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HINTERGRUND/126: Produktion von Musik - Interview mit Prof. Stegemann (mundo - TU Dortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 8/07

Klassik in Watte
Ein Interview mit dem Musikwissenschaftler Michael Stegemann über die Produktion von Musik

Von Karsten Mark


Der legendäre Pianist Glenn Gould war dafür bekannt, dass er mit seinem Perfektionismus seine Studio-Techniker und Toningenieure beinahe in den Wahnsinn trieb. Bevor Gould eine Platte zur Veröffentlichung freigab, feilte er teilweise an jedem einzelnen Ton. Der Dortmunder Musikwissenschaftler Prof. Michael Stegemann ist Glenn-Gould-Spezialist (und -Biograf) und hat auch eigene Erfahrungen als Produzent klassischer Musik. Mundo sprach mit ihm über Authentizität und technische Tricks bei der Produktion von Musik-Aufnahmen.


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MUNDO: Wenn Musik auf CD erscheint, wird auch immer ein Produzent genannt. Dabei ist es doch eigentlich der Musiker selber, der die Musik hervorbringt, also produziert?

STEGEMANN: Der Produzent arbeitet für die Rundfunkanstalt oder für die Schallplatten-Gesellschaft. Und es ist der Produzent, der festlegt, welcher Künstler welches Werk spielt und auf welcher CD das letztlich veröffentlicht werden soll. Er ist die künstlerische Überwachungsinstanz einer Musikaufnahme. Der mit einem Techniker und einem Toningenieur zusammenarbeitet. Dabei hat der Toningenieur (gegenüber dem Techniker) die hierarchisch höhere Position inne. Das hat sich, seitdem es Schallplattenaufnahmen gibt, nicht geändert.

Aber die Bedeutung des Produzenten ist deutlich zurückgegangen gegenüber den 1950er Jahren, weil heute die Aufgabe, eine Aufnahme für den Markt fertig zu machen, viel mehr von der Technik als vom Produzenten geleistet wird. Trotzdem ist der Produzent das verantwortliche Scharnier zwischen dem Künstler und dem Endprodukt - ob es nun eine Schallplatte oder eine Rundfunksendung oder sonst was ist.

MUNDO: Was hat denn der Produzent heute noch zu sagen?

STEGEMANN: Der Produzent hat seine eigene subjektive Vorstellung von der Musik, die er haben möchte. Im Idealfall sind der Künstler und der Produzent ein Team. Und sie sind sich einig darüber, wie etwas klingen soll. Denn die Klangästhetik einer Aufnahme ist etwas, was heute eine immer größere Rolle spielt - einfach, weil man sie manipulieren kann. Das konnte man im vordigitalen Zeitalter kaum. Früher konnte man nur durch die Mikrofonaufstellung einen Klang formen. Je nachdem, wie weit entfernt ich vom Sänger oder Pianisten aufnehme, kriege ich mehr Raum mit drauf, kriege ich veränderte Hörperspektiven. Das wurde ein für allemal vor der Aufnahme festgelegt. Man hörte sich das an. Es gab Anspielproben und Mikrofonproben. Und wenn es dann soweit war, wurde eins zu eins aufgenommen. Das einzige, was man noch machen konnte, war, ein kleines bisschen Hall drauf zu geben, wenn die Akustik zu trocken war. Aber zum Beispiel das Problem von Orgelaufnahmen in großen Kirchen, die immer mit dem Hall zu kämpfen haben, ließ sich eigentlich nicht in den Griff kriegen.

MUNDO: Und wie ist es heute?

STEGEMANN: Seit der Digitalität ist es so, dass man jeden beliebigen Klang so manipulieren kann, dass er völlig neue ästhetische Dimensionen entwickelt. Und da ist dann die Frage: Was will der Produzent beziehungsweise was will der Künstler? Es gibt Künstler, die sagen: Ich möchte gerne so klingen, als ob ich in einem großen Konzertsaal spiele. Es gibt andere, die sagen, ich möchte eine akustische Intimität haben, selbst wenn wir in einem großen Saal aufnehmen. Das ist alles manipulierbar. Und es gibt leider auch Fälle, in denen die Vorstellungen von Produzent und Künstler diametral auseinanderklaffen - etwa wenn der Produzent eine festgelegte Klangvorstellung seiner Plattenfirma umsetzen muss.

MUNDO: Wie aufwändig sind Aufnahmen mit großen Besetzungen?

STEGEMANN: Die Produktion einer großen Orchesteraufnahme kostet im Grunde genommen nicht viel. Das technische Equipment kriegen Sie in einem Koffer unter. Die Mikrofone sind in den Konzertsälen vorhanden. Sie schneiden mit und danach beginnt die Arbeit des Produzenten. Seine und die Aufgabe des Toningenieurs ist es nachzuarbeiten.

Es ist für mich immer wieder ein schockierendes Erlebnis, den Unterschied zwischen dem Live-Konzert und der Aufnahme zu hören. Es findet oft eine Nachbearbeitung statt, die die Aufnahme in einen Brei verwandelt, den es live so nicht gegeben hat.

MUNDO: Also werden klanglich die Konturen nicht geschärft, sondern eher eingeebnet?

STEGEMANN: Das ist sowieso der Trend. Es gibt ja inzwischen seit 110 Jahren Schallplatten. Und je älter die Aufnahmen sind, desto präsenter sind sie - abgesehen vom Knistern und Rauschen. Anfangs aus rein technischen Gesichtspunkten: Man musste mit dem Mikrofon einfach nah an die Schallquelle gehen, um überhaupt etwas mitzubekommen. Aber es gibt auch eine Form von veränderter Ästhetik, die schon in den 1970er Jahren angefangen hat und sich dann in den 1980er Jahren mit der Digitalentwicklung immer weiter fortgeschrieben hat, dass man so eine Raum-Aura schaffen möchte. Man glaubt, man müsse den Klang in einen akustischen Weichzeichner packen. Das ist heute Tendenz. Das ist Zeitgeist. Das wird sich hoffentlich irgendwann wieder ändern. Es führt nämlich dazu, dass viele Aufnahmen klassischer Musik in Watte gepackt werden.

MUNDO: Aber ein Weichzeichner ist doch schmeichelhaft für den Portraitierten?

STEGEMANN: Ob das immer im Sinne der Interpreten ist, wage ich zu bezweifeln. Ich weiß, dass es viele Interpreten gibt, die das sehr bedauern. Es gibt auch Interpreten, die in der Branche deshalb als schwierig gelten, weil sie sagen: Ich möchte das nicht. Ein Beispiel ist der russische Pianist Arcadi Volodos, der bei seiner letzten CD mit Klavierwerken von Franz Liszt darauf bestanden hat, ohne Schnitt immer nur ganze Takes aufzunehmen - also immer das Stück als Ganzes. Und wenn Euch das nicht gefällt oder mir das nicht gefällt, nehmen wir's halt noch mal auf. Das Ergebnis waren zwölf Tage Studioarbeit für ein Projekt, für das normalerweise nur drei Tage veranschlagt werden, weil man sonst sagt: Na ja, den Rest machen wir am Computer.

Aber es gibt eben auch solche Fälle. Die Platte ist eine Sensation gewesen. Alle Kritiker haben gesagt: Das ist ja wunderbar. So was haben wir noch nie gehört. Dabei war das bis in die 50er Jahre die Regel.

MUNDO: Es sind also nicht nur schlechte Musiker, die ihre Aufnahmen nachbessern mit Schnitten?

STEGEMANN: Nein, ganz und gar nicht. Es gibt auch die schlechten Musiker, deren Material so unbrauchbar ist, dass es nur mit großem technischem Aufwand für eine Veröffentlichung aufbereitet werden kann. Andere sagen, es ist das Live-Konzert, das zählt im Angesicht des Publikums, eine Situation, die sich so im Studio nicht wiederholen lässt.

Eine dritte, wesentlich kleinere Gruppe, zu der Glenn Gould als Extremfall gehörte, sagt: Ich habe eine Idealvorstellung von einem Musikstück. Und um das zu verwirklichen, muss ich die Möglichkeit haben, ein Stück oder einen Satz immer wieder auszuprobieren und im Studio notfalls auch zu manipulieren - so sehr, bis ich diesen Idealzustand erreicht habe. Denn sonst würde ich es nicht auf den Markt bringen. So ein Fall war nicht nur Gould. Es gibt auch heute noch richtige Studio-Freaks. Volodos ist solch einer, der aber anders arbeitet als Gould - eben nicht mit Schnitten, sondern mit immer neuen Probephasen.

Ein berühmter Fall einer wirklichen Schallplatten-Musikerin ist auch Cecilia Bartau, die berühmte Mezzosopranistin, einer der Superstars. Wenn Sie Cecilia Bartoli live auf der Bühne sehen und mehr als zehn Reihen weg sitzen, hören Sie sie nicht mehr. Sie hat eine sehr kleine Stimme. Eine wunderbare Stimme, eine perfekte Stimme, aber ganz klein. Die Bartoli hat ihre Karriere nur über die Schallplatte gemacht. Sonst hätte das Publikum vermutlich gesagt: Ist nett, aber ich höre sie ja kaum. Nur mit der Technik der Schallplatte können sie der Stimme eine Präsenz geben, die kein anderer hat.

MUNDO: Es gibt ja auch immer öfter auch Opern-Aufführungen, bei denen die Sänger Mikrofone tragen.

STEGEMANN: Ich finde es auch okay und ehrlich, wenn das offen gezeigt wird. Aber es gibt etwa auch das Gerücht, dass an der berühmten New Yorker Metropolitan Opera, die akustisch eine Katastrophe ist, sämtliche Produktionen mit Mikrofonen gesungen werden. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich kann es mir gut vorstellen.

Ich finde, alles ist erlaubt, was der Sache dient und was der künstlerischen Überzeugungskraft dient. Wie man das erreicht, ist mir im Grunde genommen gleich. Ich habe genau so viel Verständnis für jemanden wie Glenn Gould, der sagt, ich manipuliere so lange an meinen Aufnahmen, bis sie perfekt sind, wie ich Verständnis für jemanden habe, der sagt, ich mache das eins zu eins, lasse es laufen und gucke, was dabei herauskommt - mit allen Unwägbarkeiten.

Was ich fatal finde, ist, wenn die Manipulation so weit geht, dass das Ergebnis mit dem Original nichts mehr zu tun hat. Das Original bestmöglich zu bearbeiten und aufzubereiten, finde ich nicht nur legitim, sondern auch sinnvoll. Sie werden nie die Perfektion einer Aufnahme im Konzert erleben - weder akustisch noch spieltechnisch. Das geht nicht.

MUNDO: Ist Glenn Gould denn mit seiner Suche nach der Perfektion letztlich einem Phantom nachgejagt?

STEGEMANN: Ja, absolut. Er hat immer von der Idee der Vollkommenheit der geistigen Durchdringung und der technischen Verwirklichung gesprochen. Und er hat gesagt, es habe ein oder zwei Aufnahmen in seinem Leben gegeben, bei denen er diesen Idealen nahe gekommen sei. Aber wirklich eingelöst - meinte er - hätte er es nie. Gut, ich bin da anderer Meinung. Ich glaube, er hat es mehr als einmal eingelöst.

MUNDO: Gehört denn Gould auch zu denen, die den Verführungen der Technik lieber hätten widerstehen sollen?

STEGEMANN: Nein, im Gegenteil. Ich bedaure, dass er so früh gestorben ist - 1982, also noch zu Beginn der Digital-Ära. Wenn er die Möglichkeiten gehabt hätte, die wir heute haben, um Musik zu produzieren, dann hätte er mit Sicherheit spektakulär neuartige, experimentelle und visionäre Dinge in die Tat umsetzen können. Schade, dass er das nicht mehr erlebt hat.

MUNDO: Welche Rolle spielt denn Authentizität überhaupt noch? Gibt es sie nur noch im Konzert?

STEGEMANN: Man darf das Live-Konzert nicht mit der Aufnahme vergleichen. Die Authentizität eines Konzerterlebnisses ist das eine, die Authentizität einer gelungenen Aufnahme das andere. Aber die Aufnahme steht für sich. Sie hat eine eigene ästhetische, künstlerische Authentizität, die mit den technischen Produktionsmöglichkeiten erreicht wurde. Und es gibt sogar authentische Aufnahmen, die technisch völlig unzureichend sind.

MUNDO: Aber die Leute gehen schon mit den Klangvorstellungen ins Konzert, die sie von der CD haben?

STEGEMANN: Das ist das Problem. Deshalb gibt es heute auch kein modernes Konzerthaus mehr auf der Welt, das nicht die Möglichkeit hat, die Akustik im Saal technisch zu verändern - und zwar nicht nur handwerklich mit Schallwänden oder Segeln, sondern mit elektronischen Mitteln, also Beschallungsanlagen. Das wird heute mehr und mehr gemacht. Und das wird so subtil gemacht, dass man es nicht heraushören kann. Da kann man wahre Wunder vollbringen ohne großen Aufwand. Man macht das, weil die Leute sagen: Ich möchte Frau Netrebko genauso hören, wie ich sie von der Platte kenne.

MUNDO: Also möchten die Leute betrogen werden?

STEGEMANN: Ja, das wollten sie immer. Den Glauben an eine Authentizität im akustischen Sinne hat es, glaube ich, nie wirklich gegeben. Die Leute wissen, dass sie betrogen werden. Aber sie wollen das auch.

MUNDO: Als Gegenbewegung zum Perfektionstreben der Plattenfirmen gibt es doch seit längerem schon Ensembles, die alte Musik wieder auf alten Instrumenten spielen, damit sie so klingt wie zu ihrer Entstehungszeit.

STEGEMANN: Ja, das ist die historische Aufführungspraxis. Aber die Musiker stecken eigentlich in denselben Zwängen. Und die Entwicklung seit den Zeiten Mozarts war ja zwangsläufig: Die Säle sind immer größer geworden. Es kam immer mehr Publikum. Es wurden immer größere Konzertwerke geschaffen. Und das alte Instrumentarium wurde zu leise. Man musste Wege finden, lauter zu werden. Der Weg führt vom Hammerflügel zum modernen Konzertflügel oder von der alten Barockvioline zu den modernen, hoch gespannten Streichinstrumenten.

Und wenn Sie nun ein Orchester wieder mit alten Instrumenten besetzen, können Sie es nicht in die Kölner Philharmonie mit 2000 Plätzen setzen. Dann hören Sie nichts mehr. Das geht nur mit technischer Nachhilfe. Und gerade da klaffen Live-Erlebnis und Aufnahme stark auseinander.


zur person

Prof. Dr. Michael Stegemann, Jahrgang 1956, geboren in Osnabrück, studierte Musikwissenschaft, Philosophie, Romanistik und Kunstgeschichte in Münster und Paris (u.a. Komposition in der Meisterklasse von Olivier Messiaen). 1981 promovierte er zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Camille Saint-Saëns und das französische Solokonzert von 1850 bis 1920 (Schott-Verlag, Mainz 1984; Amadeus Press, Portland/Oregon 1991). Von 1981 bis 1986 war er Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik und Lehrtätigkeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Von 1986 bis 2002 arbeitete er als freier Komponist, (Musik-)Schriftsteller und Rundfunk-Autor. Im Sommer 2002 wurde Michael Stegemann als Nachfolger von Prof. Dr. Martin Geck auf den Lehrstuhl für Musikwissenschaft an das Institut für Musik und ihre Didaktik der TU Dortmund berufen; Schwerpunkt seiner Lehr- und Forschungstätigkeit dort ist die Interpretationsforschung.


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund,
Nr. 8/07, Seite 14-18
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit,
Universität Dortmund, 44221 Dortmund,
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
E-Mail: redaktion.mundo@uni-dortmund.de
Internet: www.uni-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2008