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PFLEGE/819: Fachtag Pflege des Sozialverbands Deutschland fordert eine "Zeitenwende" (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 11, November 2022

"Zeitenwende in der Pflege" gefordert

von Martin Geist


PFLEGE. Mehr Mitsprache der Städte, Landkreise und Gemeinden beim Thema Pflege? Ja bitte, lautete die fast einhellige Antwort beim Fachtag Pflege des Sozialverbands Deutschland (SoVD) in Neumünster. Aus Sicht der Kommunen ist das aber an eine entscheidende Bedingung geknüpft: Mehr Kompetenzen sollen nicht an zusätzliche Kosten geknüpft sein.


Wie sich die Gesellschaft um pflegebedürftige Menschen kümmert, wird von den Leitplanken der im Jahr 1995 eingeführten Pflegeversicherung geprägt. Das betonte zum Auftakt der Tagung in der Stadthalle Neumünster Jurist und Verwaltungswissenschaftler Prof. Ingo Heberlein, der auch dem SoVD angehört. Einige der damaligen Grundannahmen sind aus seiner Sicht allerdings aus der Zeit gefallen. So wurde nach Heberleins Analyse - ganz dem Zeitgeist Ende des alten Jahrtausends entsprechend - der Wettbewerbsgedanke hochgehalten - in der Hoffnung, damit innovativen Anbietern in Sachen Pflege den Marktzugang zu gewähren.

Tatsächlich ist Pflege nach seiner Einschätzung aber nicht besser, nicht innovativer und erst recht nicht billiger geworden, sondern in weiten Teilen ein Tummelplatz für Kapitalanleger: "Jeder, der will und ein bisschen Geld hinlegt, kann ein Pflegeheim errichten. Wer darin investiert, dem werden sichere Mieteinnahmen, eine attraktive Rendite und viele, viele weitere Vorteile versprochen."

Schleswig-Holstein scheint für private Anbieter sogar besonders attraktiv zu sein, denn gewinnorientierte Unternehmen betreiben hier zwei Drittel aller Heime, während etwa in Baden-Württemberg die 66-Prozent-Quote andersherum auf gemeinnützige Träger entfällt. Politisch steuern lässt sich das nicht, denn nach Angaben Heberleins sieht das Pflegegesetz beim Bau neuer Heime keinerlei Bedarfsprüfung vor.

Welche Folgen das haben kann, beschrieb der Kieler Sozialdezernent Gerwin Stöcken. Aktuell streckt in der Landeshauptstadt ein Unternehmen seine Fühler aus, um 200 Plätze für junge Pflegebedürftige im Alter ab ungefähr 40 oder 50 Jahren zu schaffen. In Kiel gibt es allerdings nach Stöckens Schätzung rund 20 oder 30 derart Bedürftige, sodass sich die Betreiber ein entsprechend großes Einzugsgebiet erschließen müssten. Das ist für den Stadtrat wegen der Entfernung zu den Angehörigen nicht nur ein menschliches Problem, sondern auch grundsätzlich bedenklich: "Solche Angebote binden Personal, das an anderen Stellen fehlt."

Ebenso sieht es Heberlein, nach dessen Einschätzung auch eine hohe Zahl an stationären Pflegeplätzen in Schleswig-Holstein immer knapper werdende Ressourcen bindet. Betroffen dabei seien neben den Pflegeheimen auch Krankenhäuser, betonten Heberlein und andere Fachleute.

Unter anderem vor diesem Hintergrund beschäftigte sich der Fachtag, an dem etwa 80 Interessierte teilnahmen, mit einem Papier der Bertelsmann-Stiftung zur Stärkung der kommunalen Verantwortung in der Pflege. Alfred Bornhalm, Landesvorsitzender des SoVD, dem in Schleswig-Holstein ungefähr 162.000 Mitglieder angehören, stimmte der Grundthese der Bertelsmänner durchaus zu. "Die Pflege muss vor Ort entschieden werden", hob er hervor und verwies entschieden darauf, dass es dabei nicht ums Geldsparen gehe: "Das ist nicht unser Thema."

Auch Stöcken sprach sich gegen das Marktprinzip aus - und rief zugleich die Konsequenzen ins Bewusstsein. Pflege, wenn sie denn menschenwürdig sein und den Bedingungen einer alternden Gesellschaft entsprechen soll, werde unweigerlich teurer. "Wir müssen uns fragen, was uns das Altern wert ist", sagte Stöcken und bezeichnete deutlich steigende Beiträge zur Pflegeversicherung als unausweichlich.

Stöcken hält mehr - und mit entsprechenden Zuwendungen honorierte - kommunale Steuerung für unabdingbar, nicht zuletzt, um kontraproduktive Zustände zu beenden. Als Beispiel nannte er den Übergang vom Krankenhaus zurück ins eigene Zuhause. Weil sich die Pflegeversicherung nicht für begleitende Unterstützung zuständig sieht, landeten Betroffene oftmals ohne Not im Heim, kritisierte Stöcken.

Die Nöte mit der Pflege für den ländlichen Raum skizzierte Christian Grelck, Fachbereichsleiter für Soziales im Landkreis Nordfriesland. Der demografische Wandel und der zunehmende Mangel an Fachkräften schlagen an der Westküste noch stärker durch. Gegensteuern wollen die Verantwortlichen mit einer Zuwendung zur sozialraumorientierten Pflege, mit viel mehr Kooperation zwischen den verschiedenen Trägern und nach Möglichkeit mit Vergütungen innerhalb von Budgets, statt nach Einzelfall.

Klar ist derweil allen Beteiligten, dass das System auf dem Land wie in den Städten kaum aufrechtzuerhalten ist, wenn nicht die Tagespflege und die häusliche Pflege gestärkt werden sowie die Kommunen mehr Einfluss erhalten. Nicht zuletzt muss nach Überzeugung des Sozialverbandsvorsitzenden Bornhalm an der Pflegeversicherung als solcher gearbeitet werden. Gefordert sei eine "Zeitenwende" auch in diesem Bereich, inklusive einer Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu einer echten Vollversicherung.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 11, November 2022
75. Jahrgang, Seite 21
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. Dezember 2022

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