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ARTIKEL/1085: Elektronische Gesundheitskarte stoppen! Ein Plädoyer von Silke Lüder (IPPNWforum)


IPPNWforum | 117|18 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Elektronische Gesundheitskarte stoppen!

Ein Plädoyer von Silke Lüder


1997 erstellte die internationale Managementberatergesellschaft Roland Berger ihr "visionäres" Gutachten zur Entwicklung des Projekts "elektronische Gesundheitskarte. Ziel war: das ganze Gesundheitswesen wird organisiert wie ein Industriebetrieb. Das "Niederreißen der Sektorengrenzen" zwischen Klinik und Praxen würde Milliardeneffizienzreserven freisetzen und Gesundheit komplett steuerbar machen. Pech war: Die Grundannahmen der Manager stimmten in großen Teilen nicht mit der Realität des deutschen Gesundheitswesens überein.

Damals wie heute gab es schon gängige Kommunikationsbeziehungen zwischen den "Sektoren". Arztbriefe aus Kliniken und Facharztpraxen werden routinemäßig von den Hausärzten, die für 90% der Bürger die "Patientenakte" führen, sorgfältig archiviert, heute meist schon elektronisch. In der Praxis. Unter ihrer Schweigepflicht. Aber die Grundlagenfehler dieser Veröffentlichung von 1997 wurden nie korrigiert, die meist nicht-medizinischen eHealth Technokraten träumen heute noch den Roland Berger Traum. Die Wirklichkeit im April 2009: Die Karte ist immer noch nicht da. Tests wurden in sieben Testregionen durchgeführt. Doch die Ergebnisse wurden selbst von Insidern als mittlere Katastrophe eingeschätzt.

Statt besserer Technik und schnellerer Kommunikationsbeziehungen kommt es zu einer "Entschleunigung" aller Vorgänge in den Arztpraxen. Das einfache "Einlesen" der neuen Karte dauert fünf- bis siebenmal solange wie bisher. Für dieses Ergebnis brauchte man zwei Jahre. Und viele, viele Millionen Euro.

Auch das E-Rezept erwies sich als Flop: In sieben Testregionen, bei 60.281 beteiligten Versicherten, 188 niedergelassenen Ärzten, 115 Apotheken und elf Krankenhäusern wurden nur 3.201 mal E-Rezepte ausgestellt. Ausgelesen in der Apotheke wurden diese nur 1.239 mal wegen Zeitverzögerung und Unpraktikabilität. In einer großen Hausarztpraxis ist das in etwa die Zahl der in einer Woche ausgestellten Papierrezepte.

Der Notfalldatensatz, der auf den Kartenchip geschrieben wird, trägt ebenfalls zur Verzögerung bei. Da es nicht möglich ist, aus dem Praxiscomputer irgendwelche Daten zu übernehmen, muss der Arzt dieses in Handarbeit durchführen. Dauer: 20 Minuten in der Sprechstunde, für einen Patienten. In allen Testregionen wurde dieser Vorgang genau 281 mal durchgeführt. "Vor diesem Hintergrund wird seitens der am Test beteiligten Leistungserbringer derzeit keine Verbesserung des Betriebsalltags durch die Einführung der eGK erkannt. Dies trifft im Besonderen auf die Anwendungen eVerordnung und Notfalldaten zu, [...]. Das PIN Verfahren wird grundsätzlich insbesondere bei älteren und dementen Patienten in der Praxis als nicht umsetzbar gewertet, da diese Schwierigkeiten haben werden, sich die PIN zu merken." (Zitat Gematik-Bericht). Das ist aber noch nicht die ganze Wahrheit. 75 % der Versicherten hatten ihre sechsstellige PIN vergessen und 30 % der Ärzte auch, obgleich man bei diesen annimmt, dass sie nicht dement sind.

Unser Fazit:

Die Testergebnisse sind eine Katastrophe. Was tun? Den Reset-Knopf drücken! Unser Vorschlag sind pragmatische und kostensparende Lösungen statt industriegeleiteter Prestigeprojekte. Die Krankheitsdaten müssen beim Arzt des Vertrauens gespeichert werden. Der Datenfluss unter den Ärztinnen und Ärzten muss nicht neu erfunden werden. Hier sollte ausschließlich die Lösung einer "Punkt zu Punkt" Kommunikation orientiert an einzelnen Patienten zum Tragen kommen. Wenn hier elektronische Lösungen regional für die Verbindung zwischen verschiedenen Ärzten und Kliniken sinnvoll sein sollten, dann nur durch abgesicherte Leitungen mit Verschlüsselung.

Alle zentralen Datenspeicherungen sind bei künftigen Gesetzesänderungen (siehe Maut-Gesetz) nicht zukunftsfähig! Je größer der Datenberg, desto größer die kommerziellen, staatlichen oder kriminellen Begehrlichkeiten. Die veraltete und langsame "Kartentechnologie" als PIN Schlüssel ist für diese Kommunikation nur hinderlich, wie man in den Tests gesehen hat.

Datenschutz?

Nach der Europäischen Berufsordnung dürfen Ärzte Patientendaten nur dann in elektronische Datenbanken einstellen, wenn diese Datenbank unter persönlicher Verantwortung eines anderen Arztes steht, der namentlich benannt werden muss. Dieser Vorgabe entspricht das E-Card-Projekt nicht. Wer überhaupt die Verantwortung für die zentrale Serverstruktur des eGK-Projekts tragen wird, welche von T-Systems (Telekom) verwirklicht werden soll, steht in den Sternen! Wer hat denn noch Vertrauen zum Schutz sensibler Daten heutzutage? Besonders gefährdet sind hier Politiker, Prominente und Entscheidungsträger.

Informatikprofessoren weisen darauf hin, dass man die Millionen am E-Card-Projekt beteiligten Computer der Zugriffsberechtigten niemals wirklich sichern kann! Die Kosten des Projekts belaufen sich auf 5 bis 13,5 Milliarden Euro! Die administrativen Aufgaben der Krankenkassen sollten, z. B. bei Kassenwechsel und zeitraubender Online-Aktualisierung von Versichertendaten, nicht an die Anmeldetresen der Arztpraxen abgedrückt werden, das würde bei Quartalsbeginn das Gesundheitswesen in unserem Land lahm legen.

Die ständige Überwachung der Versicherten dient zum Erstellen von "Kunden"-Profilen und Einsparen von Leistungen. Auch die Hoffnung auf Missbrauchsschutz erfüllt sich nicht, weil beim quasi amtlichen Dokument E-Card die Übereinstimmung zwischen Foto und Karteninhaber von der ausstellenden Kasse nicht geprüft wird. Das heißt, Profibetrügereien werden durch Einsenden eines falschen Fotos ganz einfach weitergehen. Die Bankkreditkarten haben kein Foto, weil nach Untersuchungen der Bankwirtschaft die Karten durch das Foto nicht missbrauchssicherer gemacht werden konnten.

Notfalldaten sind deutlich besser auf einem Papierausweis aufgehoben. Im lebensbedrohlichen Notfall sind diese Informationen nicht so wichtig, wie suggeriert wird. Und wer möchte denn, dass der Betriebsarzt der neuen Firma mal kurz auf die Notfalldaten guckt und sieht, dass man vor 20 Jahren mal wegen einer sexuell übertragbaren Krankheit behandelt werden musste, und dann eine Arzneimittelallergie bekam.

Der 112. Deutsche Ärztetag hat das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte Mitte Mai in der derzeit geplanten Form erneut abgelehnt: Die Delegierten unterstützten mit großer Mehrheit einen entsprechenden Antrag des Hamburger Arztes Prof. Winfried Kahlke: "Damit das Grundvertrauen der Patienten in unser ärztliches Berufsethos erhalten bleibt und das bewährte Konzept von einer am Individuum und seiner individuellen Lebensgestaltung orientierten Humanmedizin nicht zerstört wird, lehnt der 112. Deutsche Ärztetag die elektronische Gesundheitskarte in der bisher vorliegenden Form ab... Bereits der 111. Deutsche Ärztetag hat eine bundesweite Telematikinfrastruktur mit der verpflichtenden Online-Anbindung und der Speicherung von Krankheitsdaten in einer zentralen Serverstruktur abgelehnt und eine Neukonzeption des gesamten Projekts gefordert. Dies ist bisher nicht erfolgt."(aus dem weitestgehenden Beschluss VIII-74)

Undemokratisches Verhalten

In Zusammenhang mit der erneuten e-Card Diskussion kritisierten Delegierte den Vorstand der Bundesärztekammer, weil er im Gegensatz zu den eindeutig ablehnenden Beschlüssen der letzten Ärztetage diese Ablehnung nicht nach außen getragen, sondern im Gegenteil die e-Card als Garant einer sicheren zentralen Datenspeicherung und Telematikinfrastruktur verteidigt habe. Dieses undemokratische Verhalten komme auch in einer nicht sachgerechten Berichterstattung im Deutschen Ärzteblatt zum Ausdruck.

Unsere Aktion "Stoppt die e-Card" hat sich inzwischen zu einer bundesweiten Bürgerinitiative von 46 Organisationen entwickelt, Patientenverbände, Ärzte und Bürgerrechtsorganisationen. Unser Ziel war und ist, eine demokratische Diskussion in der Öffentlichkeit über ein Projekt zu initiieren, das unsinnig, teuer und gefährlich ist und dessen Folgen nie wieder rückgängig zu machen sind. In einer Pressekonferenz in Berlin am 23.4.2008 gemeinsam mit den gesundheitspolitischen Sprechern von FDP, Daniel Bahr und der Partei "Die Linke", Frank Spieth haben wir gemeinsam einen Stop des in Nordrhein geplanten Rollouts der Card gefordert.

In einer Anhörung des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag am 25.5.2009 (Antrag FDP und Grüne) haben wir ebenfalls unsere Kritik vertreten. Im Ergebnis wurde in der Presse, vor allem in Nordrhein in der WAZ konstatiert: der Rollout ist gescheitert. Die technologiepolitische Sprecherin der FDP veröffentlichte nach der Anhörung :"Die Gesundheitskarte, die teure Nichtskönnerkarte, dieses Leuchtturmprojekt der großen Koalition ist gescheitert."

Wir als Bürgerinitiative sind uns allerdings darüber im Klaren, dass die Auseinandersetzung noch nicht zu Ende ist. Zu viele mächtige Interessen hängen daran. Seit Jahren ist klar, dass hier IT Industrie, Gesundheitspolitik, Gesundheitswirtschaft und viele weitere Interessengruppen an einem weltweit einmaligen Milliardenprojekt interessiert sind. Hier geht es um den lukrativen Gesundheitsmarkt. David hat gegen Goliath noch nicht gesiegt.

Dr. Silke Lüder ist niedergelassene Allgemeinärztin in Hamburg.

Der Bericht über die Testergebnisse, Dezember 2008, steht im Internet unter:
www.gematik.de
www.stoppt-die-e-card.de

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Quelle:
IPPNWforum | 117|18 | 09, S. 10-11
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2009

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