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HINTERGRUND/128: Wenn's beim Fortissimo in den Ohren klingelt (idw)


Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) - 10.11.2008

Wenn's beim Fortissimo in den Ohren klingelt

PTB entwickelt Schallschutz für Orchestermusiker


"Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden", lästerte Wilhelm Busch. Auch wenn die Sache mit der Schönheit Geschmackssache ist, so steckt in dem sarkastischen Spruch eine bittere Wahrheit: Orchestermusiker gefährden mit der eigenen Musik ihre Ohren. In einer Wagner-Oper können Lärm-Werte von 120 Dezibel (dB) und mehr erreicht werden. Auch der durchschnittliche Lärmpegel nimmt, je nach Repertoire und Instrument, oft Ausmaße an, die als gesundheitsgefährdend gelten. Dennoch ist die EU-Lärmschutz-Verordnung, die seit dem 15. Februar auch für deutsche Orchester gilt, noch viel zu selten in die Praxis umgesetzt worden; wirksame Schallschutzmaßnahmen fehlen. Daher hat die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) einen Schallschutzschirm entwickelt, der im kritischen Bereich oberhalb von 250 Hertz den Schallpegel am Ohr des Musikers um bis zu 20 dB senkt und mit wenig Aufwand nachgebaut werden kann. In ersten Fällen ist das schon geschehen und die Rückmeldungen sind ausgesprochen positiv.

An der Wand von Ingolf Borks Büro hängt ein Cartoon: Ein komplettes Sinfonieorchester samt Dirigent liegt am Boden, überall sind Instrumente und Noten verstreut - nur drei Posaunisten sitzen auf ihren Stühlen und schauen harmlos daher. Der Untertitel empfiehlt allen Dirigenten, die Posaunisten doch lieber nicht um mehr Lautstärke zu bitten. "Zwar haut es in der Realität nur selten die Spieler von den Hockern", lächelt Bork, Tonmeister, Pianist und Ingenieur in der PTB-Arbeitsgruppe Geräuschmesstechnik, "aber die Schallpegelwerte, die im Sinfonieorchester an der Tagesordnung sind, können zur Gefahr für die Ohren der Musiker werden - vor allem für diejenigen, die vor den Blechbläsern sitzen."

Nach verschiedenen Untersuchungen, beispielsweise von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, liegt der durchschnittliche Lärmpegel in Symphonie- und Opernorchestern zwischen 80 dB(A)und 100 dB(A). Damit sind, so die Bundesanstalt "Orchestermusiker in ihrem Arbeitsalltag Schalldruckpegeln ausgesetzt, die geeignet sind, Gehörschäden zu verursachen." Immerhin ist ein Pegel von 85 dB so laut, dass man sich nur mehr schreiend verständigen kann. Laut der EG-Arbeitsschutzrichtlinie 2003/10/EG müssen bereits dann Lärmschutzmaßnahmen eingesetzt werden, wenn der sogenannte Tageslärmexpositonspegel - das ist ein über acht Stunden gemittelter Wert - 80 dB überschreitet. Aber obwohl die Vorschrift seit dem 15. Februar dieses Jahres für alle Orchestermusiker gilt, hapert es oftmals an ihrer Umsetzung. "Es gab bis jetzt einfach keine annehmbare Lösung für das Lärmproblem", erklärt Bork.

Auch wenn niemand von ihnen gerne darüber spricht, so haben viele Musiker, vor allem Schlagzeuger, Blech- und Holzbläser, die Gefahr schon kennengelernt. Nach einer Studie der Universität Gießen sind selbst unter Amateur-Musikern Gehörschäden weit verbreitet: Bei 1300 untersuchten Personen wiesen 27 % der Männer und 17 % der Frauen Gehörschäden auf. Allerdings hat dieselbe Studie gezeigt, dass das Problem nicht so einfach zu fassen ist: Orgelstimmer, die ebenfalls längere Zeit Lärmpegel von rund 90 dB aushalten müssen, hatten durchweg ein besonders gutes Gehör. Die Autoren folgern, schlimmer für das Gehör könnten kurzzeitig hohe Lärmpegel sein. Aber die sind in einem Orchester auch nicht zu vermeiden. "Wir haben den Schallpegel während einer ganzen 'Walküre' gemessen", sagt Bork. Die Spitzenwerte, die sie dabei maßen, lagen bei 114 dB(A), d.h. bei normaler A-Gewichtung der mittleren Frequenzen, und sogar bei 130 dB(C), wenn auch die absoluten Spitzenwerte des gemessenen Schalldrucks LCpeak berücksichtigt werden.

Sollte man also Wagner, Bruckner oder Strauss nicht so laut spielen? Einen solchen Vorschlag würde sich jeder Dirigent verbitten. Und auch die Musiker verteidigen in der Regel die Freiheit der Kunst. Sorgen haben sie dennoch. Bei einer Befragung, die der Freiburger Musikermediziner Bernhard Richter im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahr 2008 bei 429 Orchestermitgliedern aus 9 professionellen Orchestern durchführte, gaben immerhin zwei Drittel aller Musiker an, Angst um ihr Gehör zu haben.

Trotzdem sind Schutzvorrichtungen wenig verbreitet. Gerade die einfachste, billigste und bisher fast als einzige auch brauchbare von ihnen, ein individuell angepasster Gehörschutz (Otoplastik), genießt kein hohes Ansehen. Nur etwas mehr als 16 Prozent der befragten Musiker verwenden ihn. Zwar mindert ein solcher Gehörschutz die Lautstärke gleichmäßig über alle Tonhöhen hinweg, anders als bei billigen Ohrstöpseln aus der Apotheke, die vor allem hohe Töne dämpfen. "Aber auch die 'guten' Stöpsel unterscheiden nicht zwischen Musik und Sprache, und so verstehen die Musiker bei den Proben ihren Dirigenten nicht mehr", erklärt Bork. Bei Bläsern kommt ein weiteres Problem hinzu: Mit einen solchen Ohrstöpsel hört man mehr Körperschall als zuvor. Der Schall pflanzt sich vom Instrument, das per Mundstück oder Rohrblatt an oder zwischen den Lippen sitzt, über die eigenen Knochen fort.; der Spieler kann seinen Ton nicht mehr so kontrollieren wie gewohnt.

"Ein Schallschutzschild ist da schon besser", erklärt Ingolf Bork. "Aber die Modelle, die Sie kaufen können, sind meist nicht ausgereift. Einige werfen den Schall direkt zum Spieler zurück. So ein Direktschall tut richtig weh." Der neue PTB-Schirm dagegen, den Bork entwickelt hat, ist im oberen Teil geknickt und leitet den Schall über den Kopf des vorne sitzenden Spielers nach oben hinweg. "Außerdem sind die kommerziellen Schirme viel zu klein. Da wandert der Schall ziemlich problemlos herum und die Schutzwirkung ist fast Null", erklärt Bork. In ganz schlimmen Fällen fangen die gekrümmten Modelle sogar den Schall der Kollegen oder den eigenen Schall wie in einem Brennglas ein, und das Lärmproblem wird schlimmer statt besser. Bork hat "seinen" Schirm daher groß gehalten. "Am besten stellen Sie mehrere davon dicht an dicht, ohne Lücke vor der Blechbläser-Riege etwa im Abstand von 50 cm auf", rät er.

Die Idee, einen eigenen PTB-Prototyp zu konstruieren, entstand während der Mitarbeit an dem Leitfaden, den die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zurzeit ausarbeitet und der demnächst Orchestern und Musikern konkrete Hinweise geben wird, wie die EU-Richtlinie umgesetzt werden kann. Als Spezialist für genaue Schallpegelmessungen war Bork daran beteiligt. Seine tägliche Arbeit besteht in der Zulassungsprüfung von Schallpegelmessgeräten, die zum Beispiel von der Polizei eingesetzt werden, um - gerichtlich unanfechtbar - getunte Mofas aufzufinden. Die technischen Möglichkeiten der PTB waren ideal, um die Eigenschaften eines Schallschutzschirmes sorgfältig zu untersuchen. An dem Projekt waren zwei weitere Vertragspartner beteiligt, die die Finanzierung ermöglichten, nämlich der Gemeindeunfallversicherungsverband Westfalen-Lippe und die Städtischen Bühnen Münster. Letztere stellten außerdem ihr Orchester zur Verfügung, um den Schirm zu erproben.

"Unser Prototyp ist nicht patentiert, weil wir keine besonderen Materialien oder ähnliches eingesetzt, sondern nur grundsätzliche Zusammenhänge untersucht haben", erklärt Bork. Das hat den Vorteil, dass ihn nun jeder leicht nachbauen kann. "Jede Bühnenbauwerkstatt hat die Möglichkeiten dazu. Aber der Schallschutzschirm wirkt nur, wenn er den individuellen Gegebenheiten des Probenraumes oder des Orchestergrabens angepasst ist", betont Bork. Wer weiß, vielleicht findet sich auch eine Produktionsfirma und wirft den PTB-Schirm auf den Markt. Dann wäre der erfolgreiche Technologietransfer komplett. es

Weitere Infos:
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zum Thema:
http://www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/Laerm-und- Akustik/Orchestermusiker.html?__nnn=true&__nnn=true

Gießener Untersuchungen, u.a. zu Hörschäden von Musikern:
Fleischer, Garald; Müller, Reinhard: Auditory Group Curves - powerful tool for analysis and prevention. Konferenzbeitrag. Noise at work 2007, Lille.

Freiburger Befragung:
Richter, Bernhard: Hörbelastung und Gehörschutz bei Orchestermusikern.
25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie 12.9.-14.9.2008, Düsseldorf.
http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2008/08dgpp81.shtml

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution395


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB), Dipl.-Journ. Erika Schow,
10.11.2008
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2008