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STELLUNGNAHME/002: Nur Gesundheitsreform oder auch Reform der Medizin? (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2010

Arzt-Patienten-Kommunikation
Nur Gesundheitsreform oder auch Reform der Medizin?

Von Prof. Karlheinz Engelhardt


Prof. Karlheinz Engelhardt empfiehlt eine kritischere und gleichzeitig patientenzentrierte Medizin.


Die Bundesregierung setzt eine Kommission zur Finanzierung des Gesundheitswesens ein. Die Medizin wird teurer. Diese Kostenentwicklung soll gebremst werden. Gesundheitsreform ist ein unglückliches Wort. Was ist an Gesundheit zu reformieren? Es geht bei diesem Schlagwort um finanzielle Überlegungen. Dabei wird eine essenzielle Frage ausgeklammert: Hat die Medizin selbst eine Reform nötig? Während bei der Reform der Medizin Ärzte selbst etwas tun, können Politiker bei der Gesundheitsreform günstigstenfalls einige Bedingungen bessern.

1909 sagte Bernhard Naunyn auf dem deutschen Internistenkongress: "Die Medizin wird eine Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein." Heute wird die von Naunyn gemeinte Naturwissenschaft durch fortgeschrittene Technologie mit Labormethoden und bildgebenden Verfahren ergänzt, wodurch Diagnostik und Therapie präzisiert werden. Es gibt in der modernen Medizin aber auch Übertechnisierung, Überdiagnostik und Übertherapie.(1)

Zur Reform der Medizin gehören zwei Dinge: erstens eine kritischere Anwendung der zur Verfügung stehenden Interventionen und zweitens eine Ergänzung der naturwissenschaftlich-technischen durch eine patientenzentrierte Medizin. Beide Aspekte ergänzen sich, beide nützen dem Kranken und reduzieren unnötige Kosten.

Überdiagnostik ist nicht nur teuer, sondern auch für den Patienten potenziell riskant, wenn beispielsweise bei unkomplizierten Schmerzen der Lendenwirbelsäule gleich Computertomografie mit Strahlenbelastung oder magnetische Resonanztomografie eingesetzt wird. Sie können Befunde zeigen, die mit den aktuellen Beschwerden nicht kausal zusammenhängen und zu unnötigen Operationen verführen.(2,3) Die zunehmenden Kapazitäten von Hightech-Geräten führen in der Kardiologie oft zu Herzkatheterprozeduren bei Patienten mit stabiler Angina pectoris, die gut allein mit Medikamenten behandelt werden könnte. Die sorgfältige Berücksichtigung der Krankengeschichte und eine genaue körperliche Untersuchung würden viele invasive Eingriffe überflüssig machen.(4,5)

Ziel der Medizin ist, Menschen zu helfen, länger gesund zu leben. Dabei können Labortests helfen. Allerdings führen immer mehr Vorsorgeuntersuchungen zu einer großen Zahl von Gesunden mit Befunden, die überwacht und behandelt werden. So wurde vorgeschlagen, dass alle Erwachsenen ab dem 20. Lebensjahr ihre Blutfettwerte untersuchen lassen. Wenn das Gesamtcholesterin unter 200 mg/dl und das LDL-Cholesterin unter 130 mg/dl liegen, soll im fünfjährigen Abstand kontrolliert werden. Da selbst in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen in Deutschland die Gesamtcholesterinkonzentration bei 70 Prozent der Männer und 62 Prozent der Frauen mehr als 200 mg beträgt, wird die Medikalisierung Gesunder ausgeweitet.(6)

Eine Befragung von 3.010 gesunden Männern ergab, dass sie nicht stets balanciert über Pro und Kontra einer Vorsorgeuntersuchung mit Prostata-spezifischem Antigen (PSA) zur Entdeckung eines Prostatakarzinoms aufgeklärt wurden.(7) Ärzte sollten aber im Gespräch ehrlich über Nutzen und Risiko dieses "Screening"-Tests sprechen. Dazu gehört, dass PSA-Tests falsch-krankhafte Befunde und gerade bei älteren Männern Überdiagnosen bewirken können, die oft mit und nicht an ihrem Prostatakarzinom sterben. Eine gemeinsame Entscheidung von Patient und Arzt ist nur möglich, wenn der Patient über den Sinn des Tests und seine möglichen Konsequenzen aufgeklärt wird. Solche Gespräche erfordern Zeit.

Damit bin ich bei dem zweiten Aspekt der Reform, denn die naturwissenschaftlich-technische Medizin benötigt mehr sprechende, d.h. patientenzentrierte Medizin. Ein Arzt, der gut zuhört, schafft Vertrauen. Eine Untersuchung ergab indessen, dass Kranke in der Sprechstunde nur 22 Sekunden Zeit hatten, ihre Beschwerden darzustellen, dann übernahm der Arzt die Führung. Ohne Unterbrechung betrug die mittlere spontane Redezeit 92 Sekunden.(8) Ärzte brauchten demnach nicht zu fürchten, von Symptomschilderungen überschwemmt zu werden, wenn sie den Kranken ausreden lassen. Eine adäquate Patient-Arzt-Kommunikation bessert die Diagnostik, sie hilft auch, den Patienten mit Angst, Sorgen und Depression besser zu verstehen.

Ungefähr 50 Prozent der Medikamente, die Patienten mit chronischen Krankheiten verordnet sind, werden nicht richtig eingenommen.(9) Viele Kranke fühlen sich mangelhaft informiert und fürchten sich vor Nebenwirkungen. Der Patient will von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugt und nicht mit dem Beipackzettel allein gelassen werden. Nur 57 Prozent der nach einem Herzinfarkt aus der Klinik Entlassenen verstanden die Bedeutung ihrer Medikamente.(10) Eine Therapie wird aber besser akzeptiert, wenn sie überzeugend erklärt wird. Dazu ist die ärztliche Kunst nötig, die Wissenschaftssprache Pharmakologie in verständliches Umgangsdeutsch zu übersetzen. Es müsste mehr über Therapie gesprochen werden, damit es zu einer Übereinstimmung zwischen Patient und Arzt kommt. Patientenzentrierte Therapie heißt, ein Medikament so zu vermitteln, dass es sowohl angenommen wird als auch besser wirkt.

Es herrscht allerdings ein verwirrendes Überangebot auf dem deutschen Arzneimittelmarkt. Viele Medikamente der sogenannten "Roten Liste" haben zweifelhaften Wert oder sind überflüssig.(11) Ärzte, die sich von einer unabhängigen und nicht in den medizinisch-industriellen Komplex verstrickten Pharmakologie objektiv beraten lassen, verordnen nicht zu viele und gehen nicht zu schnell auf neue Medikamente über, die der letzte Pharmareferent und die letzte firmengesponserte Fortbildungsveranstaltung empfohlen haben.

Nicht jedes Gesundheitsproblem braucht eine Pille. Unrealistische und von der pharmazeutischen Industrie stimulierte Erwartungen verursachen eine Übertherapie und unnötige Medikalisierung des Lebens. Die Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) fördern mit ungesicherten und fragwürdigen Angeboten diese unkritische Einstellung. So wird aus finanziellen Motiven der Arzt zum Anbieter, der Patient zum Kunden und Medizin zum Geschäft.

In unserer Hightech-Ära vertrauen Ärzte und Kranke vor allem auf objektive Befunde, aber 20 bis 30 Prozent der Patienten eines Hausarztes haben funktionelle Störungen, die sich Labortests und bildgebenden Verfahren entziehen.(12) Oft werden diese Patienten als schwierig bezeichnet und haben eine mühsame und teure Odyssee von einem Spezialisten zum anderen hinter sich. Ihnen ist nicht gedient, wenn man ihnen sagt, sie hätten nichts. Wenn sie keine Erklärung ihrer Symptome und keine angemessene Behandlung erhalten, wenden sie sich häufig der populären alternativen Medizin zu, die mehr "Ganzheitlichkeit" verspricht. Dieses Wort sollte aber nicht zum Schlagwort und Werbeslogan werden. Nicht eine besondere Methode wie Homöopathie oder Akupunktur ist als solche "ganzheitlich", sondern die ärztliche Aufgabe, neben den Krankheitsmechanismen und Interventionen nicht den Kranken mit seinen persönlichen Vorstellungen und Präferenzen zu übersehen. Würde diese Aufgabe von der Schulmedizin beherzigt werden, wäre die alternative Medizin bald weniger populär.(13)

Die moderne Medizin hat großen Reformbedarf. Vor hundert Jahren hatte Naunyn gefordert: "Die Medizin wird eine Wissenschaft sein oder sie wird nicht sein." Heute müssen wir hinzufügen: Die hierzulande praktizierte Medizin muss kritischer und gleichzeitig patientenzentrierter sein oder sie wird unbezahlbar und inhuman werden.


Literatur beim Verfasser oder im Internet unter www.aeksh.de
Prof. Dr. Karlheinz Engelhardt, Kiel


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201009/h10094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt September 2010
63. Jahrgang, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2010