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AUSLAND/2299: Pakistan - Aus Taliban-Gebieten Vertriebene leiden unter psychischen Störungen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. November 2015

Pakistan: Aus Taliban-Gebieten Vertriebene leiden unter psychischen Störungen

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Ärztin in Nord-Wasiristan untersucht Frauen
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

PESCHAWAR, PAKISTAN (IPS) - "Taliban-Kämpfer töteten vor drei Jahren meine zwei Söhne. Mein Ehemann starb ein Jahr später eines natürlichen Todes. Ich muss jetzt betteln gehen, um meine beiden Enkel aufzuziehen", erzählt Gul Pari. Die 50-Jährige wartet in der psychiatrischen Klinik der pakistanischen Stadt Peschawar darauf, dass sie aufgerufen wird. Nacht für Nacht träumt sie, dass ihre Söhne noch leben und eines Tages nach Hause kommen.

Die nicht enden wollende Gewalt durch die Taliban habe bei den meisten Frauen in den pakistanischen Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) zu seelischen Problemen geführt, sagt der Psychiater Mian Iftikhar Hussain. "Wir haben bisher mindestens 200 Patienten, zumeist Frauen, wegen post-traumatischer Belastungsstörungen aufgrund des Verlusts ihrer Angehörigen behandelt."

In den sieben Distrikten der FATA lebten etwa sechs Millionen Menschen, denen der endlose Konflikt immenses Leid gebracht habe, erklärt der Mediziner. Die Stammesgebiete liegen im Nordwesten Pakistans nahe der Grenze zu Afghanistan.


Etwa drei Millionen Menschen im Nordwesten Pakistans vertrieben

Seit die US-geführte Koalition im Jahr 2001 die Taliban-Regierung in Kabul stürzte, zogen sich viele Extremisten in das pakistanische Grenzgebiet zurück. Von den FATA aus greifen sie seitdem die pakistanischen Sicherheitskräfte sowie Schulen und Regierungsgebäude an. Ende 2005 begann Pakistan, ein Verbündeter der USA im Kampf gegen den Terrorismus, mit Militäroperationen gegen die Islamisten. Mindestens drei Millionen Menschen wurden bislang im Laufe des Konflikts vertrieben.

"Die meisten Vertriebenen haben inzwischen psychische Probleme, weil sie durch die Kämpfe nahe Verwandte verloren haben", sagt Hussain. Außerdem seien ihre Geschäfte und Äcker zerstört worden.

Auch die Bevölkerung in Khyber Pakhtunkhwa, einer der vier Provinzen Pakistans, die nahe der FATA liegt, leidet sehr unter dem Krieg. Muhammad Rafiq, der einen Laden im Distrikt Nord-Wasiristan besaß, erzählt, dass seine Tochter psychische Probleme hat, seit die Familie aus ihrem Haus vertrieben wurde.

"Wir leben jetzt in einem Lehmhaus ohne sauberes Trinkwasser und sanitäre Anlagen. Wir haben auch keinen Strom. Meinen Kindern geht es deswegen gesundheitlich schlecht", sagt er. Früher war die Familie materiell gutgestellt, doch inzwischen leben die Rafiqs in Armut und haben nicht mehr ausreichend zu essen.

Professor Syed Muhammad Sultan, der die Abteilung für Psychiatrie am Khyber-Lehrkrankenhaus in Peschawar leitet, befürchtet, dass immer mehr Einwohner der FATA in naher Zukunft mentale Probleme haben werden.

Der größte Teil der Vertriebenen hat in Khyber Pakhtunkhwa in winzigen Häusern oder Schulen Zuflucht gefunden, wo es ihnen selbst am Nötigsten fehlt. Vor allem Frauen und Kinder sind anfällig für psychische Störungen. Wie Sultan erklärt, bekommen sie zwangsläufig kurz- und langfristige seelische und körperliche Beschwerden. Viele von ihnen erleben demnach Persönlichkeitsveränderungen und einen Realitätsverlust.

Der Mediziner warnt davor, dass das Ausmaß dieser unsichtbaren Erkrankungen außer Kontrolle geraten könne, wenn nicht frühzeitig für die Erkrankten Sorge getragen werde. "Viele Frauen entwickeln Angststörungen und Depressionen."


Soziales Umfeld und Angehörige verloren

Die Psychologin Zeenat Shah hat beobachtet, dass viele Vertriebene unter einem mangelnden Selbstwertgefühl und Zukunftsängsten leiden. "Menschen, die aus ihren Häusern fliehen müssen, gewöhnen sich nur mit Mühe an eine neue Umgebung und fühlen sich dort nicht sicher. Denn sie haben ihr soziales Umfeld verloren, und enge Verwandte sind während des Konflikts getötet worden. Diese Erfahrungen können ständige Phobien, chronische Depression und Anpassungsprobleme verursachen."

Eine andere Psychologin, die ungenannt bleiben will, warnt vor bleibenden Schäden bei Kindern und Jugendlichen. "Beim Übergang von der Kindheit zur Jugend erlebt ein Mensch viele dramatische Veränderungen. In dieser Zeit bildet sich seine Identität heraus und er knüpft soziale Beziehungen, in seinem Umfeld und in der gesamten Gesellschaft", sagt sie. In den FATA bleibe die Bildung der Kinder auf der Strecke.

Die Lage der Frauen werde sich weiter verschlechtern, wenn sie unter den gleichen Bedingungen wie bisher weiterleben müssten, erklärt die Expertin. "In den neuen Gemeinschaften leben sie in kleinen Häusern, die meist nicht mit Trinkwasserzugang, Strom und sanitären Anlagen ausgestattet sind."

Mentale Beschwerden nähmen weiter zu, wenn sich die Lebensbedingungen nicht verbesserten, meint die Psychologin Zainab Bibi. Bildungs- und Freizeiteinrichtungen seien nun gefordert, den Vertriebenen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. (Ende/IPS/ck/30.11.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/11/women-suffer-psychological-problems-after-living-under-taliban/

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IPS-Tagesdienst vom 30. November 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2015

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