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INTERVIEW/004: Ersatzteillager Mensch - Gisela Meyer plädiert für kritische Aufklärung (SB)


"Was wir nicht aussprechen, sagt niemand"

Interview mit Gisela Meyer am 24. März 2012 in Essen-Steele



Gisela Meyer hat die Initiative "Kritische Aufklärung über Organtransplantation" (KAO) [1] mitgegründet. Darin haben sich Eltern zusammengeschlossen, die ihre Zustimmung zu einer Organentnahme bei ihren Kindern später bitter bereuten und nun aufgrund ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse einen Beitrag zur sachkundigen Information leisten wollen. Auf der Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert", die am 23./24. März 2012 im Kulturzentrum GREND in Essen-Steele stattfand, gab Gisela Meyer in einem Vortrag Einblick in die Situation betroffener Eltern und begründete ihre kritischen Einwände gegen eine Transplantationsmedizin, die das Leid zweier Menschengruppen in unseliger Weise miteinander verknüpft. Im Anschluß an das Plenum beantwortete die Referentin dem Schattenblick einige Fragen.

Gisela Meyer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gisela Meyer
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben in Ihrem Vortrag berichtet, daß die Angehörigen systematisch von ihrem sterbenden Kind, dessen Organe die Mediziner explantieren wollen, getrennt werden. Warum wird das Ihrer Meinung nach gemacht?

Gisela Meyer: Im Grunde herrscht da Zeitdruck. Wenn sich ein Mensch eine schwere Hirnverletzung zugezogen hat und man vom sogenannten Hirnversagen ausgehen muß - was es ehrlicher als der verwendete Begriff "Hirntod" ausdrückt -, gibt es einen gewissen Zeitdruck, der auf die Angehörigen umgelastet wird.

SB: In Ihren Ausführungen wurde das Interesse der Transplantationsmediziner deutlich, die Angehörigen fernzuhalten, weil man nicht möchte, daß sie mitbekommen, was da wirklich geschieht. Könnte das auch ein wesentlicher Grund sein?

GM: Ja, auf jeden Fall. In der Regel gehen Angehörige völlig uninformiert in eine derartige Situation, weil keine ehrliche Aufklärung stattfindet. Es gibt keine angemessene Information. Ich selbst komme aus der Krankenpflege und bin früher dennoch davon ausgegangen, was im Spenderausweis steht: "Nach meinem Tod". Wir sind alle so gutgläubig und nehmen "nach meinem Tod" für bare Münze. Man stellt sich nicht die Frage, ob das überhaupt möglich ist, da doch ein totes Organ für eine Übertragung nicht mehr geeignet ist. Soweit befaßt man sich mit dieser Problematik normalerweise nicht, außer man ist selbst davon betroffen. Das kommt einem alles erst hinterher zu Bewußtsein. Es fehlt da völlig an Aufklärung, die auch in der kritischen Situation selbst nicht gegeben wird. Die Angehörigen sollen auch gar nicht aufgeklärt werden, da sie sonst ihre Zustimmung vielleicht doch noch verweigern könnten, um lieber bei ihrem Kind zu bleiben.

Das in der Diskussion angeführte Beispiel von Angehörigen, die einer Organentnahme bei ihrem Kind nicht zugestimmt haben, kann ich mir nur so erklären, daß sich die Eltern vorher informiert haben. Wir sind ja mit der KAO im Internet präsent, veröffentlichen unsere Telefonnummern und bekommen auch Anrufe von Menschen, die uns ihre Situation schildern und fragen, wie sie sich verhalten sollen. In den meisten Fällen sind sie auf unsere Internetadresse gestoßen und möchten sich Rat holen. Diese Möglichkeit gibt es also. Und dann erfahren sie eben etwas ganz anderes und bekommen Dinge zu hören, die die anderen verschweigen.

SB: Würden Ihrer Erfahrung nach viele Eltern anders reagieren, sofern sie vorher die Möglichkeit hätten, sich gründlich zu informieren?

GM: Ganz bestimmt. Das ist es ja gerade, was ich anklage: Dieses schamlose Ausnutzen dieser Schocksituation, in der die Angehörigen überhaupt nicht übersehen können, was da läuft. Es handelt sich um eine Situation, in der man den betroffenen Menschen eigentlich mit größtem Respekt begegnen müßte. Die Eltern sind damit konfrontiert, ihr Kind zu verlieren. Wie können wir ihnen helfen? Was können wir diesem sterbenden Kind noch Gutes tun? Das wären Fragen, die Menschlichkeit und Zuwendung gebieten. Statt dessen bedrängt man wie in unserem Fall Eltern, die von einer schlimmen Nachricht regelrecht überrollt werden, mit Fragen nach der Organentnahme. Sie erleben einen psychischen Zusammenbruch, der ihr Selbstwertgefühl untergräbt. Man fühlt sich so schlecht und fragt sich schuldbewußt, was man getan hat, daß dieses Unglück über einen kommt.

Man sucht verzweifelt danach, was man in dieser Lage Gutes und Hilfreiches tun könnte, damit man jetzt und später mit dieser Situation klarkommt. Ich habe ja versucht, deutlich zu machen, daß ich das wirklich infam finde, den Eltern in dieser Lage vorzuhalten, sie könnten ja doch etwas Gutes tun, sie könnten Helden werden. Das möchte man ja insofern auch, als es unsere Mitmenschlichkeit ausmacht, nicht zu wünschen, daß jemand anders in eine derart elende Situation gerät. Man möchte ja jemandem helfen und wird daraufhin von den ureigensten Bedürfnissen abgezogen.

Ich hätte damals unbedingt zum Weiterleben gebraucht, daß ich mein Kind bis zuletzt begleiten könnte. Ich habe dieses Kind geliebt und hätte es noch einmal in den Arm nehmen müssen. Allein das ist schon schwer genug, aber es stellt die Weichen für die Trauer. Dann ist man irgendwann soweit, daß man wie wir in Solidarität mit anderen Eltern die Trauer als Teil unseres Lebens annehmen kann. Was unser Leben jedoch erschwert hat, ist das, was wir bei unserem Kind zugelassen haben. Ich habe ja zitiert, was mein Mann zur Trauer gesagt hat: Ich habe versagt, ich schäme mich. Das ist sehr oft das Gefühl, das Eltern hinterher haben. Sie schämen sich und werfen sich vor, versagt zu haben.

SB: Wir hatten ja auch das Argument gehört, daß manche Eltern sagen, wir freuen uns, daß unser Kind durch diese Organspende in anderen weiterlebt. Können Sie das nachvollziehen?

GM: Ich weiß, daß es das gibt. Ich habe einmal mit einer Frau auf dem Podium gesessen, die diese Auffassung vertrat. Ich kann das nur respektieren, wenn es ihr zum Überleben hilft, denn es ist grundsätzlich eine extrem schwere Situation, mit dem Verlust eines Kindes weiterzuleben. Ich selber kann eine derartige Einstellung indessen ganz und gar nicht teilen, weil sie für mich etwas Kannibalistisches an sich hat. Für mich ist das wirklich etwas Perverses, weil mein Kind ganz individuell ist mit allem, was es ausmacht, mit seinem ganzen Leib, mit seiner Seele, mit seinem Geist. Ich hätte mich damit nie trösten können und durfte gar nicht daran denken, daß nun ein anderer Mensch seine Organe in sich trägt. Es war mir sogar ein Trost, zu denken, jetzt sind zehn Jahre vergangen, vielleicht sind die Organe inzwischen abgestoßen. Und das obwohl ich wirklich ein hilfsbereiter Mensch bin und gerade durch meine eigene Leiderfahrung natürlich möchte, daß andere Menschen vor Leid bewahrt werden. Aber es gibt Grenzen für uns Menschen, und diese Art von Leidvermeidung hat eine grausame andere Seite.

SB: Sie und ihre Mitstreiter werden von ärztlicher Seite als eine Fraktion diskreditiert, mit der man besser nicht spricht, weil sie eine sehr merkwürdige Einstellung habe, weshalb man sie oftmals gar nicht erst zu Diskussionsveranstaltungen einlädt. Welche Verachtung und Diskriminierung wurde Ihnen persönlich entgegengebracht?

GM: Eine ganze Menge. Wir werden schlechtgemacht und als psychisch labil bezeichnet. Es heißt dann, wir hätten den Tod unseres Kindes nicht verkraftet und gönnten anderen deswegen das Leben nicht, oder wir hätten altmodische Vorstellungen vom Sterben, wie ich es mir erst kürzlich anhören mußte. Ich denke, es hat einen tiefen Grund, weswegen man uns schlechtmacht und meidet. Im Grunde wissen diese Ärzte, daß es stimmt, was wir zu sagen haben. Sie können das nicht widerlegen und deswegen gehen sie uns aus dem Weg. Bei sämtlichen Veranstaltungen, in denen ich mit Transplantationsmedizinern auf dem Podium gesessen habe, ist nie jemand hinterher auf mich zugegangen, und sei es nur, um sich wenigstens von mir zu verabschieden, wie man es normalerweise als höflicher Mensch macht, wenn man gemeinsam an einer Diskussion teilgenommen hat. Sie laufen vor uns weg, weil sie genau wissen, daß wir die Wahrheit sagen und sie uns nicht widerlegen können.

SB: Macht es aus Ihrer Sicht überhaupt Sinn, sich solchen
Podiumsveranstaltungen zu stellen?

GM: Es macht Sinn. Ich empfinde es als Auftrag aus dem Sterben meines Sohnes. Ich hätte nicht dazu schweigen können, obwohl ich ja lange brauchte, um das überhaupt zu machen. Ich bin kein Mensch, der gerne an die Öffentlichkeit geht, und kann die Eltern gut verstehen, die verstummen und gar nichts sagen. Es hat auch meinen Mann und mich unglaubliche Überwindung gekostet, aber wir waren einfach an einem Punkt angelangt, an dem wir uns sagten, wir haben das erlebt und erkannt. Ich war ja früher ein Mensch, der dachte, eine Organspende, die Leben rettet, muß etwas Gutes sein. Für mich selber wollte ich das zwar nie, doch wer möchte nicht, daß einem schwerkranken Menschen geholfen wird.

Es macht Sinn, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, denn was wir nicht aussprechen, sagt niemand. Natürlich überkommt einen manchmal die Resignation, in der man sich fragt, was man da eigentlich macht. Wenn man bedenkt, daß die Gegenseite mit Fernsehsendungen Tausende Menschen erreicht, während wir nur in Einzelgesprächen oder wie hier im kleinen Kreis Gehör finden, können einen mitunter schon Zweifel beschleichen. Doch auch wenn wir nur eine kleine Gruppe sind und wie David gegen Goliath kämpfen, so hoffen wir doch, daß durch unsere Öffentlichkeitsarbeit mehr Menschen Mut fassen. Würden wir nicht unsere Stimme erheben, überließen wir einer einseitigen Aufklärung völlig das Feld.

SB: Vielen Dank, Frau Meyer, für dieses aufschlußreiche Gespräch.

Fußnote:

[1]‍ ‍http://www.initiative-kao.de/g-meyers-report.html

Gisela Meyer mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gisela Meyer mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

13.‍ ‍April 2012