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AUSLAND/1532: Kreolmedizin - Geister, Gemeinschaft und Gesundheit (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 111, 1/10

Geister, Gemeinschaft und Gesundheit
Wissensträgerinnen psychosozialer Gesundheit in der Kreolmedizin

Von Yvonne Schaffler


In der Dominikanischen Republik haben sich europäische und afrikanische Praktiken zu einer eigenständigen kreolischen Kultur verwoben und eine Heilkunde hervorgebracht, die parallel zum öffentlichen Gesundheitssystem existiert. Die Bandbreite kreolischer Heilpraktiken reicht von Ritualen, bei denen unter Anrufung katholischer Heiliger mittels Handauflegen "gesundgebetet" wird, über Pflanzenmedizin bis hin zu "Besessenheitsriten", die von rhythmischer Trommelmusik begleitet werden und die der Balance zwischen den Menschen und den Geistern dienen. Dass Frauen Trägerinnen psychosozialer Gesundheit sind, ist in diesem System die Regel, und sie stellen sich - wie die Autorin im Folgenden ausführt - den Herausforderungen und Änderungen unserer Zeit.


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Die westliche Medizin ist in der Dominikanischen Republik zwar grundsätzlich gut etabliert, kann aber aus verschiedenen Gründen nicht immer genutzt werden. Zum einen ist die Versorgung nicht flächendeckend und sind Medikamente teuer, zum anderen erscheinen den PatientInnen Behandlungen durch HeilerInnen oft vielversprechender; vor allem dann, wenn sie von spirituellen Krankheitsursachen ausgehen, die von ÄrztInnen nicht verstanden und daher nicht ernst genommen werden.

Die Aufgabe kreolischer HeilerInnen ist vor allem, den Geistern zu Diensten zu sein. Die Menschen versorgen die Geister mit Opfergaben und Gebeten, während die Geister für die Menschen das Schicksal beeinflussen - und damit auch zum Abwenden von Krankheit beitragen. Im Rahmen religiöser Feste versichert man sich der Unterstützung der Geister, kommt zusammen, trommelt, tanzt und trinkt. Dabei wird - im Gegensatz zur Ordnung in der katholischen Kirche - kein Unterschied gemacht, ob die spirituellen Tätigkeiten von Frauen oder von Männern ausgeführt werden.


Populärmedizin mit Nahversorgung

Besonders eindrucksvoll ist die kreolische Heilkunde auf den großen Märkten repräsentiert. Dort werden nicht nur zahlreiche kreolische Heilmittel feilgeboten, sondern sind auch WahrsagerInnen ansässig, die mit Hilfe der Geister ihre KlientInnen beraten. In einem der kleinen Läden auf Santo Domingo's mercado modelo arbeitet die "Dienerin der Geister" (servidora) Daisy. Sie ist 36 Jahre alt und lebt als Alleinerzieherin mit ihren zwei Kindern in einem Haus nahe dem Zentrum von Santo Domingo. Daisy unternimmt ihre Diagnosen und Heilbehandlungen mit Hilfe der Geister, mit denen sie lebt, als ob sie ihre Familie wären. Sie verraten ihr, ob ein Unfall geschehen wird und wovon sie sich fernhalten soll. Sie können ihr in jedem Moment "aufsteigen", nicht nur wenn sie mit KlientInnen in einer Beratung ist.


Sich den Geistern korrekt stellen

Mit dem "Aufsteigen der Geister" sind Zustände der Geist-Besessenheit gemeint, die entweder absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführt werden. Unabsichtliche Geistbesessenheiten können krank machen: Das geschieht vor allem dann, wenn Personen sich weigern, mit den Geistern in Kontakt zu treten, obwohl sie von diesen dafür auserkoren sind. Eine solche Erkrankung geht oft mit Bewusstseinsverlust, motorischen Ausfällen, Panik, nicht angemessenen Verhaltensweisen und Erinnerungsverlust einher. Zu dieser Diagnose kommt es meist dann, wenn sämtliche Therapieversuche, unter anderem in medizinischen Einrichtungen westlicher Prägung, fehlgeschlagen sind. Heilung kann in solchen Fällen nur darin bestehen, sich den Geistern zu stellen. Die Betroffenen müssen den korrekten Umgang mit ihnen erlernen und in einigen Fällen sogar zu ihren "DienerInnen" werden. Zustände der Bewusstseinsabspaltung treten im religiösen Kontext global immer wieder auf, ohne dass sie im Rahmen der jeweiligen Kultur (mit Ausnahme der westlichen) als pathologisch anerkannt werden. Sie werden vorwiegend dann als krankhaft erachtet, wenn ihnen die Betroffenen unfreiwillig unterliegen. Besonders häufig treten sie in den wenig privilegierten Bevölkerungsschichten auf - dabei insbesondere bei Personen mit niedrigem Bildungsniveau.


Unsichtbare weibliche Mehrheit

Frauen sind wesentlich öfter von Besessenheitstrance betroffen als Männer. Insofern kann sie als Möglichkeit zu sozialem Protest verstanden werden, die hauptsächlich von unterdrückten Gruppen und daher insbesondere von Frauen wahrgenommen wird. Auch in der Dominikanischen Republik finden sich unter jenen, die sich von den Geistern "reiten" lassen, signifikant mehr Frauen als Männer. Dennoch deklarieren sich mehr Männer als Frauen als "HeilerInnen", denn Frauen betreiben mit ihrer Fähigkeit zur Kommunikation mit den Geistern meist kein Gewerbe, sondern stellen ihre Dienste als BeraterInnen im Kreis ihrer Familie und Nachbarn unentgeltlich zur Verfügung. Auch Tätigkeiten im Rahmen von Hausmedizin auf Basis von Heilpflanzen und anderen pharmazeutischen Produkten sowie Krankenpflege wird gewöhnlich von Frauen verrichtet - ebenfalls unentgeltlich.


Alternativmedizin und HIV/AIDS

Wenn es heißt, dass jemand wegen eines Schadenszaubers oder aufgrund eines Missverhältnisses mit den Geistern krank geworden ist und nun langsam im Bett "verdorrt", handelt es sich in der Regel um HIV-Erkrankte. Problematisch hinsichtlich einer professionellen Behandlung der Krankheit ist in erster Linie, dass den Erkrankten oft die Mittel fehlen, (regelmäßig) ein Krankenhaus aufzusuchen. Zudem sind insbesondere ländliche Krankenhäuser schlecht ausgerüstet, es fehlt oft an HIV/AIDS-Tests und an Medikamenten. 2,5% der dominikanischen Bevölkerung sind von der Krankheit betroffen und dabei besonders Frauen, nicht nur weil ihnen die Pflege der Erkrankten obliegt, sondern auch weil sie einem höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. So können sie es sich aufgrund des finanziellen Drucks oft nicht aussuchen, zu welchen Konditionen sie mit Männern schlafen, und bestehende vaginale Infekte begünstigen zusätzlich das Risiko einer Ansteckung. Inzwischen ist AIDS die häufigste Todesursache von Frauen im reproduktionsfähigen Alter.


Lebensgeister wecken

Daisy geht, was HIV/AIDS betrifft, von einer Übertragung durch "tödliche Mikroben" aus. Gleichzeitig nimmt sie an, dass eine Ansteckung erst erfolgt, wenn das Opfer einem Schadenszauber erlegen ist, d. h. wenn es von einem ausgesandten aidskranken Totengeist (zonbí) heimgesucht wird. In ihrer Anschauung mischen sich althergebrachte Krankheitskonzepte mit Übertragungsmechanismen, wie sie von den Medien und NGOs kolportiert werden. Neue Namen halten Einzug in das kreolmedizinische System, die Erklärungsmodelle bleiben aber die alten. Selbst wenn ihre Art, die Menschen zu behandeln, aus Sicht der westlichen Medizin wohl kaum Abhilfe schaffen kann, vermittelt Daisy durch ihre Arbeit mit den Geistern ihren KlientInnen das Gefühl, dass sie aktiv etwas gegen ihre Erkrankung unternehmen können, auch wenn aus verschiedenen Gründen an der Situation selbst nichts geändert werden kann.

Auch für Daisy selbst haben sich durch die Arbeit mit den Geistern einige Möglichkeiten aufgetan. So bedeutet die Entwicklung zur "Dienerin der Geister" meist einen Zuwachs an persönlicher Freiheit, da die Position unter den Gläubigen mit erhöhtem sozialen Prestige verbunden ist. Eine Frau, die sich von den Geistern "reiten" lässt, kann sogar zur Haupteinkommensträgerin einer Familie werden, sofern sie es schafft, eigene KlientInnen zu akquirieren, und beginnt, für diese gegen Bezahlung zu arbeiten.


Kollektive Rituale schaffen Solidarität

Die kreolische Heilkunde greift die traditionellen Vorstellungen der Bevölkerung auf und deckt Bereiche ab, in denen die westliche Medizin aus Kostengründen und mangels Verständnis versagt. Sie bietet spirituellen Rückhalt und fördert durch kollektive Rituale Gemeinschaft und Solidarität. Insofern erfüllt sie - obwohl von Seiten der privilegierteren Bevölkerungsschicht oft mit dem Vorwurf der Rückständigkeit bedacht - eine wichtige soziale Funktion und wird daher wohl auch in Zukunft existieren. Mit den allfälligen Modernisierungstendenzen gehen die HeilerInnen jedenfalls erstaunlich gelassen um. Sie benutzen Mobiltelefone, haben internationales Klientel und empfangen ihre Honorare manchmal sogar per Western Union.


Zur Autorin:

Yvonne Schaffler ist Sozialanthropologin und Autorin des Buches "Vodú? Das ist Sache der anderen! Kreolische Medizin, Spiritualität und Identität im Südwesten der Dominikanischen Republik" (Wien 2009). Sie ist Vizepräsidentin des Ethnomedizinischen Lateinamerika-Arbeitskreises (www.emlaak.org) und unterrichtet an der Medizinischen Universität Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 111, 1/2010, S. 18-19
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010