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ARTIKEL/1404: Symposium - Versorgung adipöser Patienten ... Mehr als gute Ratschläge nötig (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2015

Mehr als gute Ratschläge nötig
Symposium in Norderstedt beschäftigte sich mit Defiziten in der Versorgung adipöser Patienten.

Von Dirk Schnack


Die Versorgung adipöser Patienten in Deutschland ist nach Ansicht von Experten unzureichend. Sie brauchen nach ihrer Auffassung einen leichteren Zugang zu Therapien, aber auch mehr Verständnis sowie Bereitschaft von Ärzten, ihnen medizinisch und mit Operationen zu helfen. Häufig werden sie in medizinischen Einrichtungen noch stigmatisiert, so die Beobachtung mancher Teilnehmer des achten Adipositas Symposiums in Norderstedt.

"Ärzte erkennen Adipositas nicht als medizinisches Problem", sagte Prof. Arya Sharma auf dem Symposium des Unternehmens Johnson & Johnson im European Surgical Institute (ESI). Für den Experten von der University of Alberta in Kanada erklärt dies auch, weshalb viele adipöse Patienten in den Praxen häufig mit gutgemeinten, aber nicht helfenden Ratschlägen wie "Sie müssen sich mehr bewegen" nach Hause geschickt werden.

Adipositas sei eine Erkrankung, die nicht von allein wieder verschwindet und die Betroffene nicht in Eigenverantwortung bezwingen könnten. Wenn Ärzte sich in ihrer Hilfe auf Ratschläge, Eigenverantwortung und Prävention zurückziehen, ist dies nach seiner Auffassung zu wenig. Sharma machte in Norderstedt deutlich, dass die Betroffenen gegen viele Vorurteile und eine geringe Bereitschaft, ihnen zu helfen, ankämpfen müssen. Außer von Ärzten erfahren sie nach Meinung vieler Experten auch zu wenig Unterstützung von Krankenkassen. "Das Problem ist die hohe Zahl an Adipösen - wenn man die Tür öffnet, wird es teuer", gab Sharma zu verstehen. Denn in Norderstedt wurde die Zahl von 60 Begleiterkrankungen genannt, für die Adipositas als Auslöser und Schrittmacher gilt. Nach Unternehmensangaben gelten in Deutschland derzeit 1,4 Millionen Menschen als morbid adipös, bei steigender Tendenz. In Deutschland soll es insgesamt 4,5 Millionen Menschen mit einem Body-Maß-Index von über 35 geben. Übergewicht und seine Folgen kosten nach Angaben des ausrichtenden Unternehmens das deutsche Gesundheitssystem jährlich rund 20 Milliarden Euro.

Daneben wurden in Norderstedt auch ein schwerer Zugang zu Therapien, eine Fokussierung auf Prävention und ein Ignorieren der Folgekosten von Adipositas kritisiert. Krankenkassen sehen sich derzeit aber kaum in der Lage zu helfen. Denn die Daten, die sie über die Betroffenen bekommen, lassen nicht auf Adipositas schließen, machte Prof. Herbert Rebscher von der DAK-Gesundheit deutlich. "Krankenversicherer haben ein enormes Problem, die Patienten zu erkennen und damit auch, sie frühzeitig zu erreichen", sagte Rebscher. Ohnehin werde eine Fokussierung auf die gesetzliche Krankenversicherung nicht der Komplexität des Themas gerecht. Nach seiner Beobachtung ist es vielen Ärzten unangenehm, Patienten auf Übergewicht anzusprechen und die Betroffenen selbst fragen auch selten nach Unterstützung. Wie immens das Problem für die Krankenversicherungen ist, zeigte Rebscher anhand von Zahlen: Ein 45-jähriger Versicherter mit Adipositas kostet die Kasse im Durchschnitt 3.049 Euro im Jahr, ein gleichaltriger Versicherter ohne Adipositas nur rund die Hälfte (1.549 Euro).

Prof. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, lenkte den Blick auf die mit Adipositas zusammenhängenden gesellschaftlichen Herausforderungen wie XXL-Getränke, Bewegungsmangel und Präventionsmöglichkeiten. "Wir Ärzte können das Problem allein nicht lösen", sagte Montgomery und spielte damit u. a. auf das noch immer fehlende Ampel-System für Lebensmittel an. Er forderte eine multimodale Strategie, die neben der Medizin auch Ernährung, Bewegung und Verhalten einbezieht. Prof. Norbert Runkel, Chirurg und Klinikdirektor aus Villingen-Schwenningen, warnte vor Diffamierungen, wie sie aus den von Montgomery gezeigten Zeitungsberichten deutlich wurden. Er forderte einen Bewusstseinswandel und Abrechnungsmöglichkeiten für Ärzte. Auch Sharma stellte fest: "Patienten mit Übergewicht werden nach wie vor stigmatisiert, und erschreckenderweise nicht nur im Alltag, sondern sogar auch von medizinischem Fachpersonal. In der Folge scheuen sich adipöse Patienten noch mehr, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen."


Info
3.049 EUR kostet ein 45-Jähriger mit Adipositas seine Krankenkasse im Jahr an Behandlungen - ein Gleichaltriger ohne Übergewicht nur die Hälfte.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201505/h15054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Moderator Ludwig Wahlers, Prof. Herbert Rebscher (DAK-Gesundheit Hamburg), Prof. Frank Ulrich Montgomery (Bundesärztekammer), Prof. Arya M. Sharma (University of Alberta Edmonton), Prof. Martin Wabitsch (Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Ulm) sowie Prof. Nobert Runkel (Schwarzwald-Baar Klinikum Villingen-Schwenningen, von links).

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Mai 2015, Seite 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2015

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