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INTERVIEW/028: Der Entnahmediskurs - Der beschnittene Tod, Gespräch mit Prof. Dr. Claudia Wiesemann (SB)


Interview am 12. September 2013 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld


Am Vortragspult mit Bildprojektion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Claudia Wiesemann zur Frage "What Is an Organism As a Whole?"
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Ärztin, Medizinethikerin und Medizinhistorikerin Prof. Dr. Claudia Wiesemann ist Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und dort in Forschung und Lehre tätig. Sie ist seit 2012 Mitglied des Deutschen Ethikrats und seit 2011 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO). Bis 2012 war sie zehn Jahre lang Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM).

In ihrem Vortrag auf dem Workshop "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" widmete sich die renommierte Wissenschaftlerin der Frage, was einen Organismus als Ganzes ausmacht. Dabei ging es ihr nicht darum, eine ethische Empfehlung zur Debatte um die Entnahmekriterien auszusprechen.

Im Lichte der Definitionen zur "somatischen Integration" und der "vitalen Arbeit des Organismus", die der nationale US-amerikanische Ethikrat President's Council on Bioethics (PCBE) im Dezember 2008 im sogenannten White Paper veröffentlichte, schilderte Wiesemann den historischen Werdegang des Begriffs "Organismus". Die mit dessen Hilfe vorgenommene Grenzziehung zwischen unbelebten und belebten Entitäten beziehe sich auf eine Art konstanter Aktivität, die insbesondere in Hinsicht auf Selbsterhalt und Selbstreparatur sowie Reproduktion in Erscheinung trete. Da diese Aktivitäten bis hinunter zur Zelle als kleinster funktionaler Einheit des Organismus nachgewiesen werden konnten, wurde der Begriff für neue medizinische Theorien zentral.

Auf welche Weise die Milliarden Zellen miteinander kooperieren, um einen Organismus als Ganzes zu bilden, ist nach wie vor Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Die vom PCBE bezogene Position zur fundamentalen Bedeutung des Antriebs zum Atmen für die vitale Arbeit des Organismus stellte Wiesemann in Frage, indem sie weitere unverzichtbare Bedingungen nannte, die die Funktionsfähigkeit des Organismus sicherstellen. Der Antrieb der Zellen, miteinander zu kooperieren, der durch Immunreaktionen gewährte Erhalt der Identität des jeweiligen Körpers und die der Zelle innewohnende Notwendigkeit zur Reproduktion, die sie veranlaßt, nach Ablauf ihrer Lebensspanne Tochterzellen zu bilden, sind für Wiesemann nicht minder bedeutsam. Sie geht daher von einer Struktur kooperativer, überall in der Physis zu verortender Netzwerke aus essentiellen Antrieben zum Erhalt des Organismus aus.

Schließlich ermögliche das aus den extrazellulären Flüssigkeiten inklusive des Blutes bestehende innere Milieu des Organismus diese komplexen Interaktionen des Körpers und die Aufrechterhaltung seiner zahlreichen homöostatischen Gleichgewichtszustände. Die Regulation des Energie-, Flüssigkeits- und Mineralienhaushaltes und anderer physiologischer Prozesse sichert die Stabilität der vitalen Arbeit des Körpers, und das sei auch das wichtigste Ziel intensivmedizinischer Maßnahmen. Sie zielten zwar auf die Beeinflussung des inneren Milieus, doch seien sie nicht in der Lage, den Organismus als Ganzes in seinen Funktionen zu ersetzen. Das gelte auch für die künstliche Beatmung der Lunge, die auf diese nach außen abgegrenzte Sphäre körperlicher Regulation und Funktionssicherung einwirkt. So könnten kleinere Teile und einzelne Funktionen des Organismus etwa durch die Transplantation vitaler Organe oder die künstliche Beatmung ersetzt werden, nicht jedoch die vitale Arbeit des Organismus als Ganzes.

Wenn der PCBE im White Paper erklärt, daß die spontane Tätigkeit der Atmung die essentielle Arbeit sei, die das Leben definiere, also ihre unumkehrbare Beendigung das Eintreten des Todes markiere, dann sei das als zu simplifizierende Sichtweise zurückzuweisen, lautete die abschließende Kritik der Referentin an dieser Position des US-amerikanischen Ethikrates.

Im Anschluß an ihren Vortrag, der an dieser Stelle in seinen Grundlinien nachgezeichnet wurde, beantwortete Claudia Wiesemann dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2013 by Schattenblick

Claudia Wiesemann
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Der Kongreß erweckt den Eindruck, daß das Thema Hirntod, das in den 90er Jahren noch intensiv diskutiert wurde, heute im Grunde nicht mehr im Mittelpunkt steht. Statt dessen scheint es um die Neudefinition der Frage zu gehen, inwiefern Organspende nach der Kritik von Alan Shewmon an der Hirntodkonzeption und der daran anknüpfenden Empfehlung des Nationalen Ethikrats der USA noch möglich ist. Meinen Sie, daß über das Thema Hirntod ausreichend diskutiert wurde?

Claudia Wiesemann: Nein, auf keinen Fall. Gerade bei Shewmons neuem Konzept steht der Hirntod nicht mehr für den Tod des Menschen, das heißt, er betrachtet Hirntote überhaupt nicht als Tote. Das wirft natürlich die Frage auf, um was für einen Zustand es sich beim Hirntod aus der Perspektive Shewmons handelt. Zudem sprechen sich mehr und mehr Transplantationsmediziner dafür aus, Organe auch von Herztoten entnehmen zu dürfen. Auch in Deutschland gibt es Versuche, diese Technik zu etablieren. Angesichts dessen wird auch der Hirntod neu diskutiert werden müssen. Denn dann muß man sich die Frage stellen, warum es nicht mehr nötig sein soll, einen über zwölf Stunden anhaltenden und damit aller Wahrscheinlichkeit nach irreversiblen Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen nachzuweisen, sondern warum man schon fünf Minuten, nachdem das Herz aufgehört hat zu schlagen, mit einer Organentnahme beginnen darf.

SB: Sind Sie nicht der Meinung, daß die Organspende nach Herzstillstand dadurch ins Gespräch kommt, daß das Konzept des Hirntods durch innere Widersprüche erschüttert wurde?

CW: Es ist ein weiteres Faktum, das auf die Widersprüche in der Hirntoddefinition verweist und Themen wieder an die Oberfläche holt, die schon vor zehn oder zwanzig Jahren diskutiert wurden, aber nicht ernst genug genommen worden sind.

SB: In Ihrem Vortrag sind Sie auf den Begriff des Organismus eingegangen. Inwiefern unterscheidet sich Ihr Konzept von dem Herrn Shewmons, das im wesentlichen auf die Integrationsleistung des Körpers ohne Beteiligung des Gehirns abstellt?

CW: Ähnlich wie Shewmon halte auch ich die Integration des Organismus als Ganzen für jenes entscheidende Kriterium, das einen lebenden Organismus auszeichnet. Wie Alan Shewmon denke ich, daß es sich um ein komplexes Vermögen handelt, das sich aus mehreren Einzelleistungen ergibt. Daraus leitet er eine seiner Todesdefinitionen ab: Wenn diese antientropische Kraft nicht mehr ausreichend wirksam ist, hält er den Körper für deanimiert. Darin stimme ich ihm zu.

Shewmon und ich sind beide von der Ausbildung her Mediziner; ich bin allerdings seit über 20 Jahren nicht mehr in der praktischen Medizin tätig. Aber die Zugangs- und Denkweise bleibt einem. Wie Shewmon versuche ich, Leben und Tod vom Organismus her zu begreifen. Das Defizit mancher philosophischer Ansätze ist, daß sie eine zu einfache Vorstellung von der Art und Weise haben, wie ein menschlicher Organismus funktioniert. Sie stellen sich den Organismus wie eine Maschine vor, die durch einen Piloten oder Autopiloten gesteuert wird. So funktioniert das aber nicht.

SB: Steht das Konzept des Organismus als Ganzes für Sie synonym dafür, daß der Organismus im Sinne dieser integrierten Funktion mehr ist als die Summe seiner Teile?

CW: Auf jeden Fall. Dabei handelt es sich um ein besonders interessantes Vermögen von vielzelligen Lebewesen; die Kooperation vieler Zellen verschafft dem so entstehenden Organismus einen deutlichen evolutionären Vorteil.

SB: Sie sind in Ihrem Vortrag auch auf die "Cellularpathologie" Rudolf Virchows eingegangen. Bei der Frage nach den Agentien des Organismus kommt man in dem Fall auf die einzelne Zelle, die im Austausch mit ihrem Milieu wiederum funktionale Ketten mit anderen Zellen bildet, bis eine organismische Struktur entsteht. Dieser Ansatz folgt einem altbekannten Muster im philosophischen Denken, das oft in einer Letztbegründung endet. Wenn es im Grunde um die Frage geht, wer wen bewegt, müßte man sich im Fall der Zelle nicht fragen, was sie steuert?

CW: Genau, das ist auch das Spannende daran, daß es nämlich diese am Ende einer linearen Kette stehende, vermeintlich letzte Ursache nicht gibt. Eine Zeitlang hat man das Genom für den Autopiloten gehalten, der uns steuert. Doch das hat sich mittlerweile als Irrtum herausgestellt, denn es sind ebenso epigenetische Faktoren, die Zellwachstum und Zellkooperation und letztlich auch das Wachstum des Organismus befördern. Wenn wir den Organismus betrachten, müssen wir von Anfang an eine Systemperspektive einnehmen. Auch das Gehirn ist nicht die letzte Ursache unseres Lebendig-Seins. Wir müssen uns von dem klassischen linear-hierarchischen Denken verabschieden, das leider auch der alten Hirntod-gleich-Tod-Definition zu Grunde liegt.

SB: Die Neurowissenschaften haben einen starken Aufstieg genommen, als sie in Bereiche vordrangen, die früher der Philosophie vorbehalten waren. Könnte es sein, daß es dabei um die Erlangung der Definitionshoheit darüber geht, wer letztlich den gesellschaftlichen Zugriff auf den Organismus hat, indem er formuliert, wie er funktioniert?

CW: Man kann es als Machtfrage interpretieren. Ich möchte es jedoch zunächst vorsichtiger als Frage der Expertise auffassen. Das Phänomen Leben ist nun einmal so facettenreich, daß sich sehr viele Personen zu Recht als Experten verstehen könnten, die Philosophen wie die Neurowissenschaftler, aber auch die Kliniker auf der Intensivstation oder die sogenannten Laien, z. B. Angehörige, die auf Lebenszeichen eines Patienten reagieren. Deshalb sollte man nicht so tun, als wären die Dinge einfach, das sind sie nicht. Vor allen Dingen sollte man die Komplexität der Fragestellung, die außerhalb der eigenen Disziplin liegt, nicht unterschätzen.

SB: Als das Transplantationsgesetz verabschiedet wurde, fand eine durchaus interdisziplinär geführte gesellschaftliche Debatte um die Frage des Hirntods statt. Heute scheint es angesichts des jüngsten Organspendeskandals und infolge der Debatte um die Zustimmungs-, Entscheidungs- oder Widerspruchslösung nur noch um Verteilungsfragen zu gehen. Sollte die Debatte um die Gültigkeit der Hirntodkonzeption Ihrer Ansicht nach noch einmal geführt werden?

CW: Ja, sie sollte noch einmal geführt werden. Die Transplantationsmedizin berührt nun mal wesentliche Grundfragen des menschlichen Daseins. Man muß sich doch fragen, warum es gleich zu einem solchen Skandal kommt, wenn "nur" ein oder zwei Ärzte Listen gefälscht haben? Dahinter verbirgt sich, so glaube ich, ein unterschwelliges Unbehagen an der Art und Weise, wie die Transplantationsmedizin sich organisiert und gewissermaßen sich selbst rechtfertigt. Das Unbehagen resultiert auch aus einer gewissen Oberflächlichkeit im Umgang mit den existentiellen Fragen, die der Organspende zugrunde liegen. Die Frage, was der Tod des Menschen ist, ist eben nicht trivial.

SB: Auf der Konferenz werden im Grunde genommen elementare Fragen behandelt, die jeden Menschen so grundsätzlich betreffen, daß man sich eigentlich eine andere Übersetzung nicht nur der Hirntod-Debatte, sondern auch der biologischen und sozialen Grundlagen dieser Frage wünschte. Welchen Beitrag können die Wissenschaften dazu leisten?

CW: Ja, Sie haben recht, man muß diese Fragen, die hier auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau, von internationalen Experten und auf Englisch diskutiert werden, natürlich so übersetzen, daß sie die Mehrheit der Bevölkerung verstehen kann. Ich glaube, daß die Wissenschaftler selbst noch gar nicht so weit sind. Denn um etwas gut übersetzen und sich damit verständlich machen zu können, muß man zunächst einmal selbst ein schlüssiges Konzept vorzuweisen haben. Auf dieser Konferenz wird gerade um ein solches glaubwürdiges und schlüssiges Konzept gerungen.

SB: Frau Wiesemann, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

BERICHT/014: Der Entnahmediskurs - Fluß der Fragen, Meer der Zweifel (SB)
BERICHT/015: Der Entnahmediskurs - Ein Schritt vor, zwei zurück (SB)
BERICHT/016: Der Entnahmediskurs - Die Patienten, das sind die anderen ... (SB)
BERICHT/017: Der Entnahmediskurs - mit offenem Visier (SB)
INTERVIEW/022: Der Entnahmediskurs - Außen vor und mitten drin, Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Stoecker (SB)
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INTERVIEW/027: Der Entnahmediskurs - Lebenswert und Lebensnutzen, Gespräch mit Dr. Jürgen in der Schmitten (SB)

6. Januar 2014