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STUDIE/243: Armut gefährdet die Gesundheit (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Armut gefährdet die Gesundheit

Zentrale Ergebnisse zusammengestellt von Martin Schlaud


Die erste große Studie zum Gesundheitszustand von Minderjährigen in Deutschland zeigt: Kindern aus sozial benachteiligten Familien geht es gesundheitlich durchweg schlechter als Gleichaltrigen aus besser gestellten gesellschaftlichen Schichten. Wie Wissenschaft, Politik und Praxis diese Ungleichheit bekämpfen können.


Von Mai 2003 bis Mai 2006 hat das Robert Koch-Institut den Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) durchgeführt. Ziel dieser bundesweiten Studie war es, umfassende und bevölkerungsrepräsentative Informationen über den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen im Alter von null bis 17 Jahren in Deutschland zu erheben, bestehende Informationslücken zu schließen und Daten für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, die epidemiologische Forschung sowie für die Konzeption von Präventions- und Interventionsmaßnahmen bereitzustellen. Die Studie wurde durch die Bundesministerien für Gesundheit (BMG) sowie Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Die Untersuchungen wurden von vier ärztlich geleiteten Teams in insgesamt 167 Städten und Gemeinden durchgeführt. Die Teilnehmenden wurden zufällig aus den Melderegistern der Einwohnermeldeämter der Studienorte ausgewählt. Die Teilnahmequote lag bei 66,6 Prozent und damit über dem Durchschnitt vergleichbarer Erhebungen. Insgesamt haben 17.641 Kinder und Jugendliche, darunter 8.656 Mädchen und 8.985 Jungen, teilgenommen. Die Zusammensetzung der untersuchten Stichprobe weist eine hohe Repräsentativität für die Wohnbevölkerung in Deutschland auf.

Das Untersuchungsprogramm bestand aus einer schriftlichen Befragung der Eltern sowie - ab elf Jahren - der Kinder und Jugendlichen selbst, medizinischen Untersuchungen (zum Beispiel Schilddrüsensonographie) und Tests (beispielsweise Motorik), einem computergestützten ärztlichen Elterninterview (CAPI) sowie einer Blutentnahme und Sammlung von Urin. Zu folgenden Themen wurden Daten erhoben: körperliche Beschwerden und Befindlichkeit, akute und chronische Krankheiten, Behinderungen, Gesundheitsrisiken und Unfälle, psychische Gesundheit, Lebensqualität, Schutzfaktoren und personale Ressourcen, Ernährung, Essstörungen und Adipositas, Gesundheitsverhalten und Freizeitaktivitäten, Medikamentenkonsum, Impfstatus, Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, Körpermaße, motorische Leistungsfähigkeit, Sehvermögen, Blutdruck, Blut- und Urindiagnostik sowie Schilddrüsengröße (letzteres finanziert durch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz; BMELV).


Mehr Kilos, mehr Karies, mehr Konflikte

Aus der Vielzahl von Ergebnissen der KiGGS-Studie soll an dieser Stelle nur ein Aspekt herausgestellt werden, der in vielerlei Hinsicht für unsere Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist: Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten haben durchweg einen schlechteren Gesundheitszustand und häufiger psychische Probleme als ihre Altersgenossen aus einkommensstarken und/oder gebildeten Familien.

Die auf Basis der KiGGS-Daten durchgeführten Analysen zur gesundheitlichen Ungleichheit konzentrierten sich dabei auf den sozioökonomischen Status, der anhand eines mehrdimensionalen Index bestimmt wird. Grundlage dabei waren die Angaben der Eltern zu ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung, ihrer beruflichen Stellung sowie zum Haushaltsnettoeinkommen. Auf dieser Basis wurden drei Gruppen von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit unterem, mittlerem oder hohem Sozialstatus gebildet.

Eine Gesamtschau der bislang durchgeführten Auswertungen zeigt eindrücklich, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien

häufiger von Übergewicht und Adipositas betroffen sind,
häufiger zu den Rauchenden gehören,
weniger gestillt wurden,
seltener regelmäßig Sport treiben,
mehr Freizeit vor dem Bildschirm verbringen,
sich seltener die Zähne putzen,
häufiger Verhaltensauffälligkeiten aufweisen,
häufiger psychische Probleme und Essstörungen haben,
in einem ungünstigeren Familienklima aufwachsen,
geringere personale, soziale und familiäre Ressourcen besitzen,
eine höhere Gewaltbelastung aufweisen,
die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen seltener wahrnehmen,
häufiger eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aufweisen und
häufiger Mütter haben, die während der Schwangerschaft geraucht haben.

Diese grundlegenden Aussagen sollen im Folgenden mit einigen
ausgewählten Zahlen untermauert und vertieft werden.


Eine prekäre finanzielle Lage erhöht das Risiko

Einkommensschwache Haushalte wurden in den KiGGS-Auswertungen auf Basis des Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens definiert, das nicht nur die Höhe der Einkünfte, sondern auch die Zahl der Haushaltsmitglieder und deren Alter berücksichtigt. Auf Basis der resultierenden Einkommensverteilung wurden drei Gruppen gebildet: die ärmsten 20 Prozent der Haushalte, die mittleren 60 Prozent und die reichsten 20 Prozent. Die Ergebnisse von KiGGS zeigen, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten in einigen Bereichen beträchtliche Gesundheitsdefizite aufweisen.

Bereits die kostenlosen Vorsorgeuntersuchungen U3 bis U9 werden von finanziell benachteiligten Familien deutlich seltener wahrgenommen als von Familien der mittleren oder der höchsten Einkommenskategorie. Mit zunehmendem Alter der Kinder klafft die Schere in der Inanspruchnahme dieser Untersuchungen zwischen den verschiedenen Einkommensgruppen immer weiter auf. Finanziell benachteiligte Eltern schätzen den Gesundheitszustand ihrer Kinder zudem schlechter ein. Während in der höchsten Einkommensgruppe etwa die Hälfte der Eltern die Gesundheit ihrer drei- bis zehnjährigen Kinder als »sehr gut« einschätzt, macht in der untersten Einkommensgruppe nur knapp ein Drittel der Eltern diese Aussage. Eine prekäre finanzielle Lage der Familie erhöht weiterhin insbesondere bei Jungen das Risiko psychischer Auffälligkeiten. In der niedrigsten Einkommensgruppe werden etwa 18 Prozent der Drei- bis Zehnjährigen und knapp 14 Prozent der Elf- bis 17-jährigen Jungen von ihren Eltern als psychisch auffällig eingestuft. In der höchsten Einkommensklasse sind dies jeweils nur rund fünf Prozent.

In weiteren Auswertungen wurde unterschieden zwischen bildungsfernen Haushalten, in denen beide Eltern höchstens einen Hauptschulabschluss besitzen, und Haushalten mit hohem Bildungshintergrund, in denen beide Eltern mindestens die Fachhochschulreife erlangt haben. Die mittlere Bildungsgruppe schließt alle anderen Kombinationen von Bildungsabschlüssen der Eltern ein. Die KiGGS-Daten zeigen, dass Jugendliche, deren Eltern nur einen Hauptschulabschluss besitzen, weit häufiger übergewichtig sind als Jugendliche, deren Eltern das (Fach-)Abitur haben (siehe Grafik). Insbesondere Mädchen aus bildungsfernen Haushalten weisen - auch bei gleichzeitiger Berücksichtigung weiterer Merkmale - rund dreimal so häufig Übergewicht auf wie vergleichbare Mädchen aus finanziell gut gestellten Familien.

Hinsichtlich des Auftretens von psychischen und Verhaltensproblemen spielt der Bildungshintergrund ebenfalls eine wichtige Rolle. Im Allgemeinen gilt: Je niedriger die Bildung der Eltern ist, desto häufiger wird von psychischen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder berichtet. So weisen unter den Drei- bis Zehnjährigen 14,7 Prozent der Jungen und 7,5 Prozent der Mädchen aus bildungsfernen Haushalten psychische Auffälligkeiten auf. Hochgebildete Eltern berichten hingegen nur von Auffälligkeiten bei 5,2 Prozent ihrer Söhne und 2,1 Prozent ihrer Töchter. Die sportlichen Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen stehen ebenso in einem engen Zusammenhang mit dem Bildungsgrad der Eltern. In den unteren Bildungsschichten beläuft sich der Anteil der drei- bis zehnjährigen Jungen und Mädchen, die seltener als einmal in der Woche Sport treiben, auf mehr als ein Drittel; in der oberen Bildungsschicht trifft dies hingegen nur auf gut ein Sechstel der Jungen und Mädchen zu.

Auch die Belastungen durch Passivrauch und - im Teenageralter - durch aktives Rauchen sind bei Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Haushalten deutlich häufiger. So rauchen in dieser Gruppe 35,3 Prozent der 14- bis 17-jährigen Jungen und 39 Prozent der gleichaltrigen Mädchen. Der entsprechende Anteil der Jungen und Mädchen mit hoch gebildeten Eltern beläuft sich hingegen auf 24,1 Prozent beziehungsweise 17,2 Prozent. Auch bei gleichzeitiger Berücksichtigung weiterer Merkmale bestätigt sich: Das Risiko, dass Jugendliche rauchen, liegt in der unteren Bildungsschicht deutlich höher als in der oberen Bildungsschicht, wobei dieser Zusammenhang bei Mädchen (rund dreifaches Risiko) noch stärker ist als bei Jungen (rund zweifaches Risiko).


Kinder aus bildungsfernen Haushalten sind öfter dick

Die Anteile von Mädchen und Jungen mit Übergewicht oder
Fettleibigkeit, nach Altersgruppe und familiärem Bildungsgrad,
in Prozent

Jungen
Bildungsgrad
3 bis 10 Jahre
11 bis 17 Jahre
niedrig
mittel
hoch
16,2    
11,6    
8,9    
21,8     
17,5     
12,4     

Mädchen
Bildungsgrad
3 bis 10 Jahre
11 bis 17 Jahre
niedrig
mittel
hoch
15,7    
12,2    
7,0    
24,0     
16,5     
7,3     

Quelle: Kinder und Jugendgesundheitssurvey (KiGS), Robert Koch-Institut




Eine große gesellschaftliche Herausforderung

Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten, aber auch ihre Eltern suchen in der Regel weniger häufig aktiv nach Informationen und Empfehlungen für eine gute Gesundheit oder sind weniger gut in der Lage, diese Informationen umzusetzen. Die KiGGS-Ergebnisse zeigen, dass insbesondere die über eigenes Verhalten modifizierbaren Gesundheitsprobleme bei sozial Benachteiligten deutlich häufiger zu beobachten sind. Daher ist es eine besondere gesellschaftliche Herausforderung, die notwendigen Informationen und Handlungskompetenzen verstärkt an diese Bevölkerungsgruppe heranzutragen.

Besonders dazu geeignet sind soziale und gesundheitliche Hilfsangebote, die Eltern und ihre Kinder in alltäglichen Lebenswelten erreichen. Insbesondere Eltern von Säuglingen und Kleinkindern profitieren von aufsuchenden Angeboten, die in den Wohnungen die Lebenssituation einschätzen und soziale wie gesundheitsbezogene Hilfen anbieten können. Aktive Beratungen in Kindertagesstätten und Schulen stellen wichtige Interventionen für ältere Kinder und Jugendliche dar, auch wenn Kinder aus bildungsfernen Milieus in Kinderbetreuungseinrichtungen immer noch unterrepräsentiert sind. Dabei ist es unbedingt erforderlich, stets auch die Eltern mit zu erreichen und in die Intervention mit einzubeziehen.


Mädchen und Jungen benötigen unterschiedliche Hilfe

Kindertagesstätten, Schulen und Stadtteile gehören grundsätzlich zu den wichtigsten Orten, um gesundheitliche Chancengleichheit zu bewirken. Dort sind partizipative Ansätze mit den Kindern und Jugendlichen sowie mit deren Eltern wichtig, damit Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit gefördert werden. Die KiGGS-Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche, die eine Hauptschule besuchen, einen schlechteren Gesundheitszustand und ein riskanteres Gesundheitsverhalten aufweisen als Gleichaltrige in anderen Schulformen. Daher muss stärker als bisher Wert darauf gelegt werden, dass im Rahmen von Präventions- und Gesundheitsförderungsprogrammen vor allem Haupt-, Sonder- und berufsbildende Schulen berücksichtigt werden. Interventionen sind erfolgreicher, wenn nicht nur mit einzelnen fertigen Gesundheitsförderungsprogrammen von außen an die Kindertagesstätten oder Schulen herangetreten wird, sondern die Beteiligten vor Ort die Problemlagen und Gegenmaßnahmen gemeinsam definieren.

Eine besondere Bedeutung kommt der Ausschöpfung geschlechtsspezifischer Präventionspotenziale zu. Gesundheitsförderung sollte Jungen und Mädchen befähigen, ihre unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben konstruktiv zu bewältigen. Praktische Erfahrungen geschlechtsbezogener Arbeit liegen vor allem aus der Suchtprävention und der Ernährungserziehung vor. Darüber hinaus sollten Programme zur Stärkung der allgemeinen Lebenskompetenz (Selbstwertgefühl, Problemlösefertigkeit, Körperbild etc.) deutlicher als bisher geschlechtsspezifische Ansätze verfolgen.


Die Qualität der Angebote ist entscheidend

Es ist erforderlich, dass gute, qualitätsgesicherte Unterstützungs- und Bildungsmaßnahmen für werdende Mütter und Väter, für Eltern von Kindern und Jugendlichen sowie für die Kinder und Jugendlichen selbst flächendeckend angeboten werden. Darüber hinaus sollten vor dem Hintergrund der mitunter schwierigen innerfamiliären Beziehungen auch Beratungsstellen direkt und exklusiv für Kinder und Jugendliche vorgehalten werden. Im Rahmen einer sinnvollen Evaluation sollten alle Ansätze gegebenenfalls nachjustiert und auf die Zielgruppen und ihre Bedürfnisse immer besser zugeschnitten werden. Nur auf Grundlage solcher Prozesse der Qualitätsentwicklung ist es möglich, aus den Erfahrungen zu lernen und dafür Sorge zu tragen, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche stärker von den gesellschaftlichen Investitionen in die Gesundheit profitieren.


Literatur:

Robert Koch-Institut (2007): Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt, 50 (5-6), S. 529-910

Lampert, Thomas / Kurth, Bärbel-Maria (2007): Sozialer Status und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Deutsches Ärzteblatt, 104 (43), S. A2944-2949

Robert Koch-Institut und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2008): Erkennen - Bewerten - Handeln: Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Berlin und Köln

Robert Koch-Institut (2008): Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 2003-2006: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin


Martin Schlaud stellt in diesem Artikel Beiträge von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Robert Koch-Instituts zusammen. Dort leitet er das Fachgebiet »Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, Präventionskonzepte« und ist ärztlicher Leiter des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Der Mediziner und Epidemiologe leitete zuvor viele Jahre lang den Arbeitsschwerpunkt »Klinische und nichtklinische Epidemiologie« an der Medizinischen Hochschule Hannover und führte eine Vielzahl epidemiologischer Studien durch, überwiegend inhaltlich fokussiert auf die Gesundheit von Kindern. Er ist habilitiert für das Fach »Epidemiologie und Sozialmedizin« und seit 2003 am Robert Koch-Institut tätig.


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S. 7-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2009