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AUSLAND/1896: Serbien - Wirtschaftskrise treibt Menschen in die Depression, hohe Zahl von Suiziden (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. November 2012

Serbien: Wirtschaftskrise treibt Menschen in die Depression - Hohe Zahl von Suiziden

von Vesna Peric Zimonjic



Belgrad, 7. November (IPS) - Renato Grbic ist ein einfacher Fischer, der in Belgrad am Ufer der Donau aufgewachsen ist. Der Serbe geht noch einer Tätigkeit nach, für die er nicht bezahlt wird: In den vergangenen 14 Jahren hat er 25 Menschen gerettet, die von der Pancevo-Brücke in den Tod springen wollten. "Wenn ich sie frage, warum sie ihr Leben beenden wollen, antworten sie meist mit 'ich bin deprimiert' oder 'ich halte es nicht mehr aus'."

Gesundheitsministerin Slavica Djukic Dejanovic sieht psychische Krankheiten als großes Problem auf dem Arbeitsmarkt. "Im Jahr 2020 werden Depressionen die zweithäufigste Ursachen für das Fehlen am Arbeitsplatz sein", erklärte sie kürzlich auf einem Treffen von Experten für seelische Gesundheit. "Es gibt momentan zu wenige Psychotherapeuten und Psychiater, um dieses Problem zu bewältigen. Wir bemühen uns nach Kräften, die Lage rasch zu verbessern."

Daten des Gesundheitsministeriums zufolge praktizieren in dem Balkanstaat mit 7,2 Millionen Einwohnern lediglich 350 geprüfte Psychotherapeuten und 900 Psychiater. Die Vereinigung der Psychotherapeutischen Gesellschaften in Serbien beziffert den Bedarf an Psychotherapeuten mit 6.000 bis 8.000. Etwa 1.500 Experten werden derzeit ausgebildet und werden bald die Voraussetzungen haben, in das System aufgenommen zu werden.

"Etwa ein Drittel der Bevölkerung leidet unter psychischen Beschwerden wegen der Wirtschaftskrise, die zu Arbeitslosigkeit und wachsender Armut geführt hat", sagt Nadja Maric Bojovic, die Leiterin der Belgrader Klinik für Psychiatrie.

Zu den Traumata der Balkankriege in den 1990er Jahren und Erinnerungen an die NATO-Bombardements in Serbien 1999 kam die materielle Not, die durch die internationalen Wirtschaftssanktionen zwischen 1992 und 2000 hervorgerufen wurde. "Europäischen Statistiken zufolge macht der Anteil psychischer Störungen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten 27 Prozent aus", sagt Bojovic. "Ganz oben auf der Liste stehen Angstzustände, Schlaflosigkeit und Depressionen."


Beruhigungsmittel statt therapeutischer Hilfe

Unter Berufung auf weitere seriöse Zahlen erklärt die Expertin, dass nur jeder zehnte Betroffene professionelle Hilfe sucht. "Viele Menschen haben psychische Probleme und wissen nicht, wie sie sie lösen sollen", sagt Zoran Milivojevic, Direktor der Vereinigung der Psychotherapeutischen Gesellschaften in Serbien. Der Mangel an Therapeuten werde mit Beruhigungsmitteln kompensiert.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurde im vergangenen Jahr am häufigsten das Beruhigungsmittel Bromazepam (in Serbien als 'Bensedine' bekannt) eingenommen. Ärzte verschrieben 2011 4,3 Millionen Schachteln. Weitere drei Millionen davon wurden illegal unter dem Ladentisch verkauft. An fünfter Stelle stand der Tranquilizer 'Lorazepam', von dem im selben Jahr etwa 1,6 Millionen Schachteln legal gehandelt wurden.

"Menschen mit seelischen Problemen greifen der Einfachheit halber lieber zu Medikamenten, als die Probleme mit Hilfe eines Therapeuten zu lösen", sagt der Psychologe Nebojsa Jovanovic. Serbische Behörden verfügen nur über unvollständige Daten zu seelischen Störungen.

Die Selbstmordstatistiken der Weltgesundheitsorganisation WHO sind dagegen präzise. Demnach kommen in Serbien 14 Suizide auf jeweils 100.000 Einwohner. Damit liegt das südosteuropäische Land weltweit an 13. Stelle. Auf das Jahr umgerechnet brachten sich im vergangenen Jahr 1.400 Serben um - fast vier an jedem Tag.


Dem einzigen Zentrum für Suizidprävention ging das Geld aus

Das einzige Hilfszentrum für Selbstmordgefährdete, das eine Notruf-Hotline in Belgrad betrieb, musste im vergangenen September aus Finanznot den Betrieb einstellen. "Von Februar bis September dieses Jahres haben wir mehr als 2.300 Anrufe erhalten", sagt die Psychologin Branka Kordic, die für das Projekt zuständig war.

"Wie viele Selbstmorde wir verhindert haben, wissen wir nicht. Die meisten Anrufer waren Männer über 50, die ihre Arbeit verloren haben. Sie waren die größten Opfer des Übergangs, weil sie ihr Selbstvertrauen, die Unterstützung der Familie und die Existenzgrundlagen verloren haben."

Seit 2000 hat Serbien einen schmerzhaften Übergang zur Marktwirtschaft vollzogen, der gemeinsam mit der derzeitigen globalen Krise die Arbeitslosenrate auf einen Rekordstand von 25,5 Prozent getrieben hat. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.who.int/mental_health/prevention/suicide_rates/en/
http://www.ipsnews.net/2012/11/serbia-sinks-into-depression/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 7. November 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2012