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MELDUNG/756: Pflege - Protest gegen Drahtseilakt (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2016

Pflege
Protest gegen Drahtseilakt

Von Dirk Schnack


Zahlreiche Aktionen zum Internationalen Tag der Pflege. Akteure kritisieren Spagat zwischen fachlichem Anspruch und wirtschaftlichem Druck. Gewerkschaft organisierte Demonstrationen.


Gemessen an ihrem Beitrag zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist das politische Gewicht der Gesundheits- und Krankenpflege nach Ansicht von Margaret Chan, Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation WHO "nirgends" angemessen. "Sie ist eine schlafende Riesin", sagt Chan über die Pflege. In Deutschland hat die Berufsgruppe zumindest am Internationalen Tag der Pflege auf sich und ihre Arbeitsbedingungen aufmerksam gemacht. Rund 160.000 Stellen fehlen derzeit nach Angaben von Verbänden in der Pflege in Deutschland insgesamt. Folgen sind Arbeitsverdichtung, höhere Arbeitsbelastung und das Gefühl, dem eigenen und dem Anspruch der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen nicht gerecht werden zu können.

Auch in Schleswig-Holstein gab es an diesem Tag eine Reihe von Veranstaltungen zum Thema. Auf dem am gleichen Tag veranstalteten Landespflegekongress in Kiel etwa war von einem "Drahtseilakt" im beruflichen Alltag die Rede - dieser erfordere ein ständiges Abwägen und Entscheiden, um unter den herrschenden Rahmenbedingungen arbeiten zu können, hieß es. Schleswig-Holsteins Sozialministerin Kristin Alheit, unter deren Schirmherrschaft der Kongress stattfand, nannte Punkte, die nach ihrer Einschätzung schon zu einer Verbesserung der Rahmenbedingungen beigetragen haben: das Projekt zur Entbürokratisierung der Pflege, die Gründung der Pflegekammer als Selbstvertretung der Pflegenden und die Einführung der kostenlosen Ausbildung für Schüler der Altenpflege. Jutta Schümann, Organisatorin des Kongresses, hob auf die wichtige Rolle der Pflegekräfte im System ab. Damit diese ihren Auftrag erfüllen können, "sollten alle Pflegekräfte die Entwicklung der eigenen Widerstandsfähigkeit an die erste Stelle setzen und sich aktiv und machtvoll in die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Planungen einbringen", sagte die frühere SPD-Landtagsabgeordnete Schümann.

Zugleich demonstrierten in Lübeck und Kiel einige hundert Pflegemitarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschaft ver.di hatte die Demonstrationen in diesen beiden Städten sowie in Schwerin und Rostock organisiert, weil nach ihrer Einschätzung die Situation in den Bundesländern Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern "besonders prekär" ist. Die Gewerkschaft mobilisierte insgesamt rund 1.000 Menschen, die meisten von ihnen gingen in Kiel auf die Straße. Auf den Kundgebungen zeigten sie symbolische Überstundenberge, um den nach ihrer Meinung dramatischen Personalmangel sichtbar zu machen. Laut ver.di wurden bundesweit 35,7 Millionen Überstunden in Krankenhäusern und Pflegeheimen angehäuft, dies entspreche 17.800 Vollzeitstellen in der Pflege. Für Schleswig-Holstein nennt die Gewerkschaft rund eine Million Überstunden, was 600 Vollzeitstellen entspricht. Allein für das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein am Campus Lübeck nennt ver.di 22.000 Überstunden. Insgesamt fehlen in den Krankenhäusern und Pflegeheimen im Land laut ver.di aber 5.200 Vollzeitstellen. Zum Vergleich: Das Pflegeförderprogramm bringt rund 200 Stellen. Als "komplett unzureichend und an der Realität tausender Pflegekräfte im Norden vorbeigehend" bezeichnete Steffen Kühhirt vom ver.di Landesbezirk Nord das Förderprogramm.

Auf der Kieler Kundgebung wurde die Politik scharf angegriffen, weil sie nach Meinung von Wortführern "keine Antwort" auf die aktuellen Probleme liefert und "neoliberalen Ideen" zur Umsetzung verholfen habe. Auch die von Alheit angeführte Gründung der Pflegekammer wurde erneut angegriffen. Im Mittelpunkt der Kritik stand in Kiel aber die marktwirtschaftliche Orientierung des Gesundheitswesens. Diese habe u. a. dazu geführt, dass Konzerne heute Pflegeketten betreiben können, die mit ihren Einrichtungen Profit erwirtschaften und zugleich viele Pflegekräfte ohne Tarifvertrag beschäftigen. Statt die Pflege "dem Markt zu überlassen", sollte sich die Politik um die Personalbemessung kümmern, hieß es. Die geforderten Personalbemessungsschlüssel sollen verhindern, dass die Zahl der zu Pflegenden je Pflegekraft weiter gesteigert wird. Die Bemessungsschlüssel müssten finanziert und die Einhaltung kontrolliert werden.

Um den Zustand insgesamt zu verbessern, seien "Milliardeninvestitionen" in die Pflege erforderlich. Diese wünschen sich die Organisatoren aber nicht von privater Seite, sondern aus Steuermitteln. "Den Markt zurückdrängen, mehr Solidarität" - für diese Losung erhofft sich die Gewerkschaft ein stärkeres Engagement der Pflegekräfte selbst: "Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir auch selbst etwas tun. Die Bedingungen sind auch so, weil wir es zugelassen haben", appellierten sie an die Pflegekräfte.

Die informierten bei ihrer Protest-Veranstaltung auch zahlreiche Passanten in der Innenstadt. Zumindest am Tag der Pflege erhielten sie für ihre Forderungen auch Rückendeckung.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201606/h16054a.htm

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Juni 2016, Seite 23
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2016

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