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FORSCHUNG/094: Nager im Netz - Das Netzwerk "Nagetier-übertragene Pathogene" (ForschungsReport)


ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz 1/2011
Die Zeitschrift des Senats der Bundesforschungsanstalten

Nager im Netz
Das Netzwerk "Nagetier-übertragene Pathogene" bündelt Fachkompetenz für
die Kleinsäuger- und Zoonoseforschung

Von Rainer G. Ulrich (Greifswald-Insel Riems) und Jens Jacob (Münster)


Viele Nagetiere im Wald und im Bereich menschlicher Siedlungen sind ein Reservoir für Krankheitserreger, die beim Menschen - wenn sie übertragen werden - ernste Infektionen auslösen können. Eine institutsübergreifende Expertengruppe erforscht Wechselwirkungen zwischen den Erregern, den Wirtstieren und dem Menschen.


In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Presseberichte über bisher unbekannte oder veränderte Krankheitserreger, wie das SARS-Coronavirus (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom; engl.: Severe Acute Respiratory Syndrome), das Influenzavirus H5N1 ("Vogelgrippe") oder Hantaviren. Diese und weitere Erreger werden unter der Bezeichnung "emerging und re-emerging pathogens" zusammengefasst, was man im Deutschen am ehesten mit "neuen und wiederkehrenden Erregern" bezeichnen würde (Tabelle). Dabei handelt es sich um Erreger, die entweder neu in der menschlichen Bevölkerung auftreten, oder um solche, die bereits vorkamen, jedoch bisher unentdeckt geblieben sind oder sich in ihrer Virulenz oder Verbreitung verändert haben.


Tab. 1: Ausgewählte Beispiele für "emerging pathogens" und ihre Reservoire
Erreger (Virusfamilie)
Reservoire
Erkrankung
Influenzaviren
(Orthomyxoviridae)
Wassergeflügel,
Schwein
Grippe

Ebolavirus (Filoviridae)
Fledermäuse
Hämorrhagisches Fieber
SARS-Coronavirus
(Coronaviridae)
Fledermäuse

SARS

Lassavirus (Arenaviridae)
Nagetiere
Lassafieber
Hantaviren
(Bunyaviridae)

Nagetiere (und
Insektenfresser*)

Hämorrhagisches Fieber mit
renalem Syndrom, Hantavirales
Kardiopulmonales Syndrom
Nipah- und Hendravirus
(Paramyxoviridae)
Fledermäuse

Enzephalitis, respiratorische
Erkrankung
Westnilvirus (Flaviviridae)
Wildvögel
Enzephalitis

* bisher keine Hinweise auf eine humanpathogene Wirkung der von Insektenfressern übertragenen Hantaviren


Bei mehr als der Hälfte dieser Infektionskrankheiten werden die Erreger von einem Tier auf den Menschen übertragen (sog. Zoonosen). Während es beim Menschen zum Ausbruch einer schwerwiegenden Infektionskrankheit kommen kann, erkranken die Erreger-tragenden Reservoir-Tiere meist nicht. Vorrangig handelt es sich bei den Überträgern um Wild- oder Nutztiere, meist Vögel oder Säugetiere. Daneben spielen aber auch Arthropoden (Insekten und Spinnentiere) eine große Rolle. Experten unterschiedlichster Arbeitsgruppen haben sich zu einem Netzwerk "Nagetier-übertragene Pathogene" zusammengeschlossen, in dem sie die komplexen Wechselwirkungen von Zoonose-Erregern mit ihren Nagetier-Reservoiren erforschen. Dabei geht es um epidemiologische Fragen, um Untersuchungen zur Ökologie einschließlich möglicher klimatischer Einflüsse, um Populationsdynamik und Populationsgenetik der Reservoirwirte sowie um Studien zur geografischen Verbreitung von Infektionen bei Reservoirwirten. Durch diesen breiten Ansatz soll es möglich werden, das Gefährdungspotenzial für die Bevölkerung detailliert einzuschätzen. Im Rahmen des Netzwerkes werden Handlungsempfehlungen erarbeitet, durch die sich Infektionen mit Zoonose-Erregern vermeiden lassen. Diese Empfehlungen werden an betroffene Personengruppen und Berufsverbände weitergegeben. Die Expertise und vielfältigen Verbindungen der Partner im Netzwerk können auch für politische Entscheidungsträger von großem Nutzen sein.


Nagetiere als Reservoir für Zoonose-Erreger

Zu den Nagetier- und Kleinsäuger-assoziierten Krankheitserregern gehören sowohl Viren als auch Bakterien und Parasiten. Die Übertragung der Erreger erfolgt entweder indirekt, zum Beispiel über die Aufnahme von Virusausscheidungen im Kot oder Urin (Hantaviren), durch Vektoren, zum Beispiel Zecken (Frühsommer-Meninoenzephalitis-Virus (FSME-Virus) oder Borrelien) oder über kontaminierte Lebensmittel wie bei Salmonellen (Abb. 1, oben). Eine Reihe weiterer Erreger wird auch direkt durch Biss, direkten Kontakt oder Aufnahme von Lebensmitteln, die aus infizierten Tieren gewonnen wurden, übertragen (Abb. 1, unten).

Schematische Darstellung der direkten und indirekten Übertragungswege von Zoonoseerregern vom Nagetier auf den Menschen

Noch viele Rätsel

Um "emerging pathogens" zu finden, müssen wir nicht in ferne Länder schweifen: Auch in Deutschland gibt es eine Reihe von Nagetier-assoziierten Zoonose-Erregern, die zu dieser Gruppe von Pathogenen gehören. Mit dem Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes vor rund zehn Jahren ist eine Meldepflicht für bestimmte Zoonosen eingeführt worden. Dadurch wissen wir heute mehr über die Häufigkeit und geographische Verbreitung einiger Erkrankungen. Dennoch muss bei verschiedenen Krankheiten nach wie vor von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Über die Situation in den Nagetier-Reservoirwirten ist bisher eher wenig bekannt. Für einige Erreger lässt sich gegenwärtig nicht einmal zweifelsfrei sagen, mit welchen Reservoirwirten sie assoziiert sind. Zur geographischen Verbreitung der Erreger und zu ihrer Stabilität in der Umwelt werden zukünftig detaillierte Studien erforderlich sein, wie auch zum potenziellen Einfluss des Mikroklimas und anderer Habitatfaktoren auf die Übertragungswege in Nagetierpopulationen. Darüber hinaus sind die Prozesse der Wirtsassoziation und -adaptation molekular noch wenig untersucht.


Das Netzwerk als Basis für interdisziplinäre Zusammenarbeit

Viele dieser geschilderten Fragestellungen lassen sich nur im Rahmen einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit beantworten. Ab 2004 arbeiteten zunächst das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) und die Landesforstanstalt Eberswalde zusammen, schnell kamen weitere forstliche Einrichtungen in Deutschland dazu. Diese Zusammenarbeit basiert auf der forstlichen Überwachung von Nagetierpopulationen, die bisher fester Bestandteil des forstinternen Meldedienstes war. Mit der Einbindung weiterer Forschungsgruppen etablierte sich schließlich das Netzwerk "Nagetier-übertragene Pathogene".

Inzwischen hat sich das Netzwerk zu einer Plattform für die interdisziplinäre Zusammenarbeit unterschiedlichster Arbeitsgruppen entwickelt. Zoologen, Ökologen, Virologen, Mikrobiologen, Parasitologen, Genetiker, Epidemiologen, Forstwissenschaftler und Klimaforscher arbeiten darin mit Ärzten und Tierärzten zusammen.

Die Zielstellungen des Netzwerkes umfassen gegenwärtig vier Schwerpunkte:

• Nagetierbiologie und Verbreitung von Zoonose-Erregern,

• Molekular- und seroepidemiologische Studien, zum Beispiel Untersuchungen zu den möglichen Ursachen des gehäuften Auftretens humaner Infektionen und Monitoringstudien in ausgewählten geografischen Regionen,

• Prävalenzstudien in Risikogruppen wie Waldarbeitern,

• Öffentlichkeitsarbeit durch Merkblätter und Veröffentlichungen zur Aufklärung von Berufsgruppen wie Waldarbeitern, Jägern und Schädlingsbekämpfern, die durch bestimmte Zoonose-Erreger besonders gefährdet sind.


Den bisherigen Untersuchungsschwerpunkt stellen Studien an Feld- und Waldnagern dar. Die Mehrzahl der Tiere stammt aus Monitoringfängen der forstlichen Einrichtungen, des Niedersächsischen Landesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES), des Julius Kühn-Instituts (JKI) und des FLI. Einen zweiten Schwerpunkt von Wildnagetierfängen bilden Wohn- und andere mögliche Aufenthaltsorte von Hantavirus-Patienten, insbesondere in Regionen mit häufigen humanen Infektionen und in Ausbruchsregionen. Die Planung der entsprechenden Fänge erfolgt hierbei in enger Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten, Gesundheitsämtern und dem Robert Koch-Institut (RKI). Die Fangaktivitäten konzentrierten sich bislang vor allem auf ländliche Regionen, aber auch in Städten wie Köln und Aachen wurden bereits Nagetiere für Untersuchungen im Netzwerk gefangen.

Zusätzlich sollen zukünftig auch Nagetiere aus dem Bereich menschlicher Lebensräume, wie Hausmaus und Wanderratte, stärker einbezogen werden. Hierfür wird das Netzwerk erneut erweitert, insbesondere durch die Einbeziehung von Institutionen, Verbänden und Unternehmen, die mit der Schadnagerbekämpfung in Deutschland befasst sind. Da auch Heimtiere, wie beispielsweise "Schmuseratten", Zoonose-Erreger übertragen können, wird gegenwärtig geprüft, inwieweit sich künftig auch solche Tiere in die Untersuchungen des Netzwerkes einbeziehen lassen.

Um eine möglichst breite Untersuchung der Nagetiere auf verschiedene bekannte Zoonose-Erreger und neue Pathogene zu ermöglichen, werden die Tiere am FLI zentral nach einem Standardprotokoll erfasst und seziert. Alle Daten aus Sektionen, Probensammlung, Probenversand und alle Untersuchungsergebnisse fließen in einer Datenbank zusammen.


Langzeitstudien geben Aufschluss

Im Rahmen des Netzwerkes waren unsere Untersuchungen in den vergangenen Jahren insbesondere auf Hantaviren fokussiert. In Deutschland sind bisher mindestens drei Nagetier-assoziierte Hantavirus-Arten nachgewiesen: Das von der Rötelmaus (Abb. 2A) übertragene Puumalavirus (PUUV) verursacht die meisten humanen Infektionen. Hier kommt es zu einem mild bis moderat verlaufenden Hämorrhagischen Fieber mit renalem Syndrom (u.a. Nierenfunktionsstörungen). Die in den Jahren 2005, 2007 und 2010 in den Endemiegebieten in Süd-, Südwest- und Nordwestdeutschland beobachteten deutlich erhöhten Fallzahlen sind auf Infektionen mit diesem Virus zurückzuführen. Die am Netzwerk Beteiligten konnten zeigen, dass in den untersuchten Gebieten in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen während der Ausbrüche in den Jahren 2005 und 2007 zwischen 20 und 76 % der Rötelmäuse das PUUV in sich trugen.

Ein ähnliches Krankheitsbild wird durch das zweite humanpathogene Hantavirus, das von der Brandmaus (Abb. 2B) übertragene Dobrava-Belgrad-Virus (DOBV), hervorgerufen. Wegen der westlichen Verbreitungsgrenze der Brandmaus sind Infektionen mit diesem Virus bisher ausschließlich aus Nord- und Nordostdeutschland berichtet worden. Bei Untersuchungen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wurden Prävalenzen von 2,2 % - 33 % gefunden, während am Expositionsort eines Patienten in Niedersachsen 72 % der untersuchten Brandmäuse infiziert waren.

Das Tulavirus (TULV), das in Deutschland in der Feldmaus (Abb. 2C) und in der Erdmaus gefunden wurde, scheint nur in sehr seltenen Fällen humane Infektionen hervorzurufen. Interessanterweise bestätigten unsere Untersuchungen für dieses Virus sowohl eine weite geografische Verbreitung als auch ein für Hantaviren unerwartet breites Wirtsspektrum.

Die Verbreitung und Häufigkeit von Hantavirusinfektionen beim Menschen wird vermutlich durch Schwankungen in der Dichte von Nagetierpopulationen bestimmt. Zudem können klimatische Bedingungen und Habitateigenschaften die Häufigkeit von Hantavirus-infizierten Tieren in Nagetierpopulationen beeinflussen. Das Infektionsrisiko für die Bevölkerung hängt auch von der Übertragungswahrscheinlichkeit des Erregers auf den Menschen ab. Hierbei spielt sicher die Bildung Virus-kontaminierter Stäube eine bedeutende Rolle (Abb. 3).

Grafische Darstellung der möglichen Einflüsse von klimatischen und Habitatfaktoren auf die Übertragungswahrscheinlichkeit von Hantaviren auf den Menschen

Die genannten Zusammenhänge sind für die in Deutschland vorkommenden Hantaviren und ihre Reservoir-Wirte bisher nicht untersucht. Daher hat das Netzwerk in Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Baden-Württemberg Projekte gestartet, bei denen Veränderungen in Nagetierpopulationen über einen längeren Zeitraum dokumentiert werden sollen. Hierdurch soll es erstmals auch möglich werden, Aussagen zu anderen, von Kleinsäugern übertragenen Zoonose-Erregern zu treffen.


PD Dr. Rainer G. Ulrich Friedrich-LoefflerInstitut
Institut für neue und neuartige Tierseuchenerreger
Südufer 10, 17493 Greifswald - Insel Riems
E-Mail: rainer.ulrich@fli.bund.de

Dr. Jens Jacob, Julius Kühn-Institut
Institut für Pflanzenschutz in Gartenbau und Forst - Wirbeltierforschung,
Toppheideweg 88, 48161 Münster
E-Mail: jens.jacob@jki.bund.de

Literatur
Ulrich, R.G., Heckel, G., Pelz, H.-J., Wieler, L.H., Nordhoff, M., Dobler, G., Freise, J., Matuschka, F.-R., Jacob, J., Schmidt-Chanasit, J., Gerstengarbe, F.W., Jäkel, T., Süss, J., Ehlers, B., Nitsche, A., Kallies, R., Johne, R., Günther, S., Henning, K., Grunow, R., Wenk, M., Maul, L.C., Hunfeld, K.-P., Wölfel, R., Schares, G., Scholz, H.C., Brockmann, S.O., Pfeffer, M., Essbauer, S.S. (2009): Nagetiere und Nagetier-assoziierte Krankheitserreger - das Netzwerk "Nagetier-übertragene Pathogene" stellt sich vor. Bundesgesundheitsbl. - Gesundheitsforsch. - Gesundheitsschutz 52, 352-369.

Danksagung
Die Autoren möchten sich bei allen Partnern des Netzwerkes "Nagetier-übertragene Pathogene", des Arbeitskreises "Mäuse im Forst" und weiteren Kooperationspartnern für die vielfältige Unterstützung bedanken. Die Untersuchungen werden durch das BMELV (FKZ 07HS027), das Umweltbundesamt (FKZ 3709 41 401), das Robert Koch-Institut (Fo_1362/1-924, FKZ 1362/1980) und das BMBF über die Nationale Forschungsplattform für Zoonosen (FKZ 01KI1018) finanziell unterstützt.


Diesen Artikel inclusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.forschungsreport.de


*


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 2: Reservoirwirte der in Deutschland vorkommenden humanpathogenen Hantaviren.
A) Die deutschlandweit vorkommende Rötelmaus (Myodes glareolus) stellt den Überträger des Puumalavirus dar.
B) Die Brandmaus (Apodemus agrarius) ist in Deutschland der Überträger des Dobrava-Belgrad-Virus. Sie ist im Osten Deutschlands weiter verbreitet als im Westen und kommt im Süden nicht vor.
C) Die Feldmaus (Microtus arvalis) und die verwandte Erdmaus (Microtus agrestis) stellen in Deutschland Reservoirwirte für das Tulavirus dar, dessen Humanpathogenität als sehr gering angesehen wird.


*


Quelle:
ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz 1/2011, Seite 12 - 15
Herausgeber: Senat der Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Redaktion: Dr. Michael Welling
Geschäftsstelle des Senats der Bundesforschungsinstitute
c/o Johann Heinrich von Thünen-Institut
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig
Tel.: 0531/596-1016, Fax: 0531/596-1099
E-Mail: michael.welling@vti.bund.de
Internet: www.forschungsreport.de, www.bmelv-forschung.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2011