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STUDIE/208: Klinische Studien - Der schwierige Beweis der Wirksamkeit einer Therapie (impulse - Uni Bremen)


impulse aus der Forschung Nr. 2/2011 - das Autorenmagazin der Universität Bremen

Fehler, Zufall oder Effekt?
Der schwierige Beweis der Wirksamkeit und Verträglichkeit einer Therapie

von Jürgen Timm, Werner Brannath und Vassiliki Breunig-Lyriti


Bevor sie in Apotheken und Kliniken angeboten werden, durchlaufen neue Medikamente und Therapien umfangreiche klinische Studien. Neue statistische Methoden, wie sie am Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen (KKSB) entwickelt werden, verbessern die Aussagekraft der Studien und berücksichtigen die individuelle Gesundheit der Patienten und deren Lebensqualität.


Kranke setzen ihre Hoffnungen oft auf Fortschritte der Medizin, auf neue, bessere Diagnosen und Therapien, die ihre Krankheit heilen oder lindern können. Sie fragen sich aber auch, welche Wirkungen das neue Medikament gerade bei ihnen zeigt, wie sie die neue Therapie vertragen oder welche Chancen sie eröffnet und welche Risiken sie birgt.

Um solche Fragen zu beantworten sind umfangreiche klinische Studien nötig, die deshalb vor der Einführung neuer Therapien vorgeschrieben sind. Die neue Therapie wird dabei mit bekannten, auf dem Markt befindlichen Therapien oder mit einem Placebo verglichen. Die Aussagekraft solcher kontrollierten Studien hängt vom Studiendesign, von der Qualität der Durchführung und ganz wesentlich von der mathematischen, der biometrischen Auswertung der Studienergebnisse ab.

Die Qualität klinischer Studien wird in Deutschland durch strenge Gesetze sowie die Verordnung zur guten klinischen Praxis (good clinical practice, GCP) geregelt und in jedem Einzelfall von Ethikkommissionen, Bundes- und Landesbehörden überprüft. Bei Planung, Durchführung (Datenmanagement) und Auswertung arbeiten Biometriker eng mit Medizinern zusammen. Die Abteilung Biometrie im KKSB widmet sich diesen Aufgaben in der klinischen Forschung.


Neues Design für klinische Studien

Zahlreiche Faktoren können das Ergebnis von klinischen Studien beeinflussen. Unterscheiden sich Therapiegruppe und Kontrollen in solchen Faktoren, so erzeugen sie Scheineffekte die das Ergebnis verfälschen (systematische Fehler oder Bias). Dazu gehören Alter und Geschlecht, die Vorerkrankungen und der Allgemeinzustand, aber auch ethnische Herkunft oder Risikofaktoren wie Rauchgewohnheit oder Übergewicht der Patienten. Eine zufällige Zuteilung der Patienten auf die Therapiegruppen (Randomisierung) und eine "Verblindung" (weder Patient noch beurteilender Arzt kennen die Therapie) helfen, solche Fehler zu vermeiden. Die verbleibenden zufälligen Effekte können mit Methoden der mathematischen Statistik beherrscht werden.

Mit steigender Patientenzahl werden die Fehler immer kleiner. Zu große Patientenzahlen erzeugen aber ethische oder praktische Probleme, zudem treiben sie die Kosten solcher Studien in die Höhe. So ist die Berechnung optimaler Fallzahlen eine wichtige Aufgabe der Biometrie und ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Studie.

Gänzlich neue Studientypen entwickelt derzeit das KKSB. Sogenannte adaptive Studiendesigns legen die Zahl der Studienteilnehmer nicht vorab fest. Stattdessen wird sie im Verlauf der Studie optimal eingestellt. Dies ist besonders wichtig, wenn bei Studienbeginn noch wenig Informationen über die Variabilität der Zielgrößen vorliegen.

Daneben erarbeitet das KKSB neue biometrische Ansätze für schlecht randomisierbare Studien. Ein am KKSB entwickeltes Design etwa balanciert ärztliche Entscheidungen für Therapien und eine randomisierte Zuweisung zur Therapiegruppe. So wird nicht "blind" randomisiert, sondern auf die spezielle Disposition des einzelnen Patienten eingegangen. Es wird derzeit in einer großen Studie zur Schizophrenie angewendet, die nach hervorragender nationaler und internationaler Begutachtung vom BMBF mit fast 2 Millionen Euro gefördert wird. Ein anderer Ansatz setzt auf eine raffinierte Bildung statistischer Zwillinge statt Randomisierung (2-stufiges Propensity Score Matching). Der direkte Vergleich möglichst ähnlicher Patienten vermeidet weitgehend den Bias auch wenn eine Randomisierung unmöglich ist. Er lässt im Idealfall sogar eine genauere Aussage über den Effekt der neuen Therapie auch bei geringer Anzahl von Studienteilnehmern zu.


Patientenorientierte Auswertung

So vielfältig wie die Patienten sind auch ihre Heilungschancen und ihre Empfindlichkeiten. Eine Reihe von Masterarbeiten und Dissertationen am KKSB widmet sich dieser Heterogenität. Mit neuen statistischen Verfahren gelingt es, versteckte Untergruppen von Patienten zu identifizieren, für die eine Behandlung ein besonderes Risiko oder eine besondere Chance ist.

Ebenso spielt die Lebensqualität der Patienten eine Schlüsselrolle. Als Zielkriterium ist sie Bestandteil der meisten unserer klinischen Studien. Derzeit entwickelt das KKSB Methoden mit denen die vielen Aspekte von Lebensqualität und ihre Veränderung zusammenfassend bewertet werden können.

Beide Aspekte sind schwierig zu erfassen. Probleme ergeben sich durch ungenaue oder fehlende Angaben oder durch "Surrogat"-Parameter, die nicht das eigentliche Ziel abfragen. Auch für diese Probleme werden in der Forschung des KKSB Lösungen erarbeitet und praktisch eingesetzt.

Die vom KKSB betreuten Studien decken in Kooperation mit den jeweils beteiligten Medizinern ein weites Feld medizinischer Forschung ab. Studien aus Pädiatrie, Innere Medizin, Chirurgie, Orthopädie, Ophthalmologie, Onkologie und Psychiatrie werden oder wurden hier bearbeitet. Laufende Studien befassen sich zum Beispiel mit der altersbedingten Makuladegeneration, der medikametösen Behandlung von Schizophrenie, Erkennung von Erregern der Pneumonie, palliative Behandlung von Magenkrebs, Versorgung nach Thoraxoperationen, Asthmatherapie oder dem Konzept der integrierter Versorgung.


Jürgen Timm ist seit 1971 Professor an der Universität Bremen. Nach dem Studium in Mathematik, Physik, Pädagogik und Philosophie in Hamburg promovierte er 1967 und schloss 1969 seine Habilitation in Mathematik ab., Von 2001 bis 2010 war er Leiter und seither stellvertretender Leiter der Abteilung Biometrie des KKSB mit dem Schwerpunkt Biometrie, Planung und Auswertung klinischer Studien. Jürgen Timm war von 1982 bis 2002 Rektor der Universität Bremen und Mitglied bzw. Vorsitzender mehrerer wissenschaftlicher Verbände und Aufsichtsräte.

Werner Brannth ist seit 2010 Professor für Angewandte Statistik und Biometrie im Fachbereich 3 der Universität Bremen und Leiter der Abteilung Biometrie des KKSB. Er studierte Mathematik und Physik in Karlsruhe und Wien. In Wien war er wissenschaftlicher Assistent und habilitierte sich 2005 an der dortigen Medizinische Universität. Von 2001 bis 2002 forschte er mit einem Schrödingerstipendium an der Stanfort University. Er war Mitglied in den Ethikkommissionen der Medizinischen Universität und der Stadt Wien. Neben Anwendungen der Statistik in der Medizin forscht er über multiple Testprobleme und innovative Studiendesigns.

Vassiliki Breunig-Lyriti ist seit 1985 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Sie studierte Chemie an der Universität Würzburg und Technischen Universität Berlin und promovierte 1981 an der Universität Bremen. Seit 2001 ist sie Geschäftsführerin der Abteilung Biometrie des KKSB und seit 2006 Fachberaterin für den Masterstudiengang "Medical Biometry/Biostatistics" im Fachbereich Mathematik/Informatik.


Anmerkung der Redaktion Schattenblick:
Es folgen die Texte zu den im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen - siehe Originalpublikation im Internet unter:
http://www.uni-bremen.de/universitaet/presseinfos/publikationen/impulse/aeltere-ausgaben-impulse.html#c2529

BILDTEXTE

1. Das KKSG wertete eine Testreihe der Hochschule Bremerhaven aus: Zahlreiche Blutdruckmessgeräte geben falsche Werte an.

2. Gemeinsam mit dem Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) wertete das KKSB Daten von 50.000 Patienten aus, die mit Metoprolol behandelt wurden. Die Studie zeigte, dass Generika und Originalpräparate ähnliche Risiken bergen.

3. Bei Rückenschmerzen (Lumbago) hilft die manuelle Chirotherapie besser als ein Standardschmerzmittel, so das Ergebnis einer langjährigen Studie.

4. Neue Antikörper geben Neugeborenen guten Schutz, wenn die Mutter Hepatitis-B-Viren trägt. Das KKSB wertete eine Studie zur passiven Prophylaxe mit dem Immunglobulin aus.

5. Schnell wieder auf die Beine kommen. Das KKSB analysierte den postoperativen Verlauf nach Hüft- und Kniegelenk-Ersatz. Frühe Mobilisierung führt zu deutlich besseren Ergebnissen.

Weitere Informationen:
www.kks-bremen.de


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Quelle:
impulse aus der Forschung - das Autorenmagazin der
Universität Bremen Nr. 2/2011, Seite 22-24
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Pressestelle der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2012