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ARTIKEL/1148: 113. Deutscher Ärztetag - Politischer Klimawandel sorgte für Aufbruchstimmung (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2010

113. Deutscher Ärztetag
Politischer Klimawandel sorgte in Dresden für Aufbruchstimmung

Von Horst Kreussler


Rückblick auf einen Ärztetag, der einen Gesundheitsminister mit viel Verständnis für die ärztlichen Probleme erlebte. Lob von Hoppe für Rösler.

Die Vertrauen erweckende Grußansprache des neuen Bundesgesundheitsministers Dr. Philipp Rösler zusammen mit dem inspirierenden Genius loci der sächsischen Landeshauptstadt war die Basis für einen insgesamt gelungenen Ärztetag. "Klimawandel" war das Wort des Tages - nach der mit langem Beifall aufgenommenen ersten Rede von Rösler vor einem Ärztetag. Noch deutlicher als zuvor beim Hauptstadtkongress in Berlin würdigte er die Leistungen der Ärzte, zeigte Verständnis für schwierige Arbeitsbedingungen und warb um Vertrauen für die geplanten politischen Korrekturen. Weniger bürokratische Kontrollen der ärztlichen Qualifikationen und Tätigkeiten, ja eine völlige Abkehr von der bisherigen Misstrauens(un)kultur, das kam im voll besetzten Zuschauerraum der Semper-Oper gut an.

Bei der Krankenversicherung plädierte der Minister zwar für das Solidarprinzip, aber nur zwischen Gesunden und Kranken und nicht zwischen Arm und Reich, und er warb erneut für die Kopfpauschale mit Ausgleich über das Steuersystem. Auch der Vorschlag der Ärzteschaft, die verdeckte Rationierung durch eine Priorisierung im vorparlamentarischen und parlamentarischen Raum abzulösen, fand nicht seine Zustimmung. Rösler hielt den Vorstoß (wie schon manche anderen ärztlichen Kritiker) für zu rigide. Seine verständnisvolle, freundliche, gesprächsbereite und eloquente Vorstellung verfehlte aber nach etwa acht Jahren mit seiner ungeliebten Vorgängerin ihre Wirkung auf die Delegierten nicht. "Dass ich das noch erleben darf", war die erste spontane Reaktion von Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer.

Hoppe zeigte sich in seiner Eröffnungsrede bewegt, erleichtert und ebenfalls gesprächs- und kooperationsbereit: "Heute müssen wir nicht mehr kämpfen, um uns Gehör zu verschaffen. Heute sitzt hier jemand mit einem offenen Ohr für die tatsächlichen Probleme im Gesundheitswesen." Eindringlich verwies der Ärztekammerpräsident auf die allseits bekannten Probleme: bürokratiebedingte Überstunden im Krankenhaus, Haftungsfragen und andere Niederlassungshemmnisse, sich verschlechternde Arbeitsbedingungen überall mit der Folge von Burnout bei Kollegen und von Ärztemangel in immer mehr Regionen: "... Es ist allerhöchste Zeit, die Hütte brennt!" Die Zukunftsaufgaben seien gewaltig und die Ärzte selbst gefordert, zu ihrer Bewältigung beizutragen. Als Stichworte nannte er das intensivere Gespräch mit den Patienten, eine bessere Weiterbildung, ja vor allem auch mehr Menschlichkeit - denn das Soziale drohe in einer Singlegesellschaft verloren zu gehen: "Wir können unsere Zukunft nur menschenwürdig gestalten, wenn wir uns rückbesinnen auf den Menschen als soziales Wesen ... wir brauchen einen Sozialpakt für die Zukunft. Wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind bereit, unseren Beitrag zu leisten."

Der Ärztemangel - 5.000 offene Stellen allein in den Kliniken - sei wesentlich durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu beheben, denn: "Die nachrückende Ärztegeneration hat Lebensentwürfe, die mit den bisherigen Marathondiensten im Krankenhaus oder der Selbstausbeutung in freier Praxis nicht mehr vereinbar sind."

Um über die Sorgen und Nöte der jungen Ärzte genauer Bescheid zu wissen, habe die Bundesärztekammer (BÄK) Ärzte in Weiterbildung und deren Weiterbildungsbefugte befragt. 30.000 hätten geantwortet mit dem Ergebnis: grundsätzlich zufrieden (Fachkompetenz, Betriebskultur), aber im Arbeitsalltag enorm belastend. "Leistungsverdichtung bei verkürzten Liegezeiten und bei einer Reduzierung der Stellen im ärztlichen Dienst führt zu extrem hoher Arbeitsbelastung." Die Befragung mache deutlich, dass "wir ein neues Denken für die Organisation ärztlicher Arbeit brauchen." Dazu gehöre ein praxisgerechteres, patientennäheres Medizinstudium und die Auswahl der Studienanfänger auch nach Motivation und sozialem Engagement. Auch auf das seit dem Mainzer Ärztetag heftig umstrittene Thema "Rationierung versus Priorisierung" ging Hoppe ein. Er unterstrich die Mahnung des Präsidenten der Sächsischen Landesärztekammer, Prof. Jan Schulze, es sei ethisch nicht mehr vertretbar, diese Diskussion nicht zu führen. "Im derzeitigen System sehe ich nur einen Weg aus der Rationierung, nämlich die Diskussion um die Priorisierung."

Im Zusammenhang mit der dabei angestrebten Verteilungsgerechtigkeit nannte der Präsident auch die Chancengleichheit der Patienten beim Zugang zu guter medizinischer Versorgung. Ein von der Koalition beabsichtigtes Patientenrechtegesetz müsse von der Situation ausgehen, dass gerade in Deutschland Patienten vielfache Rechte aus Gesetzen und Rechtsprechung hätten. Ein Zurückschrauben des Rechts auf Facharztstandard (BGH 1993) würde den Patienten schlechter stellen. Eine Deprofessionalisierung des Arztberufs könne nicht hingenommen werden. Also Substitution nein, Delegation im Sinne arztunterstützender und -entlastender Maßnahmen unter ärztlicher Verantwortung ja. Eine gute geriatrische Versorgung und Altenpflege, Palliativmedizin und Schmerztherapie statt aktiver Sterbehilfe waren weitere Themen in Präsident Hoppes mit großem Beifall bedachter Rede. Am Nachmittag des Eröffnungstages begann im nahen Internationalen Congress Center am Elbufer die erste Arbeitssitzung, traditionell mit TOP 1 "Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik". Zahlreiche Diskussionsredner nahmen Bezug auf die vorangegangen Ansprachen und formulierten Ergänzungs- und Änderungsanträge zum Antrag des Vorstandes. Aus der schleswig-holsteinischen Delegation (Dr. Hannelore Machnik, Dr. Henrik Herrmann, Peter Graeser, Dr. Dolores de Mattia, Rosemarie Müller-Mette, Stephanie Liedtke, Dr. Thomas Schang, Almuth Schlotheuber und Petra Struve) sprach Schang zum Unterpunkt "Für eine patientenzentrierte Medizin und eine soziale Gesundheitswirtschaft - Aufgaben für die verbleibende Legislaturperiode" und stellte mehrere Änderungsanträge. Zum ersten Abschnitt des Vorstands-Entschließungsantrags "Sicherstellung der wohnortnahen Versorgung in ländlichen Regionen" wurde sein Antrag, die sozialen Brennpunkte der Großstädte mit einzubeziehen ("Noch viel drängendere Probleme als das entvölkerte Land") mit großer Mehrheit angenommen. Dazu Präsident Hoppe beifällig: "Darauf hätten wir auch selber kommen können."

Auch sein Antrag I-01 o kam in die gemeinsame Entschließung: "Wesentliches Element einer Honorarordnung muss eine leistungsgerechte Honorierung sein", gemeint als Grundsatz der Einzelleistungsvergütung mit Kontrollen gegen ungerechtfertigte Mengenausweitung. Weitere Anträge zur GKV-Finanzierung ohne Kapitaldeckung, zur Bewertung neuer Medikamente und zur Einbeziehung regionaler Ärztenetze in die Versorgungsplanung kamen diesmal nicht zum Zuge.

Weitere wichtige Beschlüsse zum TOP 1:

  • keine Abhängigkeit von Kostenträgern, Geschäftsführungen und Politik (ärztliche Unabhängigkeit);
  • MVZ in ärztliche Hand;
  • keine Selektivverträge im Krankenhaus;
  • keine Punktwertabsenkung in überversorgten Gebieten zur Behebung des Ärztemangels in unterversorgten Gebieten;
  • Förderung der Niederlassung in unterversorgten Gebieten.

Das vollständige Beschlussprotokoll von 130 Seiten ist unter www.bundesaerztekammer.de einsehbar.

Die Platzierung des nächsten TOP II "Versorgungsforschung" gleich nach der "berufspolitischen Generaldebatte" zeigte den großen Stellenwert, den Bundesärztekammer und Ärztetag diesem vor Jahren noch kaum bekannten Bereich einräumten. Offenbar trägt die Arbeit der Versorgungsforscher aus medizinischen und benachbarten Wissenschaften seit etwa 2000 Früchte. Prof. Peter Scriba als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK informierte ausführlich über die Erfolge des BKÄ-eigenen Förderprogramms Versorgungsforschung mit jährlich einer Dreiviertelmillion Euro. "Die Versorgungsforschung hat durch die Förderung der BÄK ihre Methodik verbessert, ihr Ansehen vermehrt und neue Erkenntnisse gewonnen." Der Vorstandsantrag auf Fortführung des Programms wurde mit großer Mehrheit beschlossen. Ergänzungsanträge auf Nutzung der GKV-eigenen Versichertendaten (z.B. über notwendige Revisionsoperationen und längerfristige Rezidive) sowie über die Reduzierung des Einflusses der Pharmaindustrie auf Arzneimittelstudien wurden eingearbeitet.

Auch der Vorstandsantrag "Patientenrechte - Anspruch an Staat und Gesellschaft" fand eine große Mehrheit. Als Referent hatte Vizepräsident Dr. Frank Ulrich Montgomery (Hamburg) alle gegen das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis gerichteten Bestrebungen eines "Schutzgesetzes" zurückgewiesen. Vielmehr sei sinnvoller, die zahlreichen verstreuten Patientenrechte zu kodifizieren. Wer dabei etwas zum Wohle des Patienten verbessern wolle, solle acht Forderungen berücksichtigen: Anspruch des Patienten auf individuelle Behandlung und Betreuung, auf freie Arztwahl, auf Transparenz, auf Wahrung des Patientengeheimnisses, auf die Solidarität der Gesellschaft, auf eine solidarische Krankenversicherung, auf ein bürgernahes (selbstverwaltetes) Gesundheitswesen sowie auf Fürsorge und Zuwendung.

Ergänzend referierte Dr. Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der Christdemokraten im Europäischen Parlament, in einer ungewöhnlich kollegialen Rede über die Patientenrechte in der EU und aktuelle Entwicklungen in der europäischen Gesundheitspolitik. Patientenrechte, die weitgehend mit den deutschen Rechten übereinstimmten, seien zum 1. Dezember 2009 in der Charta der Grundrechte in der EU rechtlich verbindlich geworden (Art. 1-3, 34, 35). Von Europa, dieser Eindruck entstand bei Beobachtern, müssen gesundheitspolitisch nicht unbedingt Gefahren wie Gängelung, Wegnivellierung nationaler Vorteile und Bürokratisierung drohen, wenn Ärztevertreter und Politik weiterhin sorgsam und konstruktiv zusammenarbeiten. Unter TOP V: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer referierte auch Dr. Franz-Joseph Bartmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein und Vorsitzender des Ausschusses Telematik der BÄK. Sein Thema: die aktuelle Diskussion zur Telematikinfrastruktur und die Zukunft der Telemedizin in Deutschland. Bartmann erläuterte die bisherige Vernachlässigung der Interessen von Ärzten und Patienten und die "völlig unzureichenden" Testergebnisse, aber auch erreichte Verbesserungen und plädierte engagiert für eine Neuausrichtung des Projekts.

Nach eingehender, wie im letzten Jahr wieder sehr emotional bis polemisch geführten Diskussion wurde allerdings nicht der Vorstandsantrag angenommen, sondern kritische Anträge u.a. aus den Reihen der Freien Ärzteschaft:

"Der 113. Deutsche Ärztetag fordert von der Bundesregierung, das verfehlte Projekt elektronische Gesundheitskarte (eGK) in der weiter verfolgten Zielsetzung endgültig aufzugeben.

"(...) Insbesondere wendet sich der 113. Deutsche Ärztetag entschieden gegen die Verwandlung von Arztpraxen in Außenstellen der Krankenkassen durch Verlagerung des Versichertendatenmanagements in die Praxen."

Allerdings: "Moderne Möglichkeiten der Datenübertragung können auch ohne staatlich aufgezwungene Telematikinfrastruktur für die ärztliche Versorgung genutzt werden."

Hier wurde deutlich, dass sich die Ärztevertreter nicht total gegen Telematik-Neuerungen sperrten, sondern strengere Kriterien forderten, vor allem gegen die Gefahr des Missbrauchs sensibler Patientendaten etwa durch Kostenträger.

Deutlich positiv fielen dann die Stellungnahmen zur Telemedizin (Radiologie, Kardiologie usw.) aus. Am Ende des Ärztetages, nach den Punkten "Finanzen" und Entlastung des Vorstandes, stand die Wahl des übernächsten Tagungsortes Nürnberg (2012), doch zunächst einmal können wir uns freuen auf den 114. Deutschen Ärztetag in Kiel vom 31.5. bis 2.6.2011.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201006/h10064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2010
63. Jahrgang, Seite 8 - 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010

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