeit die musikalischen Angebote und Aktivitäten der Grundschule als ein Fundament für das Singen im Chor unterstreichen. Für knapp die Hälfte aller Sängerinnen und Sänger war es zudem die Musiklehrkraft der Grundschule, die erste Chorerfahrungen vermittelt hat. Ihr Einfluss ist erstaunlicherweise erheblich größer als der Einfluss direkter familiärer Bezugspersonen.

Ein Blick auf die Binnenstruktur der befragten Chöre zeigt, dass alle Hauptstimmlagen ähnlich stark vertreten sind. Andererseits lässt ein Blick auf den Tenor den Mangel an hohen Männerstimmen offenkundig werden. Bei rund 10% aller Tenorstimmen handelt es sich um eine Sängerin. Der Musikalisierungsgrad der Befragten wurde mit Hilfe der Kriterien Instrumentalspiel, eigener Gesangsunterricht und Fähigkeit im Umgang mit Noten ermittelt: Mehr als drei Viertel aller Befragten hat mit einer mittleren Dauer von 8 Jahren in der Vergangenheit Instrumentalunterricht erhalten; rund 4% erhalten oder erhielten Gesangsunterricht. Knapp 80% aller Chorsänger berichten, dass ihnen das Notenlesen sehr bzw. eher leicht falle. Über den höchsten Musikalisierungsgrad auf Grundlage der untersuchten Faktoren verfügen Chorsänger, die angeben, in einem Projektchor zu singen.


Prof. Dr. Peter Brünger ist an der KU seit 1998 Professor für Musikpädagogik und Musikdidaktik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Sozialpsychologische Grundlagen des Singens sowie Singen im Vorschulalter.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2012, Seite 22-23
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr. Richard Schenk
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Telefon: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-2594
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Internet: www.ku.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2012