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AUSLAND/2163: Afghanistan - Gefährlicher Ort für schwangere Frauen, landesweit nur 3.500 Hebammen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. September 2014

Afghanistan: Gefährlicher Ort für schwangere Frauen - Landesweit nur 3.500 Hebammen

von Karlos Zurutuza


Bild: © DVIDSHUB/CC-BY-2.0

Afghanistan gehört zu den gefährlichsten Ländern für Schwangere und Kleinkinder
Bild: © DVIDSHUB/CC-BY-2.0

Kabul, 24. September (IPS) - Nasrin Mohamadi, Mutter von vier Heranwachsenden, hat sich geschworen, nie wieder einen Fuß in ein öffentliches Krankenhaus zu setzen. Seit den Erfahrungen, die sie bei der Geburt ihres ersten Kindes in einer Entbindungsstation in Mazar-e Sharif, 435 Kilometer nordwestlich der afghanischen Hauptstadt Kabul, machen musste, hat sie kein Vertrauen mehr in das staatliche Gesundheitswesen.

"Die Ärzte sagten mir damals, dass sich der Muttermund noch nicht genug geöffnet habe. Ich sollte im Flur warten. Dort musste ich mit den anderen Frauen auf dem Boden Platz nehmen, weil es keine Stühle gab", erzählt sie. "Schließlich brachten sie mich in einen Raum, in dem drei weitere Frauen mit weit gespreizten Beinen saßen. Leute kamen ständig rein und raus. Das ging eine Stunde so, bis ich mein Kind ohne Betäubung zur Welt brachte. Ich bekam nicht einmal ein Handtuch, um mich und den Säugling zu säubern."

Unmittelbar nach der Entbindung wurde Mohamadi aufgefordert, das Zimmer zu verlassen, weil vor der Tür weitere Schwangere Schlange standen. Die Ärzte empfahlen ihr, sich zehn Tage lang nicht zu waschen. Daraufhin entzündete sich die Stelle, an der ihr Damm gerissen und genäht worden war.

Ihre anderen drei Kinder brachte Mohamadi in privaten Einrichtungen zur Welt - für umgerechnet 600 bis 800 US-Dollar pro Geburt. "Dieses Geld war gut investiert", sagt sie.

In einem Land, in dem das tägliche Durchschnittseinkommen nicht einmal drei Dollar erreicht, ist das ein hoher Preis. 75 Prozent der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten, wo es nicht leicht ist, in den Genuss einer grundlegenden Gesundheitsversorgung zu kommen. Viele Frauen haben gar keine andere Wahl, als sich der staatlichen Gesundheitsfürsorge anzuvertrauen, die sich mit den Jahren verbessert hat.


Hohe Müttersterblichkeitsrate

Die Folgen bedürfen keines weiteren Kommentars. Zwar ist seit 2002 die Müttersterblichkeitsrate von 1.600 auf 460 Todesfälle pro 100.000 Lebendgeburten zurückgegangen. Dennoch gehört Afghanistan zu den vier Staaten, die die höchste Müttersterblichkeit außerhalb von Subsahara-Afrika verzeichnen.

Allein 2013 verloren etwa 4.200 Afghaninnen ihr Leben während der Entbindung. In dem Land fehlt es an fachärztlicher Betreuung für Schwangere und Gebärende. Sicherheitsprobleme und der schlechte Straßenzustand zwingen Frauen oft dazu, ihre Kinder zu Hause zur Welt zu bringen.

Den insgesamt etwa 6,5 Millionen Afghaninnen im gebärfähigen Alter stehen laut dem UN-Bevölkerungsfonds UNFPA gerade einmal 3.500 Hebammen zur Verfügung. Nur 23 Prozent der Frauen können daher mit fachkundiger Hilfe bei der Geburt rechnen. Nach Einschätzung von UNFPA wird sich der Notstand weiter verschlimmern. Bis 2030 wird mit 1,6 Millionen Schwangerschaften pro Jahr gerechnet, 73 Prozent davon in ländlichen Regionen.

Selbst Frauen, die Zugang zu den bestausgestatteten Einrichtungen in Städten wie dem Malalai-Geburtskrankenhaus in Kabul haben, können sich nicht auf Sicherheit verlassen. Sultani, die eigentlich anders heißt, hat dort alle ihre vier Kinder entbunden. Wie sie bemängelt, haben die Ärzte, von denen sie behandelt wurde, gerade einmal drei Jahre eine medizinische Fachschule besucht.

Wie aus einem 2013 veröffentlichten Bericht der Organisation 'Ärzte ohne Grenzen' hervorgeht, ist Afghanistan "einer der gefährlichsten Orte" für Schwangere oder Kleinkinder, weil es nicht genügend Fachpersonal gibt. "Privatkliniken sind für die meisten Afghanen unerschwinglich, und viele öffentliche Krankenhäuser sind personell unterbesetzt und überlastet", berichtet die Organisation, die selbst vier Krankenhäuser in Afghanistan betreibt.

Gerade in den ländlichen Gebieten und insbesondere dort, wo die Sicherheitslage prekär ist, fehlt es den lokalen Gesundheitsstationen an qualifizierten Mitarbeitern. Medikamente und medizinische Ausrüstung werden unregelmäßig oder gar nicht dorthin geliefert.

Laut UNFPA müsste das afghanische Gesundheitswesen derart umstrukturiert werden, dass im Zeitraum von 2012 bis 2030 "mindestens 117,8 Millionen pränatale Untersuchungen bei Schwangeren, 20,3 Millionen Geburten und 81,3 Millionen Nachsorgeuntersuchungen" vorgenommen werden könnten.


Kaum Verhütungsmittel

Da lediglich etwa 22 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter Zugang zu Verhütungsmitteln haben, bekommen die meisten Paare zahlreiche Kinder. Durchschnittlich bringt jede Frau sechs Babys zur Welt, von denen mindestens eines männlich sein muss. Denn traditionell sind es die Söhne, die für die Eltern im Alter sorgen.

Mütter können sich nur selten zwischen zwei Geburten erholen. Viele Frauen haben deshalb gesundheitliche Probleme. Oft reicht die Milch nicht, um ihre Säuglinge satt zu bekommen. Eine 2013 durchgeführte Untersuchung des afghanischen Gesundheitsministeriums ergab, dass 58 Prozent der Kinder keine sechs Monate ausschließlich mit Muttermilch ernährt werden. Immerhin ist dem Bericht zufolge der Anteil von Wachstumsstörungen bei Kindern zwischen 2004 und 2013 von etwa 60,5 Prozent auf 40,9 Prozent gesunken.

Nach Ansicht von Nilofar Sultani, Ärztin am Malalai-Geburtskrankenhaus, hat sich die medizinische Versorgung im Land in den letzten zehn Jahren "signifikant" verbessert. "Es gibt mehr und besser ausgestattete Gesundheitszentren", erklärt die Gynäkologin. Auch die Zahl der gut ausgebildeten Ärzte sei gestiegen.

Die wichtigsten Veränderungen seien aber bei der Einstellung der Frauen zur Gesundheitsversorgung zu beobachten. "Früher kamen nur sehr wenige in die Krankenhäuser. Heute dagegen wenden sich die meisten aus eigenem Antrieb an uns. Sie verlieren allmählich die Scheu vor Ärzten", sagt Sultani, die zugleich betont, dass Krankenhäuser zu den wenigen Orten gehören, an denen sich Afghaninnen auch ohne Männerbegleitung sicher fühlen könnten. (Ende/IPS/ck/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/09/against-all-the-odds-maternity-and-mortality-in-afghanistan/

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IPS-Tagesdienst vom 24. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2014