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AUSLAND/2418: Griechenland - Interview mit dem Leiter der solidarischen Klinik Ellinikó (IPPNWforum)


IPPNWforum - nr 147 september 2016
Das Magazin der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

"Das Gesundheitssystem ist kollabiert"
Arbeiten in der solidarischen Klinik Ellinikó

Ein Interview mit Dr. Giorgios Vichas


Mehr als drei Millionen GriechInnen sind wegen ihrer Arbeitslosigkeit nicht mehr krankenversichert. Für viele unversicherte AthenerInnen ist die solidarische Klinik Ellinikó die letzte Anlaufstelle. Der Kardiologe Georgios Viachas arbeitet unentgeltlich in der von ihm gegründeten, spendenfinanzierten Klinik.


Herr Doktor Vichas, was hat Sie bewegt, die Klinik Elliniko zu gründen?

Im Frühjahr 2011 kam ein Patient zu mir ins Krankenhaus. Er war über lange Zeit wegen zweier Herzinfarkte bei mir in Behandlung gewesen, aber dann hatte ich ihn mehrere Monate nicht mehr gesehen. Er war inzwischen arbeitslos und konnte die Herzmedikamente nicht mehr bezahlen. Er litt unter schweren Lungenödemen, weil sein Herz zu schwach schlug. Ich war schockiert. Dann, im August 2011, hörte ich bei einem Konzert eine ergreifende Ansprache des Komponisten Mikis Theodorakis: Die ÄrztInnen müssten etwas unternehmen, um den Menschen ohne Versicherungsschutz in ihrer Not beizustehen. Das hat mich sehr berührt. Das Theodorakis-Konzert fand auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens statt. Ich sah die leerstehenden Gebäude und dachte: Vielleicht können wir hier eine freie Praxis einrichten. Der Bezirksbürgermeister hat uns dann unterstützt, indem er uns Gebäude, Wasser und Strom zur Verfügung stellte.

Können Sie die Kürzungen im Gesundheitswesen charakterisieren, deren Auswirkungen ÄrztInnen und PatienInnen so drastisch zu spüren bekommen?

Seit Inkrafttreten des ersten Memorandums 2010 hat es in unserem Gesundheitssystem zwei Veränderungen gegeben, die tragische Konsequenzen haben: Die erste dieser Änderungen war die Unterfinanzierung des Systems, die zweite, dass bis vor kurzem immer weniger oder gar kein Personal eingestellt wurde, weder im ärztlichen Bereich noch in der Pflege. Die Ausgaben für Gesundheit sind von 7% des Bruttoinlandsprodukts auf heute 3,5% bis 4% gesunken. Die Krankenhausausgaben, die 2012 noch bei zwei Milliarden Euro lagen, sind in diesem Jahr auf 1,15 Milliarden Euro gesunken. Ab 2013 konnten wir sehen, wie diese Kürzungspolitik zu ungeheuren Härten führte. Die Säuglingssterblichkeit ist von 2,7% (2010) auf 4% in 2014 gestiegen. Auch die Geburten- und Sterblichkeitsrate haben sich seit 2011 negativ entwickelt. Laut Eurostat wird dies langfristig dazu führen, dass die griechische Bevölkerung bis 2050 erheblich abnimmt. Die Studie Hellas Health IV des Instituts für Sozial und Präventivmedizin hat 2015 festgestellt, dass ein Viertel der BürgerInnen, die auf regelmäßige Medikamenteneinnahme angewiesen sind, sich im Alltag einschränken muss, um die Medikamente bezahlen zu können. JedeR fünfte PatientIn kann die Medikamente nicht bezahlen und erhält sie daher nicht.

Wie wirken sich die Einschnitte in der Finanzierung der öffentlichen Krankenhäuser aus?

Die Einschnitte haben zu erheblichen Engpässen bei Medikamenten, medizinischen Geräten und Material geführt. Unsere Klinik beliefert wöchentlich im Durchschnitt vier bis fünf öffentliche Einrichtungen. Die Verringerung des Personals hat auch tragische Konsequenzen. Beispielsweise arbeiten die Intensivstationen nur mit einem Teil ihrer möglichen Kapazitäten, während immer 20 bis 30 PatientInnen auf der Warteliste stehen. Das Ergebnis ist, dass Menschen sterben. Die durchschnittlichen Wartezeiten für Krebsbehandlungen liegen bei vier bis fünf Monaten. Dies hat für die Patienten dramatische Konsequenzen. Oft können in den staatlichen Krankenhäusern keine Chemotherapien gemacht werden, weil die nötigen Medikamente fehlen. Wir sehen, wie die Patienten leiden oder sterben, nur weil das Gesundheitssystem sie nicht versorgen kann.

Mit welchen typischen Krankheiten haben Sie in der Krise zu tun?

Hart trifft es zum Beispiel DiabetikerInnen, die ihre Diät nicht halten können oder nicht genügend Insulin bekommen. Blindheit oder Amputationen sind die drohenden Folgen. Arme Menschen, die sich keine Behandlung leisten können, leiden an Tuberkulose, Aids, und Hepatitis. Diese Infektionen breiten sich aufgrund von Ansteckungen aus. Im Gegensatz zu früher haben wir jetzt mit unterernährten Müttern und Kindern zu tun. Diese katastrophale Situation macht mich sehr wütend und traurig.

Wie schaffen Sie es, Ihre PatientInnen mit den nötigen Medikamenten zu versorgen?

Wir haben unsere eigene Apotheke. Es besteht immenser Bedarf an Medikamenten für chronische Krankheiten, wie etwa für Herzkrankheiten oder Diabetes, die in Griechenland aber Mangelware sind. Deshalb fragen unsere SpenderInnen meistens an, was für Medikamente wir genau brauchen. Sie sammeln Geldspenden und kaufen sie gezielt für uns.

Wie reagiert die griechische Regierung auf die Problematik von PatientInnen, die keine Zugang zum Gesundheitssystem haben?

Bis 2014 hatten nichtversicherte Patienten überhaupt keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Im Sommer 2014 öffnete die damalige Regierung ihnen den Zugang zur bezuschussten Medikamentenverschreibung. Auch der Zugang zur ärztlichen Versorgung über dreiköpfige Gutachter-Komitees wurde ihnen gewährt. Leider funktionierten diese Initiativen in der Praxis nicht. Im Frühjahr 2016 erließ die jetzige Regierung ein neues Gesetz, in dem Einkommensgrenzen festgelegt wurden: PatientInnen erhalten Medikamente ohne Zuzahlung und haben auf Basis der nationalen Versicherungsnummer (AMKA) kostenlosen Zugang zu ärztlicher Behandlung - allerdings nur in öffentlichen Einrichtungen. Auch dieses Gesetz ist bisher nicht umgesetzt worden. Denn dazu bedürfte das öffentliche Gesundheitssystem großzügiger finanzieller Mittel - das betrifft sowohl die Krankenhäuser als auch die Erstversorgungszentren (PEDY).

Wie manifestiert sich die Ungleichbehandlung von versicherten und nichtversicherten PatientInnen?

Auch mit dem neuen Gesetz haben wir weiterhin zwei Arten von Patienten: Die Versicherten haben Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem und zu privaten Praxen, die vertraglich mit dem öffentlichen Gesundheitssystem (EOPYY) verbunden sind. Die nichtversicherten Patienten dagegen haben nur zum öffentlichen System Zugang. Die Wartezeit für eine Computertomographie beträft z.B. für versicherte Patienten vier bis fünf Tage, hingegen 20 bis 25 Tage für Nichtversicherte - und dies auch nur in Gegenden, wo es die entsprechenden Geräte gibt und wo diese auch funktionieren.

Welche Forderungen ergeben sich für Sie aus dieser Situation?

Wir kämpfen dafür, dass das Gesundheitssystem von allen Sparmaßnahmen ausgenommen wird. Unsere Regierung fordern wir auf, das Gesundheitssystem aus der Sparpolitik auszunehmen und verlangen von ihr, eine gesamteuropäische Informationskampagne zu den die tragischen Konsequenzen der Sparpolitik anzuregen, die wir all diese Jahre besonders im Gesundheitssystem erlitten haben. Wir müssen die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf die tragischen Konsequenzen lenken, die zu einer humanitären Krise geführt haben. Auf der Basis europäischen und internationalen Rechts fordern wir einen Stopp der Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem. Nur so können nichtversicherte PatientInnen gleichberechtigten Zugang zu ärztlicher Versorgung erhalten - nur so kann eine echte Reform der medizinischen Grundversorgung erreicht werden.


Georgios Vichas ist Kardiologe und Leiter der solidarischen Klinik Ellinikó. Er ist Mitglied des Vorstandes der ärztlichen Vereinigung Athens.

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Quelle:
IPPNWforum | 147 | September 2016, S. 26 - 27
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2017

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