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ARTIKEL/1481: Interview - Individualisierte Medizin ... "Die Medizin von Morgen entwickeln" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2018

Individualisierte Medizin
"Die Medizin von Morgen entwickeln"

Interview von Uwe Groenewold mit Prof. Stefan Schreiber


Interview mit Prof. Stefan Schreiber zur Präzisionsmedizin. Optimierte Patientenversorgung beschleunigt auch die Forschung. Organisatorische Umstrukturierung.


Präzisionsmedizin heißt das Schlüsselwort für eine individualisierte Behandlung. Welche Erfolgschancen Forscher in Schleswig-Holstein hierfür sehen, erläutert Prof. Stefan Schreiber, Direktor der Kieler UKSH-Klinik für Innere Medizin und Sprecher des Exzellenzclusters Entzündungsforschung, im Gespräch mit Uwe Groenewold.

SHÄ: Prof. Schreiber, die Zahl der Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen steigt weiter an. Kann den Patienten heute besser als früher geholfen werden?

Prof. Stefan Schreiber: Die Inzidenz chronisch-entzündlicher Erkrankungen steigt, aber deutlich langsamer als früher. Der moderne Lebensstil in den westlichen Industriegesellschaften und die technologische Entwicklung in der Ernährungsindustrie haben ihren Preis. Natürlich kann den Betroffenen heute besser geholfen werden: Früher starben 25 Prozent der Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen innerhalb von zehn Jahren, heute haben viele von ihnen eine fast unveränderte Lebenserwartung. Mehr Neuerkrankungen und die höhere Lebenserwartung führen zu höheren Patientenzahlen und damit auch zu steigenden Krankheitskosten.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die schleswig-holsteinischen Entzündungsforscher?

Unser seit 2007 von der DFG gefördertes Exzellenzcluster "Inflammation at Interfaces" umfasst mehr als 300 Wissenschaftler in Kiel und Lübeck, am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön und am Leibniz-Zentrum für Medizin und Biowissenschaften im Forschungszentrum Borstel. Durch unsere Forschungen haben wir erkannt, dass chronische Entzündungen nicht ein Vorgang oder ein Prozess, sondern ein systemisches Geschehen sind. Die ganzheitliche Betrachtung, die sonst durch andere Protagonisten der Medizin vorgetragen wird, bekommt durch die molekularen Erkenntnisse eine neue Bedeutung. Das Stichwort heißt Systemmedizin. Ein pathologischer Prozess muss in allen Organen, in denen er sich abspielt, verstanden werden. Nur dann kann man bei der Entwicklung neuer Therapien wirklich vorankommen.

Was müsste also geschehen?

Wir haben zwei Innovationen, die uns vorwärts gehen lassen. Neben dem systemmedizinischen Modell ist das die Präzisionsmedizin. Wir sind soweit, dass man für jedes Molekül eine passende Therapie schneidern kann; wir können mit internistischer Therapie chirurgisch präzise den Finger in die Pathophysiologie legen. Dieses Wissen aus Modell und Therapie muss man jetzt zusammenbringen, das eine für die Weiterentwicklung des anderen nutzbar machen.

Wie kann das gelingen?

Wir können die Wirkung neuer Therapien im Menschen direkt untersuchen. Erster Ansatz ist ein Blocker des Interleukin 6, der sich in der klinischen Entwicklung befindet. Weitere Verfahren sind in der Erprobung; etwa eine Aminosäure zu verkapseln, die normalerweise im Dünndarm resorbiert wird und auf diese Weise in den Dickdarm gelangt, wo sie den Entzündungsprozess herunterregulieren soll. Dies hat im Modell funktioniert, jetzt soll die Wirkweise bei Patienten untersucht werden. Der Mensch wird jetzt Labor und profitiert viel früher von den neuen Erkenntnissen.

Was bedeutet das ganz praktisch?

Eine Kernkomponente des Clusters ist die Forschung am kranken Menschen. Dies geschieht im Zusammenspiel mit den Kliniken des UKSH. Das UKSH transformiert derzeit seine Patientenversorgung, alle Entzündungskrankheiten werden jetzt im Exzellenzzentrum Entzündungsmedizin unter einem Dach versorgt. Hierfür gibt es einen Pflegepool, einen Biobanking-Bereich, eine Therapieebene - und nicht alles mehrmals, getrennt etwa nach Gelenken, Haut, Darm oder Lunge.

Eine optimierte Patientenversorgung beschleunigt also die Forschung?

Ja, die großen Kohorten führen zu sehr großen Datenmengen. Die systematische Analyse von medizinisch-biologischen Daten und dazugehörigen Patientendaten eröffnet neue Möglichkeiten, das Verständnis von Entzündungskrankheiten zu verbessern und Ansätze für individualisierte Therapien zu entwickeln. Mit den gewonnenen Daten soll es langfristig möglich sein, Krankheiten zu erkennen, bevor diese klinisch auffällig werden. Wir wollen insbesondere die Frühdiagnostik und präventive Intervention bei chronischen und altersbedingten Erkrankungen voranbringen.

Sie haben die organisatorische Neustrukturierung angesprochen. Was wurde verändert?

Der Ökonomisierungsdruck widerspricht erst einmal dem Bedürfnis, Aufwand zu betreiben, um chronische Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln. UKSH und die Universitäten Kiel und Lübeck haben jetzt eine zukunftsweisende Institution, Precision Health in Schleswig-Holstein (PHSH) gegründet, eine neue Institution für die klinische Forschung. In PHSH steuern exzellente Wissenschaftler die klinischen Forschungsmöglichkeiten im UKSH; das Geld kommt vom Land und den Universitäten. Im UKSH werden Möglichkeiten geschaffen, forschende Ärzte zu unterstützen, Infrastrukturen für die Forschung bereitzustellen und Finanzmittel in die patientenzentrierte Forschung zu lenken. Damit ist sichergestellt, dass Patienten Zugang zu den Innovationen haben. Ziel von PHSH ist es, die Medizin der Zukunft zu entwickeln.


Info
Der Exzellenzcluster hat in den vergangenen zehn Jahren rund 70 Millionen Euro Förderung erhalten. Inklusive der beteiligten Verbundprojekte sind das mehr als 200 Millionen Euro an Forschungsgeldern. Außerdem wurden mehr als 100 Artikel in hochklassigen Fachzeitschriften wie beispielsweise Nature veröffentlicht.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201805/h18054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Mai 2018, Seite 36
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2018

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