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PSYCHOLOGIE/111: Menschen dürfen nicht zu Patienten gemacht werden (idw)


Universität Rostock - 20.08.2014

Experte: Menschen dürfen nicht zu Patienten gemacht werden

Warnemünder Psychotherapietage wollen Handlungsfelder ausleuchten



Die Entwicklung ist bedenklich: "Wir machen immer mehr Menschen zu Patienten oder Klienten einer Beratergesellschaft", sagt Professor Wolfgang Schneider, Direktor der Rostocker Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin. Für alles und jedes würden Berater und Beratungsangebote gewünscht. So würden sich die vielen Anbieter gleichzeitig einen Markt schaffen. Auf den heute (20. August) in Warnemünde beginnenden Psychotherapietagen, an denen etwa 100 Experten aus MV, aber auch aus Deutschland teilnehmen, wird diese Thematik aufgegriffen.

"Hilfesuchenden in MV steht ein ganzes Geflecht von Angeboten und Institutionen im psychosozialen Bereich gegenüber", sagt Prof. Schneider. "Das erfordert inzwischen ein eigenes Navigationssystem". Die Grenzen zwischen psychosozialer Beratung, die in Deutschland von etwa 12.000 zumeist kommunal kofinanzierten Einrichtungen mit psychotherapeutisch qualifizierten Mitarbeitern getragen würden, und den ambulanten Psychotherapieangeboten mit jetzt deutlich über 20.000 ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten seien fließend. So würde oftmals eine psychotherapeutische Behandlung indiziert und vorgenommen, obwohl eine niedrigschwellige Beratung den Klienten in die Lage versetzen könnte, seine Probleme eigenständig und selbstverantwortlich zu lösen. Aber auch für die Beratungsangebote (Familien-, Erziehungsberatung etc.) gilt, dass diese oftmals zu expansiv sind und die Anlässe zur Wahrnehmung von professioneller Unterstützung zu weit gefasst werden. Mit der Folge, dass der Einzelne u.U. seine Selbstwirksamkeit und sein Vertrauen in diese einschränkt. "Es muss Beratung geben", unterstreicht Schneider. "Aber wir dürfen nicht alles zu professionellen Problemen definieren und somit Menschen bedürftig und abhängig machen". Über diese Prozesse werden nach Meinung des Experten zu oft soziale Probleme in medizinische umgewandelt. "Dieses Phänomen ist auch bei den Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu beobachten", sagt Schneider. So liege der Anteil von Frühberentungen im Jahr 2013 wegen psychischer und psychosomatischer Erkrankungen bei 43 Prozent. Wegen körperlicher Leiden erfolgten Frühberentungen in der Regel drei Jahre später. Und wenn dieses Phänomen kritisch reflektiert werden würde, zeige sich doch häufig, dass es primäre soziale Problemstellungen - z.B. Langzeitarbeitsslosigkeit - seien, die über Diagnosenstellungen und oftmals nicht angezeigten Therapien in die "Sprache" der Medizin übersetzt werden würden. In diesen Fällen wäre oftmals eine kompetente Beratung zur Unterstützung der Betroffenen bei der Bewältigung der mit ihrer sozialen Situation verbundenen Schwierigkeiten angezeigt.

In Warnemünde wollen sich die Experten bis Freitag über Anlässe und Methoden der Beratung sowie der Psychotherapie sowie Gemeinsames und Trennendes austauschen. Kritisch soll reflektiert werden, dass Menschen nicht weiterhin unnötig zu Patienten gemacht werden. Oft sei bereits eine niedrigschwellige Beratung hilfreich. Dann könnten Menschen eigenverantwortlich ihre Probleme lösen. Aber allzu oft werden bei psychischen und sozialen Problemen zu schnell medizinische Diagnosen gestellt. Und die öffentliche Aufmerksamkeit die das Thema "psychische Belastungen in der Arbeitswelt" erfährt, führt mehr und mehr dazu, dass sich Individuen als psychisch gefährdet und überlastet fühlen. Um dieser Problematik angemessen zu begegnen, ist eine sorgfältige Abklärung notwendig, ob und welche Art von professioneller Unterstützung der Einzelne benötigt.

"Beratung zu psychosozialen Problemen und Psychotherapie müssen eingesetzt werden, wenn sie angezeigt sind", betont Schneider. Der Hausarzt könnte nach seinen Worten dabei eine Schlüsselposition einnehmen. Aber ihm fehle es oft an Zeit oder seine entsprechenden Beratungen würden nicht angemessen finanziert. Wenn eine Psychotherapie angezeigt sei, stelle sich in Mecklenburg-Vorpommern das Problem, dass gerade im ländlichen Bereich eine zu geringe Anzahl an Psychotherapeuten zur Verfügung stehe. MV trage nach Sachsen Anhalt die Rote Laterne.

Text: Wolfgang Thiel


Kontakt:
Universitätsmedizin
Zentrum für Nervenheilkunde
Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider
Mail: wolfgang.schneider@uni-rostock.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution210

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universität Rostock, Ingrid Rieck, 20.08.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2014