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AUSLAND/1869: Bolivien - Neues Gesetz soll Arbeit von indigenen Heilern legalisieren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. August 2012

Bolivien: Indigene Heiler vom Aussterben bedroht - Gesetz soll traditionelle Medizin schützen

von Franz Chávez

Juan Ángel Yujra in einer traditionellen Koka-Zeremonie - Bild: © Franz Chávez/IPS

Juan Ángel Yujra in einer traditionellen Koka-Zeremonie

Bild: © Franz Chávez/IPS

La Paz, 3. August (IPS) - Wie schon seine Vorfahren verlässt Juan Ángel Yujra regelmäßig seine Heimat im westlichen Hochland Boliviens. Auf langen Reisen in die tropischen Niederungen des Amazonasgebietes und in die Gebirgszüge im Süden des lateinamerikanischen Binnenlandes will er sich mit Vertretern anderer indigener Völker austauschen und sich über ihr Wissen, ihre Traditionen und ihre Rituale der Heilkunst informieren. Doch immer seltener trifft Yujra auf traditionelle Heiler wie er einer ist.

In seinem rustikalen Häuschen auf der Spitze eines Berges in der Nähe der Hauptstadt La Paz sitzt Yujra eingehüllt in einen traditionellen Poncho, den er von seinem Großvater geerbt hat. Auf dem Kopf trägt er eine farbenfrohe Mütze, wie sie typisch ist für Bolivien. Auf eine feine Alpaka-Decke wirft er Kokablätter, um die Vergangenheit und die Zukunft der Traditionen seines Volkes zu lesen. Tiefbetrübt erzählt er dabei vom Verlust der alten Bräuche in den indigenen Kulturen des Amazonas, des Chaco sowie weiterer Regionen des Landes.

Yujra ist ein 'Yatiri' - so nennen die Aymara-Indigenen ihre Weisen und spirituellen Führer. Daneben ist er aber auch Kommunikator und Anthropologe. In dieser Funktion forscht er über das präkolumbianische Wissen sowie die Riten und Traditionen seiner Vorfahren in Bezug auf indigene Heilmethoden. Außerdem geht es ihm darum, Lösungen für Probleme zu finden, die die Menschen selbst oder die Umwelt verursacht haben.

Für ihn ist die konventionelle Medizin nicht immer hilfreich. Häufig könne diese keine Besserung bei den Patienten erzielen. Dann sei es wahrscheinlich, dass das Problem tatsächlich von einer Schwäche des Geistes des Patienten herrühre. In dem Fall liest ein Yatiri die Kokablätter, um eine Antwort darauf zu finden, wo die Ursachen für die Gesundheitsprobleme liegen.

Wenn sich beispielsweise jemand bei einem Sturz ein Gelenk verletzt, kommt es vor, dass konventionelle Medikamente den Schmerz nur vergrößern. Der Yatiri geht davon aus, dass in einem solchen Fall das Problem darin besteht, dass der Mensch sich beim Sturz so sehr erschreckt hat, dass er seine Seele verloren habe, die nun in der Erde festsitzt.


Traditionelle und konventionelle Medizin schließen sich nicht aus

Es ist keineswegs so, dass sich die konventionelle und die traditionelle Medizin ausschließen. Im Gegenteil. Immerhin empfehlen zehn Prozent der in Bolivien ansässigen Ärzte, die ihren Beruf an einer Universität erlernt haben, ihren Patienten, sich auch an traditionelle Mediziner zu wenden. Und das Gesundheitsministerium bemüht sich um eine größere Anerkennung der traditionellen Heilpraktiken. Dazu müssen die Traditionen der indigenen Völker, Bauern und afrobolivianischen Gemeinschaften überhaupt erst gesammelt und bewahrt werden.

Eine Regierungsinitiative soll dem Rechnung tragen: Im Rahmen eines Entwurfs mit dem Titel 'Gesetz über die überlieferten Weisheiten und Kenntnisse' werden seit Ende Juli Vertreter traditioneller indigener Gemeinschaften zu Befragungen geladen, um sich zu der Initiative zu äußern.

Das Projekt will die Arbeit von spirituellen Führern, traditionellen Heilmedizinern sowie indigenen Geburtshelfern legalisieren. Sie sollen vor allem dort wirken, wo es eine Unterversorgung mit Ärzten der konventionellen Medizin gibt.

Dem Vizeminister für Traditionelle Medizin und Interkulturalität, Alberto Camaqui, zufolge sind 1.220 traditionelle Mediziner und Geburtshelfer offiziell gemeldet. Vor kurzem sei auch eine Datenbank eingerichtet worden, in der bereits 60 Pflanzen registriert seien, die für die traditionellen Heilpraktiken notwendig seien. "Wir haben alle auf irgendeine Weise mindestens einmal die traditionelle Medizin in Anspruch genommen", sagte Camaqui.


Bolivianische Verfassung erkennt traditionelles Wissen an

Auch die bolivianische Verfassung von 2009, die das Land als einen plurinationalen Staat bezeichnet, erkennt das traditionelle indigene Wissen an. Verwunderlich ist höchstens, dass dies so spät geschehen passiert: Schließlich sind 10,5 Millionen der Einwohner Boliviens und damit 62 Prozent Indigene. Die Mehrheit von ihnen gehört den Quechua an, die zweitgrößte Gruppe sind die Aymara.

Viele Bolivianer vertrauen zunächst auf die traditionelle Medizin. Wenn diese nicht hilft, greifen sie auf die konventionelle zurück. Allerdings wenden sie sich meist erst dann an die an den Universitäten ausgebildeten Mediziner, wenn die Krankheit schon so weit fortgeschritten ist, dass auch die konventionellen Ärzte nichts mehr ausrichten können. "Wenn der Patient dann stirbt, schieben die Angehörigen die Schuld auf die konventionelle Medizin", sagt der Arzt und Forscher Franklin Alcaraz gegenüber IPS.

Er kritisiert, dass es keine Vorgaben gibt, wie mit bestimmten Krankheiten umgegangen werden soll." Genau das aber heißt Juan Ángel Yujra gut: die traditionelle Medizin könne man nicht in wissenschaftliche Kategorien zwängen, die das Gedankengut der indigenen Völker nicht zu interpretieren wüssten.
(Ende/IPS/jt/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2012