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POLITIK/1730: Weltweit unsoziale Gesundheits- und Entwicklungspolitik (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 49 vom 10. Dezember 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Weltweit: Unsoziale Gesundheits- und Entwicklungspolitik
Tendenziöse Bewertung des Berichts der Weltgesundheitsorganisation

Von Hans-Peter Brenner


"Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört ... und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung' ... die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt."

Dieser Satz des Kommunistischen Manifestes klingt wie ein aktueller Kommentar zum neuen "Weltgesundheitsbericht 2010" der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der dieser Tage von der Generalsekretärin der WHO, der Chinesin Dr. Margarete Chan, in Berlin vorgestellt wurde. Es geht um das Prinzip der "baren Zahlung" im Gesundheitswesen und dessen Konsequenzen für nicht nur die berühmten "Zig-Tausende", sondern für Hunderte von Millionen, ja auch für Milliarden Menschen.

Es kommt aber darauf an, mit welchen "Augen" (das heißt vor allem mit welchem Interesse) dieser Gesundheitsbericht gelesen wird.


Weltweit erleiden dem "Weltgesundheitsbericht 2010" zufolge allein rund 150 Millionen Menschen "finanzielle Katastrophen", weil ihnen die Krankenversicherung zur Übernahme der Behandlungskosten im Krankheitsfall fehlt, etwa 100 Millionen rutschen deshalb dauerhaft in Armut ab.

Die Darstellung und die Interpretationen allein dieser wenigen Daten in den bürgerlichen Medien sind krass tendenziös und grenzen an bewusste Fälschung. Der durchgängige Tenor der Kommentare lässt sich so zusammenfassen: Die WHO beklagt, die Gesundheitssysteme sind viel zu teuer. Die steigenden Gesundheitskosten sind so hoch, dass man diese nicht mehr mit staatlichen oder öffentlichen Versicherungssystemen und gesetzlichen Krankenkassen finanzieren kann.

Im WHO-Bericht hieß es zu dieser Thematik lediglich: Weltweit kämpften Regierungen mit steigenden Gesundheitsausgaben. Die Bevölkerung altere in vielen Ländern, mehr Menschen litten an chronischen Krankheiten und neue umfangreiche Behandlungen trieben die Kosten in die Höhe. Zugleich gingen weltweit allein im Krankenhausbereich wegen Ineffizienz rund 300 Milliarden Dollar verloren.

Der WHO-Bericht spricht in diesem Zusammenhang von weltweiten Einsparmöglichkeiten in Höhe von 20 bis 40 Prozent der Gesundheitsausgaben. Dies gelte auch bei Arzneimitteln. Allein in den so genannten "Industriestaaten" ließen sich etwa fünf Prozent der Gesundheitsausgaben durch den sachgerechten Einsatz und die verbesserte Qualitätskontrolle von Arzneimitteln einsparen.


Minister fühlen sich bestätigt

"Gesundheit ist (zu) teuer" - dieses bekannte Klagelied scheint auf den ersten Blick durch den WHO-Gesundheitsbericht seine Bestätigung zu finden. Die mit Gesundheitspolitik im In- oder Ausland befassten FDP-Minister P. Rösler und D. Niebel, die beide an der Vorstellung des WHO-Gesundheitsberichts in Berlin teilgenommen hatten, äußerten sich deshalb sehr zufrieden. Gesundheitsminister Rösler erklärte, die Studie zeige, dass es beim Aufbau eines Gesundheitssystems "keine Patentlösungen" geben könne. Jedes Land müsse seinen "eigenen Weg gehen und dabei historische, kulturelle und sozioökonomische Gegebenheiten berücksichtigen." Und Entwicklungsminister Niebel sah sich in seiner von sehr vielen zivilen Entwicklungsorganisationen kritisierten einseitig auf deutsche Wirtschaftsinteressen ausgerichteten Entwicklungspolitik sogar bestätigt.

Dabei belegen die Analysen der Struktur der angeblichen "Entwicklungshilfe" seines Hauses auch im Bereich der Gesundheit, dass es sich dabei in erster Linie um die Schaffung neuer Absatzmärkte für die deutschen Pharmakonzerne und die Nahrungsmittel-Industrie handelt.

"medico international", die sich besonders mit der Gesundheitsfürsorge in den Ländern der so genannten "3. Welt" beschäftigt, stellt der deutschen Entwicklungspolitik schon seit langem denkbar schlechte Noten aus.

Gesundheit für alle sei nur im Rahmen solidarisch finanzierter Gesundheitssysteme möglich, erklärte Thomas Gebauer, der Geschäftsführer von medico international: "Liest man den WHO-Bericht genau, kann man gar nicht anders, als allen Überlegungen zur Privatisierung von Gesundheitsdiensten eine klare Absage erteilen." Zu Recht hebe der Bericht hervor, dass private Selbstbeteiligungen ("user fees", Medikamentenzahlungen etc.) nur zu Lasten ärmerer Menschen gehen und so die soziale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung verschärfen, was gleichermaßen für arme wie für reiche Länder gelte. "Es ist schon ein starkes Stück, dass sich die Minister Rössler und Niebel nun mit der Vorstellung eines Berichtes schmücken wollen, dessen Inhalt genau das Gegenteil dessen anstrebt, was ihre Partei und die Bundesregierung tun", erklärte Gebauer.

Ein Beispiel aus Venezuela belegt exemplarisch die Dreistigkeit und Unverfrorenheit mit der bekannte deutsche Großkonzerne auf Kosten der Gesundheit ihre Marktpositionen mit Zähnen und Klauen ausbauen.

Mit Hinweis auf sein Patentrecht versuchte der Bayer-Konzern Ende 2009 die wirkstoffgleiche billigere Produktion eines Medikaments gegen Atemwegserkrankungen durch venezolanische Firmen zu verhindern. Die dort zuständige Behörde SAPI warf dem Konzern daraufhin vor, mit seinem Handeln "gegen das Recht auf Gesundheit und auf die Errichtung eines Industriemonopols" zu zielen, "ohne auf die Bedürfnisse des Volkes Rücksicht zu nehmen", und leitete Verfahren ein, um die Patente für das Antibiotikum aufzuheben. Aber auch die Agrar- und Lebensmittelindustrie der imperialistischen Staaten sorgt mit ihrer Dominanz auf dem Weltmarkt für einschneidende gesundheitsgefährdende Änderungen im Ernährungs- und Konsumverhalten vieler Menschen.


WHO-Kritik an negativen Folgen imperialistischer Export-Dominanz

Die WHO-Generalsekretärin hatte bereits Mitte September aus Anlass der 60. Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa in Moskau am Beispiel der Lebensmittelexportpolitik der kapitalistischen Staaten und der Verbreitung von Diabetes illustriert, wie stark die Gesundheitspolitik mit der "normalen" Wirtschaftspolitik verflochten ist.

Die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion habe zwar bislang die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung ermöglicht und das sei gut so, aber dagegen stehe folgendes strukturelles Dilemma: "Diese Entwicklung hat jedoch im Verein mit der Globalisierung von Vermarktung und Vertrieb der Lebensmittel in jeden Winkel der Welt, auch in die Städte der Entwicklungsländer, Fertiggerichte getragen, die reich an Fett, Zucker und Salz, aber arm an Nährstoffen sind. Solche Lebensmittel tragen natürlich zum Anstieg chronischer Krankheiten bei."

Die Belege häufen sich, dass Adipositas und Typ-2-Diabetes überall in Asien epidemische Ausmaße erreicht haben, wo die Umstellung der Ernährung nach US-amerikanischem und europäischem Muster außergewöhnlich schnell verlief. Die Menschen erkranken hier mittlerweile in größerer Zahl und in jüngerem Alter an Diabetes als in den kapitalistischen Hauptländern und sie sterben früher. Diabetes ist zudem eine besonders teure Krankheit: teuer in Bezug auf die Versorgung chronisch Kranker und extrem teuer durch die Krankenhausbehandlung der üblichen Folgekomplikationen.

Die Überzeugung des WHO-Weltgesundheitsberichtes, "dass die Schaffung eines universellen Zugangs zu bestmöglicher Gesundheitsversorgung eine gesellschaftliche Aufgabe sei, bei der zuallererst die Regierungen gefordert sind", führt angesichts solcher Konsequenzen einer ungezügelten Überschwemmung des Weltmarktes durch die großen transund multinationalen Konzerne in die richtige Richtung, wenngleich eine politische Unabhängigkeit des politischen Gestaltungswillens suggeriert wird, die in Wirklichkeit gar nicht existiert und auch nicht existieren kann. Kapitalistischer Staat und Großkonzerne arbeiten Hand in Hand; staatliche Entwicklungspolitik ist der Türöffner für die Großkonzerne.

Es gehört deshalb schon sehr viel Dreistigkeit und Chuzpe dazu den Weltgesundheitsbericht als Bestätigung der eigenen Gesundheitspolitik zu missbrauchen, wie Rösler und Niebel es tun, zumal wenn man den Gesundheitsreport in den Zusammenhang mit anderen Einschätzungen der WHO stellt.


Folgen der ungerechten Wirtschaftsbeziehungen

So hatte WHO-Generalsekretärin Dr. Margarete Chan in ihrer Moskauer Rede diplomatisch verklausuliert, aber dennoch inhaltlich ziemlich klar, auf die großen Zusammenhänge zwischen den ausbeuterischen Strukturen der imperialistischen Wirtschaftsbeziehungen und den negativen Folgen für Gesundheit und Ernährung weiter Bereiche der "dritten Welt" hingewiesen. Sie erklärte: "Die Notwendigkeit einer kohärenten globalen Gesundheitspolitik nimmt angesichts der vielfältigen und schwierigen Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu. Heutzutage müssen Gesundheitsbeamte auch in Politik bewandert sein, wenn sie gute Resultate wollen. Schon immer in der Geschichte der Menschen vorhandene Risiken haben an Bedeutung zugenommen und besitzen für die stark voneinander abhängigen Länder in einer vernetzten Welt ein universelles Störpotenzial." Die Gesundheitsgefahren würden zusehends "in Politikbereichen geschaffen oder vergrößert, die außerhalb des Gesundheitssektors liegen." Viele Ursachen zahlreicher gesundheitlicher Defizite ließen sich nur bei der Wurzel packen, wenn die Verantwortlichen die Zusammenhänge mit diesen anderen Sektoren ansprächen. Dr. Chan kritisierte besonders - wenngleich vorsichtig formuliert - die Konsequenzen der Durchdringung des Weltmarktes durch die großen Nahrungsmittel- und Pharmakonzerne: "Immer mehr wird Gesundheit unabsichtlich zum Opfer einer in den internationalen Systemen entworfenen Politik, die Länder, Volkswirtschaften, Handel und Außenpolitik stärker miteinander verknüpft. Dies ist eine neue Quelle für Rückschläge im Gesundheitsbereich im 21. Jahrhundert." Sie widersprach denen, die dies als eine unabänderliche Konsequenz des "ökonomischen Fortschritts" bezeichnen: "Doch möchte ich an dieser Stelle fragen: Ist das denn Fortschritt? Worin besteht unterm Strich der Gewinn, wenn die wirtschaftliche die gesundheitliche Entwicklung zurückwirft?"


Es geht um Gerechtigkeit, nicht nur um "Effizienz"

Die WHO-Generalsekretärin und auch der WHO-Gesundheitsbericht rufen insgesamt nicht allein dazu auf, die Gesundheitsversorgung "effektiver" zu gestalten, sondern vor allem auch "gerechter". Sie belassen es dabei, trotz aller diplomatischen Vorsicht, nicht bei nur abstrakten Wünschen und sie nennen durchaus auch Adressaten. Auch in großen "Industriestaaten" seien viele Menschen mit Gesundheitskosten überfordert, konstatiert der WHO. Zum Beispiel in den USA oder süd- und osteuropäischen Staaten, wo viele Menschen direkt für Behandlungskosten zahlen müssten. Die armen Länder ruft die WHO zu mehr Investitionen in ihr Gesundheitssystem auf. Zugleich erinnerte sie die "Industriestaaten" an ihre Verpflichtungen bei der Entwicklungshilfe. Allein durch die Erhöhung der Mittel auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Geberländer bis 2015 könnten in Empfängerstaaten zusätzlich drei Millionen Menschenleben gerettet werden.

Es gehört zu den Stereotypen offizieller Gesundheitspolitik, besonders in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten, die eigenen staatlichen Gesundheitsausgaben immer als "völlig überhöht" einzustufen und die Umverteilung vom öffentlich und staatlich finanzierten Gesundheitswesen auf mehr private Eigenbeteiligung zu fordern. Die jüngste Gesundheits"reform" in der BRD ist dazu ein besonders geeignetes und abschreckendes Beispiel. Der DGB und andere entwicklungspolitische Interessenverbände sehen in der Studie eine Absage an die Privatisierung des Gesundheitswesens. Sie widerspreche damit den Absichten von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP). "medico international e. V." nahm den Weltgesundheitsbericht zum Anlass für Kritik an der Politik der Bundesregierung.

Die kürzlich beschlossene Gesundheitsreform höhle den hierzulande erreichten Grad eines gleichen Zugangs für alle aus, statt ihn weiter abzusichern, betonte medico international. Es sei gut, "dass der Bericht solidarisch finanzierten Gesundheitssystemen eindeutig den Vorzug gibt", erklärte der Gesundheitskoordinator von medico international, Andreas Wulf und ergänzte: "Die internationale Unterstützung für ärmere Länder, die den Gesundheitsbedürfnissen ihrer Bevölkerungen aus eigener Kraft nicht entsprechen können, muss allerdings zunehmen und zugleich vorhersagbarer und langfristiger angelegt sein." Daher fordert medico international die Schaffung eines "Globalen Fonds für Gesundheit", um die Entwicklungsländer zu unterstützen und die gegenseitige Hilfe völkerrechtlich bindend zu regeln.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 49
10. Dezember 2010, Seite 9
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2010