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ARTIKEL/1235: Berliner Tagung zum Lobbyismus im Gesundheitswesen am 26.-27. September 2011 (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2011

Berliner Tagung zum Lobbyismus im Gesundheitswesen
"Die Haifische müssen zivilisiert werden!"

Von Horst Kreussler


Fallen die Beteiligten im Gesundheitswesen zu häufig auf Lobbyisten herein? Experten forderten in Berlin mehr Unabhängigkeit für die Wissenschaft.

Im "Haifischbecken Gesundheitspolitik" gibt es ein Ungleichgewicht zwischen "verantwortlicher Interessenpolitik und unverantwortlicher Einflussnahme" - so der Untertitel der Tagung "Lobbyismus im Gesundheitswesen" von Evangelischer Akademie zu Berlin und Transparency International Deutschland e.V. (TI) in Berlin. Anders gesagt lautete die Botschaft: Patienteninteressen kommen in der Politik zu wenig, andere gut organisierte Interessen etwa aus der Industrie eher zu stark zur Geltung. Die seit Jahren erste Veranstaltung mit diesem "heißen Thema" litt nur wenig unter dem Schweigen der attackierten Extremlobbyisten, der Nichtzusage bzw. Absage möglicher Referenten aus der Politik und der etwas unterrepräsentierten Position der Ärzteschaft bei der Darstellung eigener und der Interessen ihrer Patienten.

Umfassende Kritik an zu weitgehenden Einflussnahmen aus dem Gesundheitswesen übte Prof. Edda Müller, Vorstandsvorsitzende von TI und in Schleswig-Holstein noch bekannt als frühere Umweltministerin. "Ich habe kaum ein Politikfeld erlebt, in dem die Politiker so wenig Bescheid wissen und die Steuerung anderen überlassen", verriet sie. Auch viele Ärzte wüssten zu wenig über Gesundheitspolitik, aber auch über Honorarpolitik. "Wir haben hier ein neokorporatistisches System, in dem über das Verhältnis von staatlicher und nichtstaatlicher Steuerung gestritten wird."

Die pharmazeutische und z.T. die medizintechnische Industrie kamen erwartungsgemäß nicht gut weg: "intransparente Zusammenarbeit mit Hochschulen, Herzklappenskandal, Anwendungsbeobachtungen in Praxen, "Pflege" von wissenschaftlichem Nachwuchs, von Berufsverbänden und Fachgesellschaften, verdeckte Werbung durch spezialisierte Agenturen, zuletzt die Schweinegrippe-Impfung ..."

Dagegen müssten Reformen eingeführt werden wie etwa das Verbot von Anwendungsbeobachtungen, eine öffentlich zugängliche Beschwerdeliste oder ein Patientenrechtegesetz, kurz mehr Transparenz und Verhaltensregeln. "Denn die Bevölkerung muss den Experten im Gesundheitswesen vertrauen können."

Aus öffentlich-rechtlicher Sicht kritisierte Prof. Dr. jur. Felix Welti (Univ. Kassel, früher Kiel) mit Blick auf den Lobbyismus, die Gesundheitspolitik müsse sich genauer an die rechtlichen Grundlagen zumal des Grundgesetzes halten. Was im Wirtschaftsleben noch hingenommen werde, rege viele im Gesundheitswesen auf: "Nein, Gesundheit ist keine Ware, sondern eine Bedingung zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit." Das Sozialstaatsprinzip sichere das Existenzminimum, Ungleichheiten in der medizinischen Grundversorgung seien rechtfertigungsbedürftig. Wieweit das Demokratieprinzip dem Gesetzgeber Regelungen vorbehalte oder die Selbstverwaltung agieren könne, sei umstritten. Das Bundesstaatsprinzip habe eine uneinheitliche Gesundheitspolitik zur Folge. Der Kassenwettbewerb führe dazu, eigene Interessen (primär der Existenzsicherung) auch gegen die Interessen der Versicherten zu vertreten. "Erforderlich sind umfassende Kontrollrechte, die Besetzung der Aufsichtsgremien nicht nur mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern, ein transparentes Wahlverfahren, eine bessere Kommunikation mit den Versicherten."

Auch die Wissenschaft, etwa in den Unikliniken, müsse unabhängig sein: "Kostendruck, Privatisierung und Drittmittelfinanzierung gefährden die Unabhängigkeit." Hier seien auch die Medien gefordert, ausreichende Informationen zu liefern, doch auch Gesundheitsinformationen drohten zur Ware zu werden.

Zusammenfassend forderte Welti, die Gesundheitspolitik solle mehr die Selbstständigkeit, die Teilhabe und den Schutz der kranken und behinderten Menschen zum Ziel haben und nicht auf Lobbyisten hereinfallen - oder zugespitzt: "Die Haifische müssen zivilisiert werden!"

Als einziger Ärztevertreter kritisierte Prof. Müller-Oerlinghausen (ehemaliger Vorsitzender AKdÄ bei der Bundesärztekammer) die vielfältigen Einflussnahmen der Pharmaindustrie, vom Krankheitenerfinden bis zur Zeitschriftenmanipulation. Er verwies auf das neue Buch seines Nachfolgers Prof. Wolf-Dieter Ludwig ("Interessenkonflikte in der Medizin"). Die Macht der Pharmaindustrie und ihr Einfluss auf die Politik, aber auch auf die Zulassungsbehörden, sei groß. "Die Industrie behindert eine rationale Arzneimitteltherapie, denn sie hat andere Ziele als eine optimale Gesundheitsversorgung." Umgekehrt würden viele Kollegen selber unbewusst Opfer ihrer Strategien, während sie dies bei anderen Kollegen wohl erkannten.

Der Einfluss auf die Forschung über Drittmittel sei ein Problem - es gehe auch anders, wie das Beispiel England zeige, wo diese Finanzierung nicht so dominant sei, aber auch weniger Projekte liefen. Nicht der bloße Umfang der Forschung sei die Frage, sondern doch eher, welche Forschung gewünscht sei.

Diesen Punkt verstärkte Prof. David Klemperer (Univ. Regensburg und Netzwerk Evidenzbasierte Medizin). Er kritisierte vor allem die nicht patientenrelevanten Endpunkte von industriegelenkten Studien, die zusammen mit anderen Manipulationsmöglichkeiten wie Unter- oder Überdosieren des Referenzpräparats in der Vergleichsgruppe immer einen "Erfolg" bringen könnten. Er verwies auf die Vorschrift über unerlaubte Zuwendungen in der Berufsordnung (§ 32 MBO-Ä), die beim letzten Ärztetag in Kiel novelliert wurde.

Bei der abschließenden Diskussion über Interessenkonflikte im Gesundheitswesen erinnerte Dr. Wolfgang Wodarg, Leiter der AG Gesundheit von TI Deutschland (Berlin/Flensburg), an das "primäre Interesse" der Ärzte an der bestmöglichen Behandlung ihrer Patienten. Wodarg: "Ärztliches Handeln und Denken dürfen nicht durch Gewinnstreben pervertiert werden. Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Kammern haben als Organisationen mit öffentlich-rechtlichem Auftrag durch statussichernde und transparente Anreiz- und Steuerungssysteme eine solche Perversion zu verhindern." Wenn man die TI-Definition von Korruption als Missbrauch anvertrauter Macht zu persönlichem Vorteil oder Nutzen zugrunde lege, könne man insgesamt sogar von einem korrupten Gesundheitssystem ausgehen.

Dass es auch anders gehe, könne man in Skandinavien sehen. Als Indikatoren für die Fehlentwicklung bei uns nannte Wodarg die zunehmende Dominanz von Marktkategorien wie Kunde, Verbraucher und Gesundheitsmarkt statt Patient und solidarische Gesundheitssicherung.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201111/h11114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2011
64. Jahrgang, Seite 62 - 63
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2011

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