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POLITIK/1999: Klinik mal ohne ökonomische Brille - Herbstabend des Marburger Bundes (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2019

MARBURGER BUND
Klinik mal ohne ökonomische Brille

von Martin Geist


Herbstabend des Marburger Bundes im Kieler Wissenschaftszentrum: Ärzte berichten von steigender Arbeitsbelastung. Politik und Standesvertreter suchen nach Lösungen.

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124.000 Mitglieder zählt der Marburger Bund bundesweit. Diese Zahl wurde auf dem Herbstabend des Landesverbandes genannt. In Schleswig-Holstein ist rund jeder zweite angestellte und verbeamtete Arzt Mitglied im MB.

22% der befragten Ärzte in einer Umfrage des MB nehmen mindestens einmal monatlich Medikamente, um die Arbeitsbelastung zu ertragen.

50% der befragten Ärzte befürchten wegen der Arbeitsbelastung ein Burnout.

89% der befragten Ärzte fühlen sich bei ihrer Arbeit gelegentlich oder häufig überfordert.
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70 Jahre Marburger Bund (MB) in Schleswig-Holstein. Diese Zahl prägte den Herbstabend, zu dem die Ärztegewerkschaft Vertreter der Politik, der Standesorganisationen und Mitglieder nach Kiel eingeladen hatte. Auch wenn der Landesvorsitzende Michael Wessendorf von einer "Erfolgsgeschichte" sprach, wurde deutlich, dass die Interessenvertretung der angestellten und beamteten Ärzte noch einige Baustellen zu bearbeiten hat.

Knapp 50 Prozent der Zielgruppe sind in Schleswig-Holstein im MB organisiert. "Das zeigt, dass wir mit unserer Arbeit nicht ganz falsch liegen", meinte der Vorsitzende, der sich den Zuspruch auch mit der basisnahen Arbeit seiner Organisationen erklärt. Man sei in großen Tarifverhandlungen und bei individuellen Anliegen zur Stelle.

Seit langem setzt sich die Gewerkschaft für bessere Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern ein, damit Ärzte ihren Beruf bis zum Ruhestand ausüben können. Wessendorf verwies in diesem Zusammenhang auf die hohe Zahl an Medizinern, die in den kommenden Jahren aus ihrem Beruf ausscheiden - zugleich kämen aber nicht alle Medizin-Absolventen im Beruf an.

Wie sehr das Thema Arbeitsbelastung drängt, zeigt eine Umfrage des MB (Ergebnisse in der Infoleiste). Allerdings scheinen nicht nur äußere Faktoren die Arbeitsbedingungen der Klinikärzte zu prägen. Als Dr. Gisa Andresen, Vizepräsidentin der Ärztekammer Schleswig-Holstein, vor 30 Jahren in den MB eintrat, konkurrierten 60 Kandidaten um eine offene Stelle und es war von einer Ärzteschwemme die Rede. "Es gab viele billige und willige Ärzte", erinnert sie sich an haarsträubende Zustände mit Mehrarbeit und schlechter Bezahlung.

Für Björn Jemlich, Arzt in Weiterbildung im Städtischen Krankenhaus Kiel, ist die Lage heute anders. Arbeitsverdichtung ist nach Erfahrung des 32-Jährigen ein grundsätzliches Problem - hervorgerufen durch mehr bürokratische Pflichten und Engpässe aufgrund von Krankheiten oder Kündigungen. Jemlich kritisierte eine oft zu geringe Wertschätzung für die Leistung der jüngeren Ärzte: "Wie wertvoll man für die Klinik ist, bekommt man meistens erst gesagt, wenn man gekündigt hat." Auch die geringe Gegenwehr der Ärzte wurde thematisiert. "Die Not muss schon erheblich sein, damit sich die Leute engagieren", bestätigte Andresen. Unzufriedene stimmten "eher mit den Füßen ab" und suchten sich einen anderen Job.

Eine pauschale Diagnose zur Situation der angestellten Ärzte ist aufgrund des vielfältigen Berufsbildes nicht möglich. Dr. Sylvia Hakimpour-Zern aus dem Kreisgesundheitsamt in Segeberg beschrieb den Personalmangel im Öffentlichen Gesundheitsdienst als größtes Problem: "Wir bluten aus". Sie forderte, dass sich die ganze Gesellschaft von dem Bild des Arztes lösen müsse, der in grandioser Selbstlosigkeit 24 Stunden am Tag für seine Patienten da ist. "Ärzte wollen einfach auch sehen, wie ihre Kinder aufwachsen", hält sie dem entgegen und fordert: "Wir müssen vielleicht unbequemer und lauter werden."

Christopher Schultz arbeitet als Arzt in Weiterbildung im kommunalen Ärztezentrum Büsum und betreut mit sechs weiteren Kollegen die Patienten ausschließlich ambulant. Seine Schilderung: "Wenn das Wartezimmer total voll ist, bedeutet das schon auch Stress, aber alles in allem bleibt für die Weiterbildung tatsächlich genug Zeit, und bei Problemen beraten wir im Team darüber, wie es besser laufen könnte."

Michaela Hürtgen ist Ärztin in Weiterbildung am Westküstenklinikum Heide und hat sich mit ihren Vorgesetzten auf flexiblere Arbeitszeiten verständigt, seit ihre Tochter vor wenigen Wochen eingeschult werden ist. Solche Regelungen haben aber ihre Grenzen, fürchtet die junge Frau: "Wenn noch mehr Leute mit solchen Wünschen kommen würden, wäre das mit unserer Personalausstattung kaum möglich."

Dr. Malte Sieren kann als Arzt in Weiterbildung am UKSH in Lübeck bestätigen, dass auch in großen Häusern ein kooperatives Klima möglich ist. Unbehagen äußert er in seiner Abteilung offen, weil er weiß, dass dies ernst genommen und nicht als Nestbeschmutzung betrachtet wird. Dennoch werden nach seiner Überzeugung immer Wünsche offen bleiben - so müssen etwa bei einer ungeregelten Nachfolge die verbleibenden Kollegen die Arbeit zwangsläufig übernehmen.

Welche Lösungsansätze gibt es? Gesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg setzt auf Verbesserungen etwa durch eine Überwindung der Sektorentrennung. Außerdem strebt er ein neues Vergütungssystem im stationären Bereich an. Grundgedanke: Kosten für die medizinische Infrastruktur sollen nicht mehr über Behandlungen abgerechnet werden, um Fehlanreize zu vermeiden. Unterstützung erhielt er hierfür vom MB-Bundesvorsitzenden Rudolf Henke. Die jetzige Finanzierung sei in etwa so, als würde die Feuerwehr über ihre Brandeinsätze vergütet. "Da können Sie sich ja vorstellen, welches Interesse die hat", schmunzelte Henke.

Dass private Klinikbetreiber nur Interesse am Geldverdienen haben, bestritt Manager Michael Dieckmann von den Ameos Kliniken. Man könne nicht nach Belieben Ärzte einstellen, weil die Krankenkassen dazu ihren Segen geben müssten. Was die zeitlichen und organisatorischen Wünsche der Ärzte betrifft, sei man "inzwischen sehr flexibel", versicherte Dieckmann. Einfach ist das aus seiner Sicht nicht. Statt zu 45 Stunden pro Woche gehe der Trend zu 35 Stunden - und das gern bei voller Bezahlung. Die aus der Umfrage herauszulesende Beanspruchung der angestellten Ärzte stellte Dieckmann in Frage und verwies auf einen niedrigen Krankenstand der Berufsgruppe.

Bei Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, rief diese Argumentation Widerspruch hervor: "Die Ärzte schleppen sich zum Dienst, auch wenn sie besser zuhause bleiben sollten, weil sie ihre Patienten nicht im Stich lassen wollen." Auch Garg sprach von einem ausgeprägten "Hang zur Selbstausbeutung" in sozialen und medizinischen Berufen. Sein Ministerium arbeitet derzeit am ersten Landeskrankenhausgesetz. Das, so hofft er, könnte als "schärferes Schwert" wirken, um gute Standards in den Kliniken durchzusetzen. Die Probleme führt er auf eine einseitige Sicht auf das Thema zurück: "Wir haben das Gesundheitssystem die letzten 25 Jahre ausschließlich durch die ökonomische Brille betrachtet."


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201909/h19094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, September 2019, Seite 22 - 23
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2019

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