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ARTIKEL/1078: Kritischer Blick auf die Strukturen im Gesundheitswesen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2009

Schulterschluss-Gründerin Renate Hartwig in Kiel
Kritischer Blick auf die Strukturen im Gesundheitswesen

Von Jörg Feldner


"Mafia-Strukturen" im Gesundheitswesen, KVen als "Kriminelle Vereinigungen": Renate Hartwig und ihre Ansichten über das deutsche Gesundheitswesen.

250 Menschen kamen in Kiel zum Auftritt von Renate Hartwig, der kämpferischen Lokomotive der Bürgerbewegung "Schulterschluss", gefragte Vortragsreisende und Autorin des Bestsellers "Der verkaufte Patient". Das Auditorium war begeistert; Fachleute blieben skeptisch.

In einem programmatischen Offenen Brief schrieb Hartwig im Januar 2009 an Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt: "Mein Motiv ist ein Gesundheitswesen, das den Erfordernissen der Patienten gerecht wird und die Menschenwürde und Bürgerpatientenrechte beachtet. Dazu gehört der tatsächlich freie niedergelassene Arzt! ... Ihre [Schmidts] Gesundheitspolitik ist auf die Interessen der Monopolisten in der Gesundheitsindustrie und deren Gewinnmaximierung ausgerichtet. In deren Kalkulation gibt es nur die zahlende Masse Patient und den Erfüllungsgehilfen Arzt!" Diese Sätze sind ihr Bekenntnis. Entstanden ist diese Arbeitsgrundlage durch die eigene Erfahrung beim Hausarzt, der ihr nachweisen konnte, dass er mit dem Arbeitsvolumen und dem Honorar nicht zurechtkommt, wenn er sich jedem Patienten ohne Zeitbeschränkung widmet. Hartwig: "Da habe ich gemerkt, dass ich ein uninformierter Patient war, der von der Politik angelogen wird." Als sie dann im Frühjahr 2007 auf einem Ärzteprotest die anwesenden Gesundheitspolitiker müde lächelnd sagen hörte: "Wir setzen ja nur die Rahmenbedingungen", entschloss sie sich, den Aufstand gegen die "Fratze der Macht" auszurufen. Seither reist sie durch die Lande, hält Vorträge und initiiert "Bürger-Patienten-Stammtische", bis dato nach ihren Angaben 508.

Massiv kritisiert Renate Hartwig die in den Medien ständig wieder angefachte Debatte um das Einkommen der Ärzte: "Ein Nebenkriegsschauplatz", der nur der Ablenkung von den tatsächlichen Problemen diene. Wenn sie allerdings die Ursachen der chronischen Unterfinanzierung der GKV benennen soll, verläuft sich die Analyse in Verschwörungstheorien. Etwa wenn sie meint, die Krankenversicherungsbeiträge würden auf dem Weg über Kassen und Kassenärztliche Vereinigungen "verschwinden", in "Mafia-Strukturen" versickern. Wenn Hartwig "KV" dann mit "Kriminelle Vereinigung" übersetzt, ist der Beifall ihrer Anhänger gewiss - als Gesprächspartner steht sie damit jedoch im Abseits. Als wichtigste Ursache der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens nennt sie die Werbeetats der Krankenkassen: Mitgliederwerbeprämien, Reisegutscheine, Banden-Werbung im Fußballstadion, Rabatte in Pizza-Läden - z. T. fragwürdige Aktionen, die aber als Ursache der Finanzmisere kaum infrage kommen.

Näher an der Realität liegt Renate Hartwig, wenn sie die "Industrialisierung der Medizin" durch Kapitalgesellschaften, Klinik-Ketten und Klinik-MVZs angreift. Weil die niedergelassenen Ärzte dieser Entwicklung im Wege stehen, sollen sie abgeschafft werden. Als Vorkämpferin dieses Trends hat sie Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ausgemacht: Die hat sich in den USA den Gesundheitskonzern Kaiser Permanente angesehen, der mit rund 160.000 Mitarbeitern knapp neun Millionen Menschen Krankenversicherung, Kliniken, Ernährungsberater und Apotheken aus einer Hand anbietet. Wie die Tageszeitung DIE WELT berichtete, war Schmidt begeistert: "Wenn die Behandlungsabläufe abgestimmt werden und der eine Arzt weiß, was der andere tut, steigt nicht nur die Qualität der Versorgung. Das Geld wird auch sinnvoller eingesetzt." Von der Ministerin will Hartwig nun erfahren, ob sie das deutsche Gesundheitswesen diesem Super-Konzern ausliefern wolle; Antworten aus Berlin blieben bislang aus.

Weitere Informationen im Internet unter www.bürgerschulterschluss.de und www.schulterschluss-kiel.de

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200910/h091004a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Oktober 2009
62. Jahrgang, Seite 20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2009

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