CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften - 25.07.2018
Defektes Zytoskelett lähmt Immunzellen
Immunzellen bewegen sich fort, indem sie ihr inneres Gerüst, das Zytoskelett, permanent neu anordnen - ein für ihre Funktion entscheidender Prozess. Durch eine seltene Erkrankung wurde nun ein bisher unbekannter Regulationsmechanismus entdeckt, der für das adaptive Immunsystem essentiell ist. Die Studie, durchgeführt von einer internationalen Kollaboration von WissenschaftlerInnen unter der Leitung von LBI-RUD-, CeMM- und MedUni-Wien-ForscherInnen, wurde im Journal of Allergy and Clinical Immunology veröffentlicht.
(Wien, der 25. Juli 2018) Um sich bewegen zu können, braucht ein Körper ein starkes Gerüst. Das trifft nicht nur auf Tiere zu, deren Muskeln durch ein Skelett gestützt werden; auch auf mikroskopisch kleiner Ebene braucht es Stützstrukturen, um aktive Bewegungen zu erzeugen. Zellen haben dafür das sogenannte Zytoskelett, das sich aus Aktin-Filamenten zusammensetzt. Indem sie diese Filamente umordnen, können sich Zellen in jede Richtung strecken und dorthin wandern, durch kleinste Lücken quetschen oder sich über fremde Objekte stülpen. Diese Prozesse sind insbesondere für die Zellen des Immunsystems, die beweglichsten aller Zellen des menschlichen Körpers, entscheidend, um gegen krankmachende Eindringlinge anzukämpfen. Fehler im Zytoskelett können sowohl verheerende Auswirkungen auf die Immunantwort und daher auf die Fähigkeit zur Infektionskontrolle des Organismus haben, als auch die Entstehung von Tumorzellen begünstigen.
In ihrer neuesten Studie untersuchten WissenschaftlerInnen des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) und des CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit der Universität Toulouse III und INSERM, einen seltenen genetischer Defekt, bei dem das Immunsystem der Betroffenen versagt. Dabei entdeckten die ForscherInnen, dass durch den Gendefekt Lymphozyten - die wichtigsten Zellen der adaptiven Immunität - die Fähigkeit verloren, ihr Aktin-Gerüst umzubauen. Die im Journal of Allergy and Clinical Immunology veröffentlichte Studie (DOI: 10.1016/j.jaci.2018.04.023) entstand in Kollaboration mit KlinikerInnen aus Izmir und Ankara und SpezialistInnen für Lymphozytenbiologie der Universität Wien und der Universität Rotterdam.
Sechs PatientInnen wurden im Rahmen dieser Arbeit untersucht, die schwere Lungen-, Haut- und Mundschleimhautinfektionen aufwiesen. Genetische Analysen ihrer Genome ergaben, dass sie alle Mutationen in dem Gen für das Protein WDR1 tragen, einem wichtigen Faktor für den Umsatz der Aktin-Filamente und damit für die dynamische Umgestaltung des Zytoskeletts. Kurz zuvor konnte in anderen Studien gezeigt werden, dass der angeborene Teil des Immunsystems durch WDR1-Mutationen beeinträchtigt wird - dass sie auch in die adaptiven Immunantwort eine Rolle spielen, war hingegen unbekannt. Durch eine Vielzahl an umfangreichen Experimenten und Analysen fanden die WissenschaftlerInnen schließlich heraus, dass eine WDR1-Defizienz auch zu einer abnormalen T-Lymphozyt-Aktivierung und B-Lymphozyt-Entwicklung führt.
"Wir konnten zeigen, dass die T-Lymphozyten der PatientInnen, obwohl sie sich normal zu entwickeln schienen, atypische Aktinstrukturen anhäuften. Noch gravierender waren jedoch die Auswirkungen des Gendefekts auf die B-Lymphozyten" sagt Laurène Pfajfer, PhD-Studentin am LBI-RUD und Co-Erstautorin der Studie.
"Wir konnten nur wenige B-Zellen im Blut der PatientInnen finden, und auch deren Vorläuferzellen im Knochenmark waren äußert selten" führt Loïc Dupré, Gastwissenschaftler am LBI-RUD und Co-Letztautor, weiter aus. "Und die wenigen B-Zellen, die wir fanden, zeigten eine ganze Palette an Anomalitäten wie reduzierte Diversität, abnormale Verteilung und häufig auftretender Zelltod nach Stimulierung des B-Zell-Rezeptors."
"Unsere Arbeit erweitert das Spektrum der Merkmale einer WDR1-Defizienz: Es umfasst sowohl Auswirkungen auf das angeborene als auch auf das erworbene Immunsystem und illustriert dabei die enge Verknüpfung zwischen dem Immunsystem und unkontrollierten Entzündungen, die letztlich zur Erkrankung führen", fasst Kaan Boztug, Direktor des LBI-RUD und Co-Letztautor der Studie, zusammen. "Die Ergebnisse erlauben uns neue Einblicke in die Dynamik des Aktin-Zytoskeletts und seine Schlüsselrolle für die normale Entwicklung und Funktion von Immunzellen. Damit ist diese Studie ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der Forschung an seltenen Erkrankungen - nicht nur für die wenigen Betroffenen, sondern für ein Grundlegendes Verständnis der menschlichen Biologie. Darüber hinaus ist die Aufklärung solch filigrane Mechanismen auf molekularer Ebene ein wichtiger Schritt für die Entwicklung einer modernen Präzisionsmedizin.
Die Studie "Mutations affecting the actin regulator WD repeat-containing
protein 1 lead to aberrant lymphoid immunity" erschscheint in der
Zeitschrift Journal of Allergy and Clinical Immunology wurde vorab online
am 8. Mai 2018 publiziert . DOI: 10.1016/j.jaci.2018.04.023
Autoren:
Laurène Pfajfer*, Nina K. Mair*, Raúl Jiménez-Heredia, Ferah
Genel, Nesrin Gulez, Ömür Ardeniz, Birgit Hoeger, Sevgi Köstel Bal, MD,
Christoph Madritsch, Artem Kalinichenko, Rico Chandra Ardy, Bengü
Gerçeker, Javier Rey-Barroso, Hanna Ijspeert, Stuart G. Tangye, Ingrid
Simonitsch-Klupp, Johannes B. Huppa, Mirjam van der Burg, Loïc Dupré* und
Kaan Boztug*.
Förderung:
Diese Studie wurde vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und
Technologiefonds WWTF, dem FWF der Wissenschaftsfonds, Frankreichs Agence
Nationale de la Recherche, einem ZonMW-Vidi-Grant und von Grants der
National Health and Medical Research Council of Australia gefördert.
Kaan Boztug studierte Medizin in Düsseldorf, Freiburg und London vor
seinem Doktorat bei Iain Campell am Scripps Research Insitute (La Jolla,
USA). Seine klinische Ausbildung und postdoktorale Forschungsarbeit
absolvierte er bei Christoph Klein an der Medizinischen Hochschule
Hannover. 2011 nahm er eine Stelle als Gruppenleiter am CeMM an und ist
Associate Professor an der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde der
Medizinischen Universität Wien. Er ist Leiter des CeRUD Vienna Center for
Rare and Undiagnosed Diseases und Leiter des Jeffrey Modell Diagnostic and
Research Center Vienna am St. Anna Kinderspital und der Medizinischen
Universität Wien. Seit 2016 leitet Kaan Boztug das Ludwig Boltzmann
Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD).
Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und
interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter der
wissenschaftlichen Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert
sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert
Grundlagenforschung sowie klinische Expertise, um innovative diagnostische
und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die
Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und
Immunstörungen sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des
Instituts befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des
Allgemeinen Krankenhauses Wien.
www.cemm.at
Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD)
wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in
Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen
Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet. Der
Forschungsschwerpunkt des LBI-RUD liegt auf der Entschlüsselung von
seltenen Erkrankungen der Blutbildung, des Immunsystems und des
Nervensystems - diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die
Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar
Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neuartige
Einblicke in die Humanbiologie. Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter
Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes
Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch
gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener
Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.
www.lbg.ac.at
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution2100
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften - 25.07.2018
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2018
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang