Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → PSYCHIATRIE


ARTIKEL/437: Gespräch - Stellen Familien die Leistungen ein, bricht das professionelle Hilfesystem zusammen... (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 146 - Heft 4/14, Oktober 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Wenn wir Familien unsere Leistungen einstellen würden, dann bräche das gesamte professionelle Hilfesystem zusammen"

Mit Gudrun Schliebener, der Ersten Vorsitzenden des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (BApK)/Familienselbsthilfe Psychiatrie sprach SP-Redaktionsmitglied Christian Zechert.


SP: Wer ist ein "Angehöriger"?

Schliebener: Jede und jeder, die oder der sich einem psychisch kranken Menschen angehörig fühlt; er muss Bezugsperson sein und das tun, was Familie leistet. In den Angehörigengruppen unterstützen sich Eltern, Partner, Geschwister, und nicht zuletzt sind auch die Kinder psychisch Kranker Angehörige. Wir haben neben den unmittelbaren Angehörigen auch psychiatrieerfahrene Mitglieder, professionell Tätige und institutionelle Mitglieder als Fördermitglieder, wenn sie sich insbesondere den Angehörigen verpflichtet fühlen.

SP: Der BApK bezeichnet sich auch als Familienselbsthilfe. Was ist darunter zu verstehen?

Schliebener: Wir sind die Interessenvertretung betroffener Familien. Es gibt viele Psychiatrie-Erfahrene, die nicht in der Lage sind, ihre Interessen selber oder alleine zu vertreten, auch sie sind Teil der "Familienselbsthilfe". Familien mit einem betroffenen Familienmitglied leisten ständig Selbsthilfe.

SP: Der BApK soll zusammen mit den sechzehn Landesverbänden der Angehörigen über zirka 8700 organisierte Mitglieder verfügen. Dies ist eine beeindruckende Zahl. Trotzdem stellt sich auchfür den BApK die Frage nach einem Generationenwechsel. Wie will er diesen bewältigen?

Schliebener: Ob die Zahl von 8700 organisierten Angehörigen so stimmt, kann ich nicht beurteilen. Wir verfügen über sechzehn Landesverbände mit jedoch unterschiedlicher Mitgliederstruktur. Mitglied kann die ganze Familie sein, einzelne Personen, z.B. beide Elternteile. Bei uns verfügen vor allem die Landesverbände der großen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen oder Bayern über hohe Mitgliederzahlen. Der Bundesverband selbst, also der BApK, hat nur die Landesverbände als Mitglieder.

Zur Frage nach dem Generationenwechsel: Wir wissen um das Problem seit vielen Jahren, haben aber noch keine Strategie gefunden. Wir diskutieren darüber, verfügen aber noch nicht über eine Lösung des Problems. Viele unserer Mitglieder sind älter als sechzig Jahre. Dem Generationenwechsel müssen wir uns stellen.

SP: Die "Agenda 2020" des BApK: Was ist das, und welche zentrale Forderung steht im Vordergrund?

Schliebener: Das ist der gemeinsame Forderungskatalog für die Versorgung psychisch kranker Menschen aus der Perspektive der Betroffenen und ihrer Familien. Die zentrale Forderung lautet dabei: endlich die Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken sicherzustellen. Schaut man ins SGB XII, da gibt es keine Förderung in Arbeit mehr. SGB II: Auf die Besonderheiten psychisch Kranker wird nicht Rücksicht genommen. Viele Schwererkrankte sind von Versicherungsleistungen ausgeschlossenen. Die wirkliche Gleichstellung mit somatisch Erkrankten fehlt noch immer, wenn man dies im Detail prüft. Eine weitere wichtige Forderung ist: Anerkennung der Leistung der betroffenen Familien und Anerkennung des Hilfe- und Unterstützungsbedarfs der betroffenen Familien.

Wichtig ist aus unserer Sicht auch, dass neben dem BApK viele andere Selbsthilfeorganisationen an dem Forderungskatalog mitgewirkt haben.

SP: Aus der Sozialpsychiatrie wird der Vorwurf erhoben, der BApK werde mit Geldern der pharmazeutischen Industrie gesponsert. Was ist daran wahr und was nicht?

Schliebener: Wenn Sie in den Jahresbericht 2013 des BApK schauen, dann werden Sie sehen, dass wir keinerlei Förderung mehr von der pharmazeutischen Industrie erhalten haben. Das sieht in diesem Jahr nicht anders aus. Grundsätzlich lehnen wir Sponsoring nicht ab - nicht durch Krankenkassen, die Ministerien, einzelne Persönlichkeiten, Industrie etc. Aber: Wir machen keine Werbung, sprechen keine Empfehlung für ein Unternehmen oder ein Präparat aus. Wir laden keine Referenten aus der pharmazeutischen Industrie ein. Wir lassen uns auch nicht in eine Lokalität einladen oder Fahrtkosten bezahlen. Innerhalb des Verbandes und der Landesverbände gibt es hierzu sicherlich auch unterschiedliche Positionen.

SP: Asmus Finzen hat geschrieben, die Psychiatrie sei "eine Zumutung für die Familien Stimmt dies?

Schliebener: Ja, das trifft absolut zu, so wie die Psychiatrie derzeit organisiert ist. Lassen Sie mich das verdeutlichen. Wenn die Klinik sagt, wir entlassen jetzt in die Tagesklinik, stimmt dies so nicht. Entlassen wird in die Familie, erst aus ihr heraus erfolgt der Besuch der Tagesklinik. Wir sind doch der tragende Hintergrund. Über diese privaten Strukturen, über die Bedeutung der Familie wird nicht nachgedacht. Wir sind es, die mit den Betroffenen zusammenleben, wir finanzieren in vielen Fällen deren Lebensunterhalt, wir sind es, die zuerst merken, wenn etwas nicht mehr stimmt oder nicht mehr passt. Uns wird vorgehalten, es gäbe in den wissenschaftlichen Studien keine Evidenz für die Einbeziehung der Angehörigen in die Behandlung. Dazu kann ich nur sagen, wenn wir Familien unsere Leistungen einstellen würden, dann bräche das gesamte professionelle Hilfesystem zusammen. Wir sind die Ausfallbürgen, häufig lebenslang - das müssen wir nicht beweisen. Es ist offenkundig.

Es gibt aber darüber hinaus auch ein echtes Interesse an den Angehörigeninstitutionen. Wir sind daher selbstverständlich stets bei der DGPPN präsent, wir werden von den Bundestagsfraktionen eingeladen, wenn es um Anhörungen und Stellungnahmen geht, es gibt diverse Klinikleitungen, die auf uns zugehen. Wir haben als organisierte Angehörige auf Bundesebene und auf Landesebene Akzeptanz gefunden. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass wir unsere Forderungen haben durchsetzen können oder keine Kritik mehr hätten. Und es bedeutet auch nicht, dass der individuelle Angehörige in seiner ihn belastenden Situation die gleiche Akzeptanz erfährt.

SP: Der BApK hat die "Initiative Forensik" gegründet? Was will sie?

Schliebener: Angehörige von im Maßregelvollzug Untergebrachten erreichen wir nur sehr schwer. Dies sind Familien mit sehr hohen Belastungen. Sie leben aus vielerlei Gründen sehr isoliert. Wir wünschen uns, dass auch diese Angehörigen zu uns finden. Gerne würden wir sie zum Beispiel über die Maßregelvollzugskliniken ansprechen, aus Gründen des Datenschutzes wird uns aber der Zugang zu diesen Angehörigen nicht ermöglicht. Die Initiative Forensik kooperiert übrigens auch mit dem Fachausschuss Forensik der DGSP. Beide Initiativen sind jung, wir müssen sehen, was sich daraus entwickelt.

Eine weitere Initiative ist das "Seelefon", eine unabhängige Telefonberatung zum Thema psychische Erkrankungen. Das Projekt lief zwei Jahre sehr erfolgreich. Es wurde von der Techniker Krankenkasse als Projekt finanziert, wurde von einem unabhängigen Institut positiv evaluiert, und jetzt suchen wir nach einer Folgefinanzierung. Der Bedarf einer spezifischen Telefonberatung rund um psychische Erkrankungen ist sehr hoch. Wir verfügen über geschulte Beraterinnen und Berater, die zugleich das mitbringen, was man nur in Familien findet: die Erfahrung mit einer psychischen Erkrankung in einer Familie.

SP: Der BApK wurde 1985 gegründet, 2015 wird er dreißig Jahre alt. Was ist geplant?

Schliebener: Das wissen wir derzeit noch nicht; wir leiden unter einer prekären finanziellen Situation. Anders als zum Beispiel die Aktion Psychisch Kranke, APK, erhalten wir keine institutionelle Förderung, allerdings mit ein- oder zweijährigen Laufzeiten Projektmittel vom Bundesministerium für Gesundheit sowie Selbsthilfemittel von den Krankenkassen. Wir wissen aber nicht, ob wir uns in zwei oder drei Jahren noch finanzieren können. In den Ländern sieht es bei den Landesverbänden ähnlich aus. Vorbildlich ist jedoch Bayern mit der Förderung einer Vollzeitkraft. Dies ist ein Modell, was wir uns für alle Bundesländer wünschen: je Bundesland die finanzielle Sicherstellung der Familienselbsthilfe durch hauptamtliche Unterstützung.

SP: Frau Schliebener, vielen Dank für das Gespräch.

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 416, Oktober 2014, Seite 34 - 35
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang