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ARTIKEL/1132: Industrie in der Patientenversorgung - Gefahr oder Segen? (MedizinRecht.de)


MedizinRecht.de Verlag GmbH - Sonntag, 6. Juni 2010

Industrie in der Patientenversorgung - Gefahr oder Segen für das Gesundheitssystem?

Von Prof. Dr. Thomas Schlegel


Der Gestaltungsspielraum der Gesundheitsindustrie wird immer stärker eingeschränkt. Die Kassen der Kostenträger sind leer, die Vergütungen der Leistungserbringer sinken kontinuierlich und die Qualität der Patientenversorgung leidet unter staatlichem Dirigismus. Anstatt jedoch weiter staatlich in die Preisbildung der Arznei- und Hilfsmittelindustrie einzugreifen, stellt sich die Frage, ob eine direkte Beteiligung der Industrie an der Patientenversorgung nicht einen Ausweg darstellt. Die ersten Unternehmen sind damit bereits erfolgreich am Start. Dabei stellen sich natürlich auch ethische Fragen zu den Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Einbindung der Industrie. Der richtige Umgang und die gezielte Auseinandersetzung mit diesen Chancen und Risiken könnte allerdings das Gesundheitswesen in Deutschland auch in Zukunft tragfähig machen.

Derzeitige Situation der Gesundheitsindustrie

Durch den sich immer mehr verstärkenden Sparzwang im Gesundheitssystem werden seit Jahren mehr und mehr direkte Eingriffe des Staates in unternehmerische Entscheidungen legitimiert, die in anderen Branchen in einer sozialen Marktwirtschaft undenkbar wären. Da werden staatliche Preisbildungen verordnet, der Arzneimittelindustrie angedroht, deren "Preismonopol zu brechen", Produkte zu unwirtschaftlichen preisen über Rabattverträge eingekauft und Patienten (Kunden) gezwungen, nur bestimmte, billig eingekaufte, Arznei- und Hilfsmittel zu nutzen. Man stelle sich ein solches Vorgehen in der Automobil- oder gar in der Energiebranche vor - obgleich es sich bei letzterem immerhin um existentielle Daseinsvorsorge des Staates handelt. Bei der Sicherstellung der Gesundheit des Bürgers scheinen jedoch andere Kriterien zu gelten.

So geschieht es seit Jahren, dass die Politik sich primär auf die Arzneimittelbranche konzentriert und der Allgemeinheit suggeriert, dass hier die primären Einsparmöglichkeiten liegen und damit auch staatliche Eingriffe legitimiert. Das erscheint in Anbetracht der Relation von ca. 170 Milliarden Euro Gesamtausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gegenüber ca. 30 Milliarden Euro Arzneimittelausgaben wenig sinnvoll, da sich einerseits keine besonders großen quantitativen Effekte erzielen lassen, die spürbar die Gesamtausgaben reduzieren. Die Eingriffe können aber tatsächlich auch zu höheren Folgekosten in der Patientenversorgung führen.

Auswirkungen auf die Patientenversorgung

Diese zusätzlichen Folgekosten sind insbesondere im Bereich der Versorgung chronisch Kranker Patienten zu erwarten, wenn weiterhin durch staatlichen Dirigismus und willkürlichen Einkauf von Therapieprodukten wie Arznei- und Hilfsmitteln in die Therapiehoheit von Ärzten eingegriffen wird und diese Produkte entweder gar nicht in die Therapie passen (beispielsweise durch Wechselwirkungen, falsche Galenik o.ä.) oder aber die Compliance der Patienten erheblich reduziert wird, da sie durch den Wechsel der Präparate verunsichert werden und die Therapie abbrechen. Dies ist insbesondere bei der Versorgung von Patienten mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, COPD/Asthma, Depression und Schmerz besonders heikel und kontraproduktiv, da viele dieser Erkrankungen bei mangelnder Compliance irreversible Folgeschäden mit deutlich höheren Gesundheitskosten in der Folgezeit nach sich ziehen. Diese Patientengruppen sind mit Abstand die größten Kostenverursacher im Gesundheitswesen. Allein Diabetes mellitus verursacht gemäß der KoDiM-Studie aus 2003 jährlich etwa insgesamt 50 Milliarden Euro direkte und indirekte Kosten, mithin etwa ein Drittel der Gesamtausgaben in der GKV. Es ist davon auszugehen, dass sich über die Hälfte der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen auf die vorgenannten Volkskrankheiten verteilen. Es lohnt sich also, diese genauer zu betrachten.

Werden nunmehr - wie 2007 geschehen - beispielsweise Insuline per Rabattvertrag eingekauft, die aufgrund ihrer besonderen Rabattmarkierung letztlich nicht mehr in den Insulinpen passen und damit die Ursache für Fehldosierungen bei der Patientenversorgung setzen, sind die daraus resultierenden Folgekosten ein Produkt der derzeit verfehlten Sparpolitik des Gesetzgebers und der Kostenträger.

Doch welchen wirtschaftlichen Beitrag kann nun die Industrie leisten, der gleichermaßen geeignet ist, Versorgungsdefizite zu beseitigen?

Wettbewerb um Versorgungssysteme

Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass sich immer mehr (fachübergreifende) Leistungserbringer regional und überregional zu Systemen zusammenschließen, die sich auf die Versorgung bestimmter Patientengruppen und Indikationen konzentrieren. Dies schafft für die Patientenversorgung eine verbesserte Abstimmung in der Therapie und damit auch eine höhere Versorgungsqualität. Dies führt nicht selten zu Selektivverträgen mit Krankenkassen, die sich durch eine verbesserte Versorgungsqualität mittel- und langfristige Einsparungen erhoffen. Aber auch kurzfristige Effekte, beispielsweise durch eine erhebliche Reduktion vermeidbarer und unnötiger stationärer Einweisungen, stehen im Fokus und sind nicht zuletzt auch für die Patienten sinnvoll.

Einbeziehung der Industrie in Versorgungssysteme

Bei allen vorgenannten Volkskrankheiten ist die Arzneimitteltherapie ein entscheidender Erfolgsbestandteil. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Arzneimitteltherapie und damit auch die Arzneimittelindustrie in diese Versorgungssysteme einzubeziehen.

Es ist möglich, einen selektiven Versorgungsvertrag mit einer Managementgesellschaft abzuschließen, welche direkt zu einem Industrienunternehmen gehört. Diese Managementgesellschaft kann vertraglich die Sicherstellung der Patientenversorgung in einer Region übernehmen und organisieren. Zwar darf die Managementgesellschaft nicht auf die Therapieentscheidung des Arztes direkten Einfluss nehmen, sie ist jedoch in der Lage, Patientenmanagement und Compliance-Programme für Patienten durchzuführen und damit einen aktiven Teil der Versorgung darzustellen. Aus der Krankenkassen-Perspektive ist es auch möglich, die Managementgesellschaft an der wirtschaftlichen Unterdeckung einzelner Patienten zu beteiligen, um so kostenträgerseitig eine Kostensicherheit zu erhalten. Ist dies wirtschaftlich hinreichend gerechnet, kann eine solche Defizitbeteiligung in der Gesamtbetrachtung unter Umständen für das Industrieunternehmen wirtschaftlicher sein, als sich an einem ruinösen Rabattwettbewerb zu beteiligen. Hinzu kommt, dass Industrieunternehmen (durch die Managementgesellschaft) an Kosten des Patientenmanagements zum Vorteil von Krankenkassen und Patienten beteiligt werden können.

Krankenkassen werden künftig mehr denn je Patientensteuerung betreiben müssen, um ihr Sicherstellungs- und Kostenrisiko kontrollieren zu können. Dies werden sie insbesondere mithilfe von Selektivverträgen mit Versorgungssystemen durchführen. Für die Industrie bietet sich daher die Chance, sich am Aufbau solcher Versorgungssysteme zu beteiligen und diese durch eigene Managementstrukturen zu organisieren. Arzneimittelhersteller erhalten durch aktive Teilnahme an Versorgungssystemen einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, da sie dann nicht mehr gezwungen sind, unwirtschaftliche Angebote bei Ausschreibungen von Arzneimitteln abzugeben.

Ethische und rechtliche Fragen

Die Einbeziehung der Industrie in die Verantwortung für die Patientenversorgung löst selbstverständlich ethische und rechtliche Fragen aus, die jedoch lösbar sind. Am Markt agieren bereits internationale Unternehmen, die sowohl Hersteller, als auch Leistungserbringer sind. Eine direkte Beteiligung von Arznei- und Hilfsmittelunternehmen an der Patientenversorgung wird eine erhöhte Transparenz notwendig machen, um Missbrauchsgefahren zu adressieren und einzudämmen. Dies wird eine wichtige Aufgabe aller Beteiligten sein.

Ausblick für Gesetzgeber, Kostenträger, Leistungserbringer, Industrie und Patienten

In Anbetracht der finanziellen Situation der Krankenkassen und der massiven Überschuldung des Staates ist ausgeschlossen, dass steigende Kosten im Gesundheitswesen allein durch erhöhte Steuern zu finanzieren sind. Es erscheint auch sinnvoller, eine versorgungsorientierte Fokussierung vorzunehmen, als willkürliche Einkaufspraktiken der Krankenkassen zu forcieren, die letztlich die Versorgungsqualität mindern und schließlich doch noch höhere Folgekosten produzieren.

Es ist daher an der Zeit, die Beteiligten gemeinsam an der Versorgung partizipieren zu lassen, anstatt durch politische Willkür dirigistisch und fern jeder Versorgungsorientierung einzugreifen.

Eine Möglichkeit besteht in der Einbeziehung der Industrie in die Verantwortung der Patientenversorgung. Durch die direkte Beteiligung an der Versorgung ist die Industrie auch am wirtschaftlichen Risiko der Versorgung beteiligt. In einer sozialen Marktwirtschaft muss der Gesetzgeber für die soziale Verantwortung den gesetzlichen Rahmen vorgeben, der zielorientiert die Ergebnisse der Versorgung der Bevölkerung definieren sollte, nicht aber die Preise der Leitungen diktieren darf. Für den Bürger war es in der Vergangenheit immer schlecht, wenn sich der Staat in die Preispolitik einer Branche direkt eingemischt hat, anstatt regulierend einzugreifen. Der Bürger sucht sich sein Angebot auf einem Markt, der sich auch frei entwickeln können muss - das konnte man bereits in der Vergangenheit bei Rundfunk, Post und Telekom erleben.

Insoweit ist es wichtig, dass Industrie und Leistungserbringer sich über die Art der Versorgungssysteme einig, Krankenkassen und Patienten von der Leistungsfähigkeit dieser Versorgungssysteme überzeugt sind und der Gesetzgeber den Regelungsrahmen für eine erfolgreiche Umsetzung im Sinne der Versorgung schafft.

Veranstaltungshinweis:

Das Institut für Gesundheitsökonomie und -recht (IGÖ) veranstaltet zu dem Thema: "Industrie in der Patientenversorgung" einen ganztägigen Workshop mit hochkarätigen Referenten aus den Bereichen Industrie, Ethikberatung, Kodexcompliance, Krankenhaus-Perspektive und Recht in Frankfurt/Main am 18. Juni 2010

Weitere Informationen zur Veranstaltung erfahren Sie unter:
http://www.medizinrecht.de/cgi-bin/seminare/veranstaltungskalender.pl?action=vanzeigen&name=Veranstaltungen&wert=210&
oder unter Presse@MedizinRecht.de

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Quelle:
MedizinRecht.de Verlag GmbH
Pressemitteilung vom 6.6.2010
Prof. Dr. jur. Thomas Schlegel, Rechtsanwalt, Kanzlei für Medizinrecht
Hanauer Landstr. 328-330, 60314 Frankfurt
Telefon: 069-43 05 96 00, Fax: +49(0)69-43 05 9565
E-Mail: Kanzlei@MedizinRecht.de
Internet: www.GesundheitsRecht.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2010

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