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AUSLAND/2112: Zentralafrikanische Republik - Augenzeugen berichten über Gewaltausbrüche im Land (Ärzte ohne Grenzen)


Ärzte ohne Grenzen - 3. Juni 2014

Zentralafrikanische Republik
«Im Westen des Landes flammen die bewaffneten Konflikte immer wieder auf»

Zwei Augenzeugen berichten über Gewaltausbrüche in verschiedenen Teilen des Landes



1. Augenzeugenbericht unserer Koordinatorin Muriel Masse

Muriel Masse war Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Carnot im Westen der Zentralafrikanischen Republik. Dort leistet die Organisation seit 2010 im städtischen Krankenhaus medizinische Unterstützung. Ende Februar ist sie in Carnot angekommen. Seitdem hat sich die Lage in der Stadt ihrer Einschätzung zufolge deutlich verbessert. Die Milizen wurden demnach entwaffnet, und die Ausfallstraßen sind im Umkreis von 30 Kilometern gesichert. Im Krankenhaus gab es weniger Verletzte zu betreuen, und der Normalbetrieb konnte wieder aufgenommen werden.

Anders sieht das allerdings in der Gegend um Carnot aus. «Gefahr kann von außen kommen, von der Peripherie oder aus den Wäldern, wo die Situation nach wie vor instabil und gefährlich ist», sagt Muriel Masse. Dort seien nach wie vor Anti-Balaka-Gruppen unterwegs, die keiner Kontrolle unterstehen. «In erster Linie verfolgen sie eigene Interessen wie Macht, Kontrolle über das Territorium sowie über die Diamantenminen der Gegend, und sie stehlen die Herden der Volksgruppe der Fula, die von der Viehzucht leben.» In den Wäldern gebe es häufig Attacken auf Dörfer und Massaker an Dutzenden von Zivilisten.

Bei jedem Gewaltausbruch wiederholt sich dasselbe Muster

Die Augenzeugin Muriel Masse berichtet von einer Spirale der Gewalt: «Die Anti-Balaka- Rebellen sammeln sich erneut, greifen die Fula an, stehlen deren Vieh und töten manchmal auch Angehörige der Fula, meistens Männer. Frauen und Kinder werden verschont. Im Gegenzug greifen dann die Fula Dörfer an und brennen alles nieder, was gerade am Weg liegt. Es gibt Tote, und ganze Familien flüchten in die Wälder. Die Fula werden aber ihr Territorium nicht verlassen und werden auch weiter durch zentralafrikanisches Territorium ziehen, wenn es sein muss auch mit Gewalt. Im Westen des Landes flammen die bewaffneten Konflikte immer wieder auf.»

Unwegbares Gelände verschlimmert die Situation

«Ärzte ohne Grenzen hat keinen Zugang mehr zu den vertriebenen Bevölkerungsgruppen, die sich in den Wäldern versteckt haben. Wegen der unsicheren Lage mussten wir unsere Unterstützung in den Gesundheitszentren der Region Carnot einstellen», bedauert die Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen. «Wir hoffen, dass wir unsere Aktivitäten sobald wie möglich wieder aufnehmen können. Es ist die Zeit, wo die Malaria gewöhnlich ihren Höhepunkt erreicht, und niemand weiß, was das für die Vertriebenen bedeutet.»

Vertriebene Muslime leben in der Kirche von Carnot

«In der Kirche von Carnot halten sich gegenwärtig zwischen 800 und 900 vertriebene Muslime auf. Ärzte ohne Grenzen versorgt die Vertriebenen wöchentlich mithilfe von zwei mobilen Kliniken und einer Fachkraft für Malaria, die ihrerseits flüchten musste. Sie wohnt dort und ist rund um die Uhr für die Vertriebenen da. Wir behandeln vor allem Patienten mit Malaria und Atemwegsinfektionen. Ich bin sehr besorgt darüber, was auf diese Vertriebenen zukommen wird. Die älteren Leute wollen nicht aus Carnot weggehen, wo sie ihr ganzes Leben verbracht haben, und das kann man verstehen. Sie möchten nach Hause zurückkehren, aber das wird nicht möglich sein. Ein älterer Dorfbewohner hat mir erzählt, dass er von den Anti-Balaka-Rebellen in die Kirche gebracht wurde. Sie sagten zu ihm: 'Entweder verlässt du dein Dorf und kommst mit uns, oder wir töten dich'. Er hatte keine Wahl.»

Der Ausnahmezustand dauert schon lange

Muriel Masse hat muslimische Vertriebene gesehen, die schon seit sehr langer Zeit in der Kirche wohnen: «Einige von ihnen sind seit mehr als drei Monaten hier. Sie bekommen zu essen, zu trinken und dank Ärzte ohne Grenzen medizinische Betreuung, aber sie resignieren, altern vorzeitig. Wir können nichts tun. Wir hören ihnen zu, denn sie haben ein Bedürfnis sich mitzuteilen, wir behandeln chronische Leiden, sofern wir das können, dazu kleine Verletzungen. Sie sind nicht speziell krank, sie sind einfach psychisch erschöpft. Was steht diesen Menschen bevor? «

Ein Kreislauf der Vertreibung setzt sich in Gang

Dass die Vertriebenen in ihre Häuser zurückkehren können, kann sich die Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen kaum vorstellen: «Ihre Geschäfte und Häuser wurden von anderen in Besitz genommen, oft sind die neuen 'Besitzer' Anti-Balaka-Rebellen, aber auch Menschen, die die umliegenden Dörfer verlassen haben, um in der Stadt Zuflucht zu finden und die sich nun dort niedergelassen haben, wo die Bewohner vertrieben worden sind. Die Behörden von Carnot können zwar verkünden, diese seien nicht die legitimen Eigentümer, doch die Muslime werden nie ihre Besitztümer wiedererlangen können, das ist eine Tatsache. Oder dann geschieht dies in einem neuen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt.»

In der Region Carnot gibt es immer weniger Muslime

Viele der Muslime sind nach Kamerun oder in den Tschad geflohen, die Übriggebliebenen haben an Orten Zuflucht gesucht, die unter dem Schutz internationaler Truppen stehen, wie der MISCA in der Kirche von Carnot. Dass ein normales Zusammenleben je wieder möglich wird, kann sich die Augenzeugin nicht vorstellen: «Ich habe kein einziges Mal gehört, wie jemand von 'Versöhnung' sprach oder die Rückkehr der Muslime wünschte. Sie sind zwar zusammen aufgewachsen, aber heute wünscht die Bevölkerung im Westen der Zentralafrikanischen Republik nur noch eine Rückkehr zu einem 'normalen' Leben: Frieden, genug zu essen, die Kinder wieder zur Schule zu schicken. Dass dies auf Kosten eines Teils der Bevölkerung geschehen würde, ist offenbar nicht wichtig.« Ärzte ohne Grenzen ist seit 1997 in der Zentralafrikanischen Republik tätig. Gegenwärtig leisten mehr als 300 internationale Mitarbeiter und 2.000 lokale Mitarbeiter medizinische Nothilfe im Land. Ärzte ohne Grenzen führt sieben reguläre Projekte und sechs Notfallprojekte durch. Dazu betreibt die Organisation mobile Kliniken im Nordwesten des Landes. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen betreuen auch Vertriebene, die aus der Zentralafrikanischen Republik in den Tschad, nach Kamerun oder in die Demokratische Rebublik Kongo geflohen sind.

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2. Augenzeugenbericht der Schweizer Krankenschwester Miriam Kasztura
Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik: "So viele Patienten starben, dass wir nicht einmal Zeit hatten, über sie nachzudenken"

Die Schweizer Krankenschwester Miriam Kasztura ist gerade aus Berberati in der Zentralafrikanischen Republik zurückgekehrt. Seit Januar arbeiten Teams von Ärzte ohne Grenzen im Universitätskrankenhaus von Berberati, wo sie in der Notaufnahme, der Chirurgie und der Geburts- und Kinderstation tätig sind. Außerdem haben sie mehrere abgelegene Gesundheitszentren unterstützt.

Berberati ist die zweitgrößte Stadt der Zentralafrikanischen Republik und liegt im Südwesten des Landes, etwa 120 Kilometer von der Grenze zu Kamerun entfernt. Wie in vielen anderen Regionen der Zentralafrikanischen Republik kam es auch in Berberati in den letzten Monaten zu Gewalt und Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung. Obwohl sich die Sicherheitslage in den vergangenen Wochen etwas entspannt hat, bleibt die Situation äußerst unbeständig und der Bedarf an medizinischer Hilfe ist immens.

"Wenn sie endlich bei uns eintrafen, war es für viele von ihnen zu spät"

"Ich bin Mitte Februar in Berberati angekommen. Damals waren viele schwerkranke Kinder auf der pädiatrischen Intensivstation. So viele schwere Krankheitsbilder hatte ich noch nie gesehen. Die meisten Kinder waren an Malaria erkrankt, und viele litten an Blutarmut oder Atemwegsinfektionen", erzählt Miriam Kasztura. "Wir verloren viele Kinder, da sie wegen der bewaffneten Auseinandersetzungen nicht ins Krankenhaus gebracht werden konnten. Wenn sie endlich bei uns eintrafen, war es für viele von ihnen zu spät. Oft konnten wir nur noch den Tod feststellen. Es waren so viele, dass wir nicht einmal Zeit hatten, über sie nachzudenken, da immer schon der nächste Patient wartete. Das war sehr schwer auszuhalten."

Malaria nach wie vor die Haupttodesursache

"In unserer ambulanten Abteilung behandelten wir bis zu 200 Kinder pro Tag, die meisten, 80 bis 90 Prozent, mit Malaria. Auch 50 bis 60 Prozent der Patienten in der stationären Abteilung litten an Malaria. Ihren ersten Höhepunkt erreicht die Malaria jeweils zwischen April und Juni, daher rechnen wir mit einer deutlichen Zunahme von Erkrankungen. Malaria ist die Haupttodesursache in diesem Land. Wir haben uns auf diese heikle Zeit vorbereitet und unterstützen derzeit die abgelegenen Gesundheitszentren. Dort können wir die Patienten in einem früheren Erkrankungsstadium behandeln, und damit steigern sich die Heilungschancen."

Viele kommen mit Macheten- und Schussverletzungen

Daneben hat die Schweizer Krankenschwester viele Opfer von Gewalt behandelt: "Es wurden viele Verwundete mit Verletzungen verschiedenster Art eingeliefert, verursacht durch Macheten, Granaten, Gewehre und sogar durch Pfeil und Bogen. Die Gewalt ist völlig willkürlich, und sowohl Angehörige der Kampfeinheiten als auch Zivilisten wurden in die Abteilungen gebracht. Viele Patienten hatten offene Splitterbrüche, und einige waren aufgrund von Beinschüssen bewegungsunfähig. Bei zahlreichen Patienten mit Macheten- oder Schussverletzungen oder infizierten Wunden mussten wir Glieder amputieren. Es war schrecklich zu sehen, wie zwanzigjährige Männer ihr ganzes Leben behindert sein werden." Miriam Kasztura sieht die Zukunft mit Sorge: "Die Lage ist in vielen Landesteilen ähnlich. So kann es sein, dass die Hälfte dieser Generation mit Behinderungen leben muss."

"Das tapferste Kind, das ich je gesehen habe"

Auch Kinder werden nicht von der Gewalt verschont. Die Krankenschwester von Ärzte ohne Grenzen erinnert sich: "Eines Tages hörten wir eine Explosion vor dem Krankenhaus. Minuten später kam ein Mann mit einem zehnjährigen Kind auf dem Arm in die Notaufnahme gerannt. Überall war Blut, eine furchtbare Szene. Der Junge hatte mit einem anderen Kind auf der Straße gespielt. Dieses hatte eine Blindgänger-Granate aufgehoben und wurde durch die Explosion sofort getötet." Miriam Kasztura war auf das Schlimmste vorbereitet: "Der Junge in der Notaufnahme trug ein blutgetränktes Handtuch um den Kopf. Ich hatte erwartet, ein zur Hälfte weggerissenes Gesicht zu sehen, aber er hatte grosses Glück gehabt. So blickte mir stattdessen ein hübscher kleiner Junge in die Augen, der 'Hallo' sagte. Er war das tapferste Kind, das ich je gesehen habe. Sein Bein war in keiner guten Verfassung und sein ganzer Körper von Granatsplittern durchsiebt, aber er überlebte. Nach fünf Wochen Pflege im Krankenhaus konnte er wieder gehen."

Hilfsbedarf bleibt riesig

"Obwohl ich bereits an Orten mit Luftangriffen gearbeitet habe, war dies das unsicherste Umfeld, in dem ich mich je bewegt habe. Leute zu sehen, die mit schussbereiten Waffen herumlaufen, war beängstigend. Es gab ruhige Momente, aber es war nie eine echte Ruhe. Diese extreme Gewalt ist schwer zu begreifen. Es ist nicht einfach, zusehen zu müssen, wie ein ganzer Bevölkerungsteil gefoltert und getötet, fast ausgelöscht wird."

Schon vor dem Ausbruch der Kämpfe blieben in diesem Land die gesundheitlichen Bedürfnisse weitgehend ungedeckt. Das Gesundheitssystem liegt praktisch darnieder, und dennoch müssen die Menschen für die Dienste bezahlen. Die Qualität der medizinischen Versorgung, wenn sie überhaupt existiert, ist extrem schlecht. Aus mangelndem Vertrauen in das Gesundheitssystem greifen viele Menschen auf traditionelle Heilmittel zurück, oft mit tödlichen Folgen. Meist sehen die Menschen die Medizin erst als letzten Ausweg, wenn es schon zu spät ist.

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Quelle:
Aerzte ohne Grenzen e. V. / Medecins Sans Frontieres
Am Koellnischen Park 1 - 10179 Berlin - Germany
Tel. + 49 30 700 130 - 240, Fax + 49 30 700 130 - 340
E-Mail: office@berlin.msf.org
Internet: www.aerzte-ohne-grenzen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2014