Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2010
Studie des Fritz-Beske-Instituts
Paradigmenwechsel in der gesetzlichen Krankenversicherung
Von Prof. Dr. Fritz Beske
Prof. Fritz Beske mahnt in seiner aktuellen Studie die Konzentration auf notwendige Leistungen mit gesundheitspolitischen Zielvorgaben an.
"Die Regierungskommission zur Gesundheitspolitik muss eine schwierige Aufgabe bewältigen: Sie muss den Bürgern verdeutlichen, dass die Medizin schon heute mehr leisten kann, als die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten zu zahlen in der Lage ist", sagte Prof. Dr. Fritz Beske vom IGSF Kiel bei der Vorstellung einer neuen Studie des Instituts: "Bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung bei begrenzten Mitteln"(1).
"Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) steht vor einer grundlegenden Veränderung", so Prof. Beske weiter. "Vom Grundsatz her bestimmt heute der Leistungsbedarf der Versicherten das Finanzvolumen der GKV. Mit dem Jahr 2020, also in gut zehn Jahren, erreichen die geburtenstarken Jahrgänge die Altersgruppe der Alten. Die Auswirkungen werden für das Gesundheitswesen gravierend sein. Spätestens dann ist der Zeitpunkt erreicht, zu dem das in der GKV zur Verfügung stehende Finanzvolumen den Leistungsumfang der GKV bestimmen wird. Gehandelt werden muss jedoch schon heute." Nach Ansicht des IGSF Kiel steht die Gesundheitspolitik vor der Aufgabe, eine Methodik zu erarbeiten, mit der kontinuierlich bei zunehmendem Leistungsbedarf und stetig sinkendem Finanzvolumen der GKV eine bedarfsgerechte Versorgung sichergestellt werden kann. Mit der vorgestellten Studie will das IGSF Kiel der Politik insgesamt, besonders aber der Regierungskommission Handlungsoptionen aufzeigen.
Der Weg, den das IGSF vorschlägt, ist eindeutig: Erforderlich ist eine Konzentration auf notwendige Leistungen mit gesundheitspolitischen Zielvorgaben und eine gerechte und transparente Verteilung begrenzter Mittel, die alle Versicherten erreichen.
Bedarfsgerechtigkeit im Sinne dieser Arbeit ist ein evolutionärer Prozess, in dem kontinuierlich ein medizinischer und gesellschaftlicher Konsens darüber gefunden werden muss, welche Gesundheitsleistungen mit dem jeweils in der Gesetzlichen Krankenversicherung vorhandenen Finanzvolumen gerecht finanziert werden können.
Grundlage hierfür ist zunächst das Sozialgesetzbuch V (SGB V), das in Paragraf 12 bestimmt, dass Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen, ergänzt um die Forderung, dass sich diese Leistungen an den jeweils in der GKV zur Verfügung stehenden Finanzmitteln ausrichten müssen.
Die Gesundheitsversorgung sollte sich dann an Gesundheitszielen orientieren, z.B. den in dieser Arbeit definierten Zielen: Einbeziehung jedes Versicherten unabhängig von seiner finanziellen Situation, medizinischer Fortschritt für alle und Ausschluss jeder altersbezogenen Leistungsbegrenzung. Die Notwendigkeit für eine grundlegende Veränderung der GKV ergibt sich aus den Auswirkungen der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts. Einige Angaben zur demografischen Entwicklung:
Bis 2050
Während heute drei Personen für eine Person arbeiten, die altersbedingt nicht mehr arbeitet, wird 2050 nur noch eine Person für eine Person arbeiten, die altersbedingt nicht mehr arbeitet.
Die Lebenserwartung steigt. Während 1900 ein neugeborener Junge die Aussicht hatte, 40 Jahre und ein neugeborenes Mädchen, 44 Jahre alt zu werden, liegt heute die Lebenserwartung je nach Trendvariante zwischen 81,7 und 84,9 Jahren bei Jungen und zwischen 87,8 und 90,4 Jahren bei Mädchen (Generationensterbetafel), mit steigender Tendenz.
Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung. Die Multimorbidität nimmt zu mit einem größeren Versorgungsbedarf und höheren Kosten. Ferner nehmen überwiegend altersbedingte Krankheiten zu. Einige Beispiele, ebenfalls für die Zeit bis 2050:
Die altersbedingte Steigerung der Ausgaben der GKV lässt sich auch an altersbedingten Kosten erkennen. Diese betragen jährlich für 10-Jährige 847, für 40-Jährige 1.225 und für 90-Jährige 4.895 Euro.
Zu den demografiebedingten Kosten kommen die Kosten für den medizinischen Fortschritt. Werden hierfür jährlich ein oder zwei Prozent der Ausgaben der GKV zugrunde gelegt, eine realistische Annahme, steigt der Beitragssatz von heute 14,9 Prozent demografiebedingt und durch den medizinischen Fortschritt um ein Prozent auf 27 Prozent, bei einer Steigerung um zwei Prozent auf 43 Prozent, wobei die Wahrscheinlichkeit eher näher an 43 Prozent liegt. Auch die Zahl der Pflegebedürftigen von heute rund zwei Millionen steigt auf rund 4,4 Millionen 2050.
Eine Diskussion über eine bedarfsgerechte Versorgung bei begrenzten Mitteln muss vor dem Hintergrund des Leistungsniveaus in Deutschland gesehen werden. Ein Strukturvergleich z.B. von Ärzten und Krankenhäusern und ein Vergleich ausgewählter Leistungen in der Gesundheitsversorgung mit europäischen Ländern macht deutlich, dass es in Deutschland keine Unterversorgung geben dürfte, abgesehen von Versorgungsdefiziten, auf die von Betroffenen hingewiesen wird, und dass sich bestätigt, dass Deutschland über den umfangreichsten Leistungskatalog weltweit mit den geringsten Zuzahlungen verfügt.
Dass es Über-, Unter- und Fehlversorgung gibt, ist unstrittig, in Deutschland wie in jedem anderen Gesundheitssystem. Dabei geht die Bezeichnung Über-, Unter- und Fehlversorgung auf das Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, jetzt Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, zurück, in dem diese Problematik aufgearbeitet wird. Im Ergebnis überwiegt die Unterversorgung, sodass Einsparungen durch eine Behebung von Über-, Unter- und Fehlversorgung nicht zu erwarten sind.
Die Notwendigkeit von Leistungseinschränkungen bis hin zur Ablehnung jeder Diskussion über die Problematik der Sicherstellung einer bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung bei begrenzten Mitteln wird im Wesentlichen mit folgenden Argumenten begründet:
Insgesamt kann festgestellt werden, dass weder über Einzelmaßnahmen noch über eine Kombination von Maßnahmen das Defizit der GKV ausgeglichen werden kann.
Zu Priorisierung und Rationierung als Methoden zur Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung: Priorisierung ist die Aufstellung einer Rangfolge medizinischer Leistungen mit höchster und niedrigster Wertigkeit. Priorisierung kann auch für eine vergleichende Wertung von Leistungen und Versorgungsbereichen angewandt werden. Priorisierung ist eine medizinische Aufgabe.
Rationierung ist die Nicht-Gewährung von Leistungen durch Nicht-Aufnahme in den Leistungskatalog oder durch Herausnahme aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung. Zuzahlungen können eine Form von Rationierung sein. Explizite Rationierung ist eine öffentlich gemachte und damit transparente Form von Rationierung. Implizite Rationierung ist eine stille, geheime, nicht öffentlich gemachte und damit intransparente Form der Rationierung. Implizite Rationierung entsteht, wenn keine ausreichenden Finanzmittel zur Finanzierung eines Gesundheitssystems zur Verfügung stehen. Da die implizite Rationierung wahllos und unbegründet Leistungen einschränkt, ist die implizite Rationierung eine unsoziale und ungerechte Form der Leistungseinschränkung. Rationierung ist eine politische Aufgabe.
Der Diskussionsstand in Deutschland negiert in weiten Teilen die auf die Gesundheitsversorgung zukommende und teilweise schon heute erkennbare Entwicklung. Während von ärztlicher Seite immer wieder und auch unter Berufung auf eine offenkundig vorhandene stille Rationierung in der Gesundheitsversorgung eine Priorisierungsdebatte gefordert wird, lehnt die Politik eine derartige Debatte strikt ab. Ganz anders die Situation im Ausland. In einer Reihe von Ländern wird seit Jahrzehnten offen und relativ emotionslos über die Notwendigkeit der Priorisierung im Gesundheitswesen diskutiert, in Norwegen und Schweden zum Beispiel auch im Parlament mit dem Auftrag an die Ärzteschaft, Vorschläge für Priorisierungsmaßnahmen zu erarbeiten. Die Begründung lautet übereinstimmend, dass Wege gesucht werden müssen, mit denen Mittel sowohl in der Gesundheitsversorgung eingespart als auch begrenzte Mittel gerecht eingesetzt werden können.
Die Politik muss handeln. Der Weg ist vorgegeben. Als Erstes muss die Politik öffentlich anerkennen, dass die Deckung des steigenden Finanzbedarfs in der GKV mit keiner der herkömmlichen Maßnahmen möglich ist und dass daher andere Wege gegangen werden müssen, um auch in Zukunft eine bedarfsgerechte Versorgung, eine Versorgung mit dem medizinisch Notwendigen sicherzustellen. Priorisierung und Rationierung sind hierfür die Methoden der Wahl.
Bereits heute und mehr noch in der Zukunft besteht in weiten Kreisen der Bevölkerung die Sorge, ob bei einer ernsten Krankheit die notwendigen Leistungen auch zur Verfügung stehen. Die Politik muss daher Gesundheitsziele definieren und die Verwirklichung dieser Gesundheitsziele unmissverständlich zusagen. Gesundheitsziele sind:
Die Politik benennt die Bundesärztekammer als federführende Institution für die Aufstellung von Prioritätenlisten in der medizinischen Versorgung und richtet ein Gremium oder Gremien mit dem Auftrag ein, eine Methodik zu erarbeiten, wie der Leistungskatalog der GKV kontinuierlich an begrenzte Mittel angepasst werden kann. Hierzu könnte auch der Gemeinsame Bundesausschuss mit einem eindeutigen Mandat gehören.
Die Letztentscheidung über Rationierungsmaßnahmen in der GKV liegt bei der Politik, die auch über das für die GKV zur Verfügung stehende Finanzvolumen sowie über Art und Umfang von Priorisierung und Rationierung entscheidet. In keinem Fall jedoch darf die Politik über Ausweichargumente oder über den Auftrag an die Ärzteschaft, zunächst Einsparmöglichkeiten durch Priorisierung vorzuschlagen, ihre Verantwortung auf Dritte verlagern. Erforderlich ist ein integriertes Vorgehen, mit dem alle Wege zur Bewältigung der Finanzsituation der GKV gegangen werden.
Es gibt keine Möglichkeit, die Finanzierung der GKV dauerhaft sicherzustellen. Entschieden werden kann ausschließlich über die Struktur der Mittelaufbringung, nicht jedoch über die für die Leistungsfinanzierung erforderliche Höhe der Einnahmen. In dieser Situation wird die GKV aus sich selbst heraus Wege für eine dauerhafte Finanzierung finden müssen. Unabhängig von der Notwendigkeit der Priorisierung und Rationierung wird Folgendesvorgeschlagen:
Der in dieser Arbeit vorgeschlagene Weg zur Finanzierung der
Gesetzlichen Krankenversicherung wird auf Widerstand stoßen. Wer
diesen Weg ablehnt, sollte zunächst die Argumente für diesen Weg
widerlegen. Es sollte dann nachvollziehbar dargelegt werden, wie
anders in Zukunft eine bedarfsgerechte Versorgung mit notwendigen
Leistungen sichergestellt werden kann. Diese Diskussion muss
öffentlich geführt werden. Hierzu gehört, Tatbestände anzuerkennen mit
der Bereitschaft zu einer sachorientierten Diskussion über die Zukunft
der Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung, Kiel
Literatur beim Verfasser oder im Internet unter www.aeksh.de
Literatur
1) Beske, F.; "Bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung bei begrenzten Mitteln Situationsanalyse, internationaler Vergleich, Handlungsoptionen -". Schriftenreihe/Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel; Bd. 116. Kiel 2009. Die Studie kann gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro zzgl. Versandkosten bestellt werden bei: IGSF Kiel, Weimarer Str. 8, 24106 Kiel, Tel. 0431/80060-0, Fax 0431/800 6011, E-Mail info@igsf-stiftung.de.
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2010 im
Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201005/h105034a.htm
Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Mai 2010
63. Jahrgang, Seite 64 - 67
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2010
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