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ARTIKEL/659: Psychosoziale Beratung zur Prävention psychischer Erkrankungen im ländlichen Raum (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, Juli 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychosoziale Beratung zur Prävention psychischer Erkrankungen im ländlichen Raum
Eine Bestandsaufnahme zur Versorgung von Menschen in psychosozialen Krisen

Von Andreas G. Franke und Stefanie Neumann


Menschen in psychosozialen Krisen sind mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert, die ihre individuellen Ressourcen überfordern. Psychosoziale Krisen können sich dabei als Vorstufe psychischer Erkrankungen erweisen. Der Artikel beschäftigt sich vor dem Hintergrund der psychosozialen Unterversorgung im ländlichen Raum mit der Frage nach alternativen Versorgungsmöglichkeiten.

Einleitung

Menschen bewältigen lebenslänglich Aufgaben mit mehr oder weniger schwierigen Anforderungen und müssen dabei stets den Balanceakt zwischen Belastungen und vorhandenen Ressourcen halten. Psychosoziale Belastungen entstehen dabei durch lang andauernde kleinere, sich kumulierende Belastungen des Alltagslebens (z.B. Stress im Beruf, soziale Konflikte) oder werden durch kritische (un-) erwartete Ereignisse (z. B. Tod oder Pflege nahestehender Angehöriger, gravierende familiäre und biografische Veränderungen) ausgelöst.

Ist der Mensch aus persönlichen Gründen bzw. aus Gründen, die den Umweltbedingungen zuzuschreiben sind, nicht in der Lage, diese Herausforderung zu bewerkstelligen, weil seine Grenzen der Handlungsfähigkeit erreicht sind, können psychosoziale Krisenzustände entstehen. Die "psychosoziale Krise" wurde erstmals von Caplan (1964) als eine Überforderungsreaktion beschrieben und von Cullberg (1978) definiert als ein "Verlust des seelischen Gleichgewichts, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und dem Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern".

Menschen in psychosozialen Krisen gelten jedoch im Gesundheitssystem auf Basis der ICD-10 nicht als "(psychisch) krank" (vgl. Dilling et al. 1991). Daraus ergeben sich Nachteile für die Betroffenen, die das subjektive Krankheitsgefühl und die objektivierbaren spezifischen Symptome einer psychischen Einschränkung erleben und in der sozialen Auswirkung auch eine Stigmatisierung bedeuten können (vgl. Goffman 1992).

In Anlehnung an das Modell von Caplan (1964) weist der Umgang mit psychosozialen Krisen je nach interpersonalen Einflüssen und Umwelteinflüssen folgenden Verlauf auf:

  • Phase I: Feststellung psychosozialer Einschränkungen mit routinierten Reaktionen
  • Phase II: Entwicklung von Überforderung und psychosozialen Störungen
  • Phase III: Abwehrverstärkung durch Einsatz aller verfügbaren Mittel
  • Phase IV: Psychosozialer Zusammenbruch

Inwiefern die Stadien der psychosozialen Krise zum Tragen kommen, wird nicht nur individuell durch Ressourcen determiniert, sondern vor allem durch das Bewältigungspotenzial in Verbindung mit der erhaltenen Unterstützung. Menschen in psychosozialen Krisen sind zunächst auf ihr unmittelbares Umfeld angewiesen, in dem sie kognitive, emotionale und behaviorale Reaktionen zur Reduzierung objektiver oder subjektiver Belastungen anwenden (Weber 1997). Ist der Bewältigungsversuch nicht erfolgreich, erweitert sich die Suche nach Lösungen auf das professionelle Gesundheitssystem. Erste Ansprechpartner sind in der Regel die Hausärzte in ihrer Funktion als "Gate-Keeper". Die Beziehungen zu Hausärzten sind aber oft von einer schwachen zeitlichen und emotionalen Intensität geprägt; u.a. durch Kosten- und Zeitdruck sowie Leistungshonorierung (Bruns 2013). Eine Konsultation dauert im Durchschnitt acht Minuten, und Hinweise auf psychosoziale Nöte oder Krisen werden vom Arzt oft nicht weiterverfolgt (Schaefert et al. 2014). Gibt es für den Hausarzt keine hinreichenden Anhaltspunkte, wird auch keine Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung gestellt und keine "Überweisung zum Spezialisten" veranlasst. Die Folge ist ein hoher psychosozialer Hilfebedarf und das Risiko einer manifesten psychischen Erkrankung (vgl. Haasen et al. 2006; Kaluza 2014; Pezawas et al. 2001; Siegrist & Dragano 2008). Werden vom Hausarzt dagegen eine klassifizierbare psychische Störung diagnostiziert und gegebenenfalls auch eine Therapie indiziert, so sind die Patientinnen und Patienten mit Versorgungsproblemen konfrontiert.

Psychosoziale Versorgung im ländlichen Raum

Insbesondere im ländlichen Raum stehen psychische Beeinträchtigungen in Verbindung mit der Dynamik des sozialen und demografischen Wandels (vgl. Fichten 2013); doch ebendort fehlen oft niederschwellige Therapie sowie Versorgungsangebote im ambulanten Bereich (vgl. Görgen & Spengler 2005; Spitzbart 2004)

Der deutschlandweit flächengrößte Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (ÄSE) in Mecklenburg-Vorpommern (MV) umfasst insgesamt 140.000 Einwohner, 61.000 von ihnen leben in der Stadt Neubrandenburg (KB) als Oberzentrum. Obwohl der Bedarfsplan der Kassenärztlichen Vereinigung MV (2013) die ambulante psychiatrische/psychotherapeutische Versorgung als quantitativ ausreichend ansieht, liegt nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer (2011) die Wartezeit für einen Ersttermin in einer psychotherapeutischen Praxis in MV mit über vier Monaten (18 Wochen) deutlich über dem Bundesdurchschnitt von drei Monaten (12,5 Wochen).

Hinzu kommen individuelle und soziale Zugangsbarrieren seitens der Klientinnen und Klienten, vor allem durch fehlende Motivation, mangelnde Kenntnisse und schlechte Infrastruktur, aber auch durch Angst vor Konfrontation, Stigmatisierung oder etwaigen Behandlungskosten.

Eine medizinisch-psychosoziale Versorgung steht demnach vor der Herausforderung einer Schnittstellenproblematik zwischen Sozial- und Gesundheitssystem und somit zwischen Beratungsstellen und ärztlichen und/oder psychologischen Therapieoptionen (vgl. Gahleitner & Pauls 2012; Staub-Bernasconi et al. 2008; Zechert & Faulbaum-Decke 2008).

Psychosoziale Beratung als mögliche Lösung

Der psychosoziale Hilfebedarf in Verbindung mit dem Defizit unverzüglich zugänglicher Versorgungsangebote ist Kern der anwendungsbezogenen Forschung und Praxis im Modellprojekt "Hochschulorganisierte ehrenamtliche Lebensberatung. Projekt (HEL.P)", das seit März 2013 an der Hochschule Neubrandenburg (HS NB) realisiert wird. Fortlaufend bieten hier 10-15 Studierende der Studiengänge "M.A. Social Work", "M.A. Beratung" und. "B.A. Soziale Arbeit" ehrenamtlich psychosoziale Beratungen für die Bevölkerung in Neubrandenburg und dem Landkreis MSE an. Die Zielgruppe der potenziellen Klientinnen und Klienten ist nicht weiter eingeschränkt bzw. vordefiniert. Die Projektstätte ist in die Räumlichkeiten der HS NB integriert, mit dem öffentlichen Personennahverkehr gut aus dem umliegenden Landkreis zu erreichen und bietet einen barrierefreien Zugang. HEL.P wurde u.a durch lokale Tageszeitungen, Radiobeiträge und Informationsmaterialien bei Hausarztpraxen publik gemacht. Ratsuchende können 24 Stunden täglich per Telefon oder E-Mail die Beraterinnen und Berater erreichen bzw. individuelle zeitnahe Termine vereinbaren.

Ziel der Beratungen ist es, die Bewältigung von schwierigen Lebens- und Problemsituationen zu initiieren und zu begleiten sowie Bewältigungskompetenzen bei den Klientinnen und Klienten zu stärken (vgl. Großmaß 2005). Zentrale Funktionen sind: Information, Entscheidungshilfe, Prävention, Unterstützung bei der Bewältigung von Problemen und dem Wiedererlangen von Gleichgewicht und Handlungsfähigkeit sowie Anregung zur Entfaltung von Kräften zur Entwicklung im Lebenslauf (vgl. Nestmann 2008).

Alle beratenden Studierenden werden in Seminaren u.a zu den Themen "Psychiatrische Erkrankungen und Psychotherapie", "Praxis der Beratung" und "Sozialmedizin und Begutachtung" fachlich auf ihre Beratungstätigkeit vorbereitet. Die Qualifizierung erfolgt nach den "klinischen Kompetenzen" (Pauls & Mühlum 2004), wonach sie insgesamt die Fähigkeit zur Beratung, Unterstützung und Behandlung von Menschen in krisenhaften Situationen im Sinne einer geplanten, zielgerichteten, theoriegeleiteten und methodenbewussten psychosozialen Arbeit erwerben.

Die Beratungsmethodik basiert obligatorisch auf dem Modell der klientenzentrierten Gesprächsführung nach Rogers (1945) bzw. auf dem biografisch-narrativen Gesprächsansatz nach Rosenthal (2003). Während der Beratungsphasen unterstehen die Studierenden einer Supervision (Einzel-/Gruppentermine) durch einen Facharzt für Psychotherapie und einen Juristen/Psychologen.

Lernziele der Beratungsarbeit und Seminare sind z.B. Fähigkeiten zur Abklärung (Assessment, Diagnose) und differenzierten psychosozialen Indikations- und Prognosestellung; zur Einbeziehung des sozialen Umfeldes, zum Aufbau eines Netzes sozialer Unterstützung und zur Integration in das vorhandene professionelle Behandlungsnetz; zur Nutzung des Systems sozialer Sicherung im Gesundheitsbereich mit entsprechenden rechtlichen, ökonomischen und sozialpolitischen Kenntnissen und Netzwerkkompetenzen sowie Fähigkeiten zur Anwendung eines kompetenten Unterstützungs- bzw. Case Managements, gesundheitsdienlichen Sozialmanagements und klientenbezogener sozialer Anwaltschaft (Pauls & Mühlum 2004).

Für die Klientinnen und Klienten sind die Beratungen niedrigschwellig, kostenlos, auf Wunsch anonym und haben vorrangig einen überbrückenden Charakter, sodass maximal sechs Sitzungen (bis zu je 90 Minuten) pro Klientin oder Klient veranschlagt sind. Durch eine kontinuierliche Vernetzung mit den Akteuren des Sozial- und Gesundheitssystems können Klientinnen und Klienten im Bedarfsfall an ambulant und stationär tätige Einrichtungen weitervermittelt werden.

Eine Evaluation Ende 2015 zeigte, dass die 78 Ratsuchenden, die Kontakt zu HEL.P aufgenommen hatten, umgehend bzw. spätestens nach zwei Tagen beraten werden konnten. Der Altersdurchschnitt der Ratsuchenden lag bei 38 Jahren. Die meisten psychosozialen Probleme betrafen Gesundheit/Krankheit, Erziehung, Arbeit/Arbeitslosigkeit und Familie. 20 Prozent der Beratungsgespräche ließen sich dem Bereich Prävention zuordnen, 24 Prozent dem Bereich Nachsorge und 56 Prozent der Beratungsgespräche fanden direkt während einer akuten psychosozialen Krise statt. Insbesondere zeigte sich, dass es sich hierbei um Menschen handelte, die keine oder keine ausreichende Unterstützung im sozialen Netzwerk fanden (vgl. Franke et al. 2017).

Nicht wenige Ratsuchende werden von Hausärztinnen und Hausärzten direkt an HEL.P verwiesen, und oft liegt ein deutliches Informationsdefizit bzgl. der Existenz und Verfügbarkeit von Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitssystem vor. Zumeist kann in diesen Fällen eine einmalige Sitzung mit einer konkreten Weitervermittlung zu Selbsthilfeeinrichtungen, Tageskliniken und speziellen Beratungsstellen Hilfe leisten.

Insbesondere suchen ältere Alleinlebende die Beratungsstelle auf oder Menschen, die bereits auf einen Psychotherapieplatz warten bzw. sich sogar in psychopharmakologischer Behandlung befinden.

Ein Beispiel ist der Fall einer 73-Jährigen, die fünf Monate die psychosoziale Beratung von HEL.P als Ergänzung ihrer gerontopsychiatrischen Therapie nutzte. Die Gespräche fanden im Zwei-Wochen-Rhythmus jeweils 90 Minuten statt und fokussierten ihre konkrete Lebenswelt. Die Klientin nutzte das Erzählen als ein regulierendes Element des Befindens und sah die Gesprächssituation als Katharsis an. Es gab ihr nach eigenem Empfinden die Möglichkeit, eigene Deutungen ihrer Erlebnisse zu finden. Mithilfe der Beraterin bekam sie die Möglichkeit, Abstand zur dominanten, von Isolation beeinträchtigten sozialen Lebenssituation zu erlangen und die sich daraus ergebenen Probleme zu verbalisieren. In der gemeinsamen Arbeit wurden ihre Widerstandsleistungen und Lösungs- bzw. Copingstrategien erkundet.

HEL.P stellt ein niederschwelliges, thematisch breit aufgestelltes, ergänzendes (nicht ersetzendes), kostenloses und streng vertrauliches Angebot für jede Altersgruppe dar. Die Beratung dient somit denjenigen als Unterstützung, die eine psychosoziale Krise nicht ohne Hilfe bewältigen können und keine zeitnahe geeignete Versorgung erhalten. Es stützt sich in der Pilotphase auf die Lehr-Lern-Methode des "Service-Learnings", indem das in der Lehre erlernte Fachwissen angewendet und produktiv gemeinwohlorientiert in die Gesellschaft eingebracht wird (vgl. Seifert & Zentner 2010).

Die Problematik solcher oder ähnlicher Versorgungsideen ist die dauerhafte Finanzierung, die bislang nicht bereitgestellt wird. Gewisse Finanzierungsmöglichkeiten könnten sich jedoch mit dem 2015 in Kraft getretenen Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (PrävG) ergeben (Deutscher Bundestag 2015); u.a durch die Veranschlagung von ca. 500 Mio. Euro pro Jahr für Gesundheitsförderung und Prävention mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung in Lebenswelten und einer finanziellen Unterstützung der gesundheitlichen Selbsthilfe mit 30 Mio. Euro pro Jahr über die finanzielle Unterstützung von Selbsthilfegruppen und -organisationen sowie -kontaktstellen. Mit diesem Gesetzesbeschluss könnten Mittel für die Finanzierung psychosozialer Beratungs- und Präventionsangebote kommen, die die Versorgungsleistung von Menschen in psychosozialen Krisen im Sinne der Prävention psychischer Krankheiten verbessern.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist mit für die zielgerichtete Ausschüttung der Gelder verantwortlich. Die gesetzlichen Krankenversicherungen allerdings müssen sie zur Verfügung stellen. Dabei könnte es in ihrem Interesse liegen, präventive Maßnahmen zu fördern und der Entstehung von psychischen Krankheiten bereits bei psychosozialen Krisen vorzubeugen. Allerdings dürfte die Aufnahme der hier vorgestellten Versorgungsstruktur in die Regelversorgung nur schwer möglich sein.

Fazit

In der derzeit geltenden insuffizienten Versorgung von Menschen in psychosozialen Krisen können individuelle Ressourcen und die Genesungsselbsthilfe durch ausgewiesene Beratungsstellen gefördert werden. Eine mögliche Finanzierung bei generell knappen Mitteln stellt das PrävG dar.


Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, M.A., Professor für Medizin in Sozialer Arbeit und Dekan des Fachbereiches Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg (University of Applied Sciences)

Stefanie Neumann, M.A., wiss. Mitarbeiterin des Projektes "HEL.P (Hochschulorganisierte ehrenamtliche Lebensberatung. Projekt) für Menschen in psychosozialen Lebenskrisen" an der Hochschule Neubrandenburg (University of Applied Sciences)

Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, M.A.
Dekan Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung
Hochschule Neubrandenburg - University of Applied Sciences
Brodaer Str. 2, D-17033 Neubrandenburg
E-Mail: franke@hs-nb.de


Literatur

Die vollständige Literaturliste ist bei den Verfassern erhältlich.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, Juli 2017, Seite 9 - 11
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2018

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