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MENSCHENRECHTE/052: Gravierende Mängel in der gesundheitlichen Versorgung geflüchteter Menschen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2019

Ethik
"Mir brennt die Leber"

von Stephan Göhrmann


Veranstaltung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Schleswig-Holstein widmet sich der gesundheitlichen Versorgung geflüchteter Menschen. Funktionierende Kommunikation wichtigster Aspekt in der gesundheitlichen Versorgung geflüchteter Menschen.


Spätestens mit der hohen Zahl von Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten ist der Anteil derer, die nicht regulärer Teil des Gesundheitssystems sind, gestiegen. Mit der Veranstaltung "Gesundheit ist ein Menschenrecht" widmete sich der Paritätische Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein diesem Thema.

Bei vielen stößt auf Unverständnis, dass Menschen, die jahrelang auf der Flucht waren, ihr Leben riskierten und alles hinter sich lassen mussten, in einem Land, das für ein qualitativ hochwertiges Gesundheitswesen bekannt ist, keinen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben. "Es ist skurril, dass hier so viele Menschen sitzen, die sich dafür einsetzen, dass ein Grund- und Menschenrecht Anwendung findet", sagte etwa Dr. rer. pol. Ayça Polat, Professorin im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Kiel.

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150 Experten aus dem Gesundheitswesen, der Sozialen Arbeit und der Politik diskutierten im Rahmen der Fachtagung über die Gesundheitsversorgung von geflüchteten Menschen in Schleswig-Holstein.
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Polat kritisierte die geringen Sozialleistungen für Asylbewerber. Sie fallen geringer aus, als die eines Menschen, der Grundsicherung (ALG II) bezieht. Das führe zu Behandlungslücken, die langfristig betrachtet teurer ausfallen als eine frühe Investition in die individuellen Gesundheitskompetenzen des Menschen. Das sieht Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, ähnlich. Er gab zu bedenken, dass Geflüchtete die gleichen Krankheiten wie Nicht-Geflüchtete haben, insbesondere wenn chronische Krankheiten in Betracht gezogen werden. Er forderte: "Die Menschen brauchen Gesundheitskompetenzen im präventiven wie krankheitsbezogenen Bereich. Hier gilt es alle zu erreichen, denn alle haben den gleichen Anspruch auf eine hochwertige und präventive Medizin." Anders, aber nicht weniger problematisch, sieht es bei psychotraumatischen Erkrankungen aus.

Laut Polat haben geflüchtete Menschen einen besonders eingeschränkten Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten - obwohl sie aufgrund der psychischen Belastungen durch Krieg und Krisen in den Herkunftsländern sowie durch ihre Fluchterfahrungen eine höhere Prävalenz aufweisen psychisch zu erkranken. Dies macht die geringen Sozialleistungen für Polat noch unverständlicher.

Obwohl das Recht auf Gesundheit für jeden Menschen im Grundgesetz verankert und ein Menschenrecht ist, gestaltet sich die Teilhabe an der gesundheitlichen Versorgung vor allem für Geflüchtete schwierig. Dass in den ersten Jahren viele geflüchtete Menschen gesundheitlich versorgt wurden, lag laut Herrmann vor allem am hohen Engagement der Ärzte und weiterer Gesundheitsfachberufe sowie an einer funktionierenden intersektoralen Zusammenarbeit. Heute sieht der Kammerpräsident das Gesundheitswesen vor neuen Herausforderungen. Deshalb forderte er in Kiel die Überführung der Geflüchteten in die Normalversorgung.

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Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beinhaltet unter anderem: "Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung (...)."
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Auch die Gesundheitsnetzwerke, die sich seit 2015 in zehn der 15 Kreise und kreisfreien Städte in Schleswig-Holstein gründeten, halten das für den einzig richtigen Schritt. Alle Beteiligten sind sich allerdings auch über die Baustellen im Klaren. Ein Aspekt einer funktionierenden Versorgung ist die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Sprachliche Hürden müssen überwunden werden. Wenn ein Patient nicht artikulieren kann, an welchen körperlichen Gebrechen er leidet, erschwert das den ärztlichen Befund. Schwieriger gestaltet sich die Diagnosestellung bei psychischen Leiden. Hier steht die Kommunikation im Vordergrund der Anamnese. Ein wichtiges Verbindungsstück in der Arzt-Patienten-Kommunikation ist der Dolmetscher. Er soll helfen, sprachliche und soziokulturelle Hürden zu überwinden.

In den Diskussionsrunden der Fachtagung wurde jedoch deutlich, dass viele strukturelle Probleme bestehen. Ein Diskussionsteilnehmer berichtete, dass ein Arzt die Behandlung abbrechen musste, weil nicht sichergestellt werden konnte, dass seine Behandlung und seine Therapieratschläge ordnungsgemäß übersetzt und angewendet wurden. Dass es zu wenig und zu wenig gut ausgebildete Dolmetscher gibt, sehen viele Teilnehmer in den Ausbildungsumständen des Berufs begründet. Eine Ausbildung zum Dolmetscher wird nicht berufsbegleitend, Fort- und Weiterbildungen gar nicht angeboten. Eine weitere Hürde ist die Finanzierung. Dolmetscher sind teuer und werden nicht von den Kostenträgern übernommen. Für die Teilnehmer ist das unverständlich, sieht das SGB V die Kostenerstattung etwa bei Gebärdendolmetschern vor: Gehörlose oder schwerhörige Menschen "haben in Deutschland das Recht auch im Umgang mit staatlichen Einrichtungen (z. B. Ämter und Behörden, Gerichte) sowie im Zusammenhang mit einigen zentralen Lebensbereichen (Gesundheit, Bildung, Arbeit) Gebärdensprache zu verwenden. Dieses Recht ist an verschiedenen Stellen des Sozialgesetzbuches sowie im Behindertengleichstellungsgesetz und im Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz verankert. Der Berufsverband der Gebärdensprachdolmetscher Berlin/Brandenburg schreibt deshalb auf seiner Internetseite: "Zur Wahrnehmung dieses Rechts können Sie Gebärdensprachdolmetscher hinzuziehen." In Schleswig-Holstein ist das nicht anders: "Der Anspruch gehörloser Menschen auf Gebärdensprachdolmetscher insbesondere bei Behörden, Polizei, Gericht, im medizinischen Bereich, aber auch am Arbeitsplatz ist gesetzlich geregelt."

Als Antwort auf den Mangel an Dolmetschern und die Probleme der Kostenübernahme sah ein Diskutant ein Projekt aus Hamburg: Der Verein Segemi, Seelische Gesundheit - Migration und Flucht e.V., hat ein Konzept mit einem Pool von Dolmetschern entwickelt. Die Übersetzer kommen kostenlos in die Praxen. Das Projekt zielt nach eigenen Angaben auf die Teilhabe an der gesundheitlichen Versorgung behinderter Menschen mit Fluchterfahrung. Darunter fallen neben der körperlichen oder der geistigen Behinderung auch seelische Behinderungen oder chronische Erkrankungen. Das Modellprojekt wird durch die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Stadt Hamburg gefördert.

Ein Beispiel für die Bedeutung funktionierender Kommunikation unter Beachtung soziokultureller Merkmale ist der Ausdruck "Mir brennt die Leber". In manchen Kulturen ist der Begriff der Psyche nicht bekannt. Stattdessen wird auf eine Körper-Codierung zurückgegriffen. "Während bei uns das Herz etwas Emotionales ist, ist es bei den Arabern die Leber. Jemand, der über eine brennende oder schmerzende Leber berichtet, ist nicht alkoholkrank. Es kann sein, dass er traurig ist und mit etwas nicht zurechtkommt", erklärte Prof. Jan Kizilhan in einem Interview mit dem Magazin Cicero aus dem Jahr 2017. Der Islamwissenschaftler ist Psychologe und transkultureller Psychotherapeut.

Was für Dolmetscher gilt, gilt auch für Psychotherapeuten: Es gibt zu wenige. Vor allem auf dem Land macht sich das bemerkbar. "Eine Traumatherapie muss nicht zwangsläufig von einen Traumatherapeuten durchgeführt werden. Gerade in der Fläche gibt es kaum entsprechende Therapeuten, dafür aber viele Menschen mit pädagogischem traumatologischem Hintergrund", sagte eine Teilnehmerin der Veranstaltung. "Wenn alle kämen, die kommen müssten, hätten wir gar nicht die Kapazitäten dazu", berichtete ein Teilnehmer in einer der Gesprächsrunden. Viele der Anwesenden hatten auch die praktische Erfahrung gemacht, dass nicht jeder Mensch zwangsläufig eine Traumatherapie erhalten muss. Zuspruch zur Selbstständigkeit und Selbsthilfe würde oftmals genügen. Miteinander ins Gespräch zu kommen, könne schon zu einem gewissen Teil helfen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201910/h19104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Oktober 2019, Seite 16 - 17
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2019

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