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AUSLAND/1659: Palästina - Besatzung macht krank (IPPNWforum)


IPPNWforum | 124 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Besatzung macht krank
Persönliche Eindrücke aus der Westbank

Von Sabine Farrouh und Manfred Lotze


Unsere Nächte in Bethlehem in unmittelbarer Nähe der Mauer enden regelmäßig um 3 Uhr morgens, denn da beginnt die Rush-Hour. Palästinenser, die eine Genehmigung haben und in Jerusalem arbeiten, fahren zum Checkpoint, wo sie stundenlange Kontrollen über sich ergehen lassen müssen, um rechtzeitig bei der Arbeit sein zu können. Ein Weg, den Touristen mit einem israelischen Bus in maximal einer halben Stunde zurücklegen. Abends spielt sich das gleiche Szenario in umgekehrter Richtung ab. Und manchmal werden die Checkpoints einfach geschlossen - ohne Ankündigung, ohne Begründung.

Mit einer Delegation von IPPNW-Ärzten und Ärztinnen und Mitgliedern der katholischen Friedensorganisation pax christi reisten wir 12 Tage lang durch Palästina und Israel. Wir besuchten vor allem Initiativen und Organisationen, die sich um Frieden, Gerechtigkeit und Aussöhnung bemühen. Oft brauchen wir Ermutigung, denn die Lebensbedingungen unter 43jähriger Besatzung zu sehen und Wut und Angst zu verarbeiten, war nicht immer einfach.

Weil wir bei palästinensischen Familien in Bethlehem wohnten und mit palästinensischen Bussen fuhren, bekamen wir einen Einblick, unter welchen Einschränkungen, Kontrollen und Schikanen die Palästinenser ständig leben, auch in den sogenannten "A-Gebieten", die eigentlich unter vollständiger Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde stehen. So durfte unser Bus z.B. auf dem Weg in den Norden nicht wie andere Touristen durch Jerusalem fahren, sondern musste einen großen Umweg auf einer abenteuerlichen Straße mit steilen Serpentinen in gebirgigem Gelände in Kauf nehmen. Einmal wurden wir von Sicherheitskräften einer Siedlung gestoppt, dann von schwerst bewaffneten Soldaten kontrolliert, weil wir in der Nähe von Nablus, mitten in palästinensischem Gebiet die falsche Toilette angesteuert hatten. Sie war nur für Siedler oder Ausländer bestimmt. Ein palästinensischer Bus darf davor nicht halten.

Die Siedlungen sind eher wehrhafte kleine Städte mit bis zu über 40.000 (jeweils 30-40.000) Einwohnern, inzwischen leben etwa 600.000 Israelis in ihnen. Siedlungen und Mauer zerteilen die Westbank, die laut Friedensplan einmal palästinensisches Staatsgebiet werden soll, in einen Flickenteppich. Reuven Moskovitz verglich es mit einem Schweizer Käse: der Käse für die Israelis, die Löcher für die Palästinenser. Sie trennen Menschen von ihren Arbeitsplätzen, Bauern von ihren Feldern, Patienten vom Zugang zu Krankenhäusern. Das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten dokumentiert u.a. wie viele Patienten allein jährlich an den Checkpoints sterben, weil das Prozedere der stundenlangen Kontrollen auch in Notfällen nicht geändert wird.

Ein Kollege erzählte uns, dass sein Sohn, der an Glucose-6-phosphat-Dehydrogenasemangel leidet, ihm beinahe unter den Händen gestorben sei, weil er erst das Blut nicht in ein entsprechendes Labor und dann das Kind nicht ins Krankenhaus bringen konnte. Der Checkpoint war schon geschlossen. Am nächsten Tag konnte sein Sohn - inzwischen mit einem lebensbedrohlichen Hämoglobinwert von 2,8 g/dl - gerade noch gerettet werden. Ein anderes Kind mit einer schweren bakteriellen Infektion wurde schließlich von der Mutter an den Absperrungszaun (die Absperrungsanlagen bestehen zum Teil aus Zaun) gebracht, und der Arzt verabreichte Antibiotika-Spritzen durch den Zaun, weil Mutter und Kind nicht hinaus und er nicht hinein durfte. Auf einer Hühnerfarm verendeten 50.000 Hühner, weil der Besitzer drei Tage den Checkpoint zu seinem Land nicht passieren konnte, und die Tiere daher bei glühender Hitze ohne Wasser und Nahrung blieben.

Bedrückend waren auch die Bilder von abgesägten oder abgebrannten Olivenhainen, von militanten Siedlern verwüstet. Oder der Anblick einer staatlichen Mädchenschule, zu der wir eines Morgens von den Rabbinern für Menschenrechte geführt wurden und auf die Siedler aus dem Nachbardorf in der Nacht einen Brandanschlag verübt hatten. Eigentlich waren wir auf dem Weg zur Olivenernte in abgetrennten Hainen, zu der uns die Rabbiner bringen wollten. Die Armee hatte aber kurzerhand dieses Areal zum militärischen Sperrgebiet erklärt. In derselben Nacht war der Olivenhain eines weiteren Bauern abgebrannt worden.

Das alles geschieht unter Beobachtung der Armee. Das Land ist in der Nähe der Siedlungen flächendeckend mit Wachtürmen, Armeeposten, Videokameras ausgestattet. Um so bewundernswerter, mit welcher Geduld sich alle, die wir besuchten, der Gewaltfreiheit verschrieben haben. "Wir weigern uns, Feinde zu sein" steht am Eingang von Dahers Weinberg, einem Areal, das Israel seit 1991 annektieren will. Da die Familie aber Besitzurkunden schon aus der Zeit des osmanischen Reichs besitzt, konnte sie sich bisher erfolgreich dagegen wehren und hat das Gelände u.a. zu einem internationalen Jugendtreffpunkt gemacht.

Die ständig präsente Gewalt hinterlässt ihre Spuren. Wir besuchten ein Projekt der Young Men's Christian Associations (YMCA) in Beit Sahour, die sich seit 1987 um traumatisierte junge Menschen kümmern. Viele Kinder machen immer wieder traumatische Erfahrungen. Ihre Väter, Brüder werden verhaftet, sie werden Zeuge von Gewalt bei nächtlichen Razzien in ihren Häusern, erleben immer wieder Demütigungen an den Checkpoints, werden selbst wiederholt festgenommen. Ein 9-jähriger Junge wurde z.B. in Hebron verhaftet, weil er ein Armeefahrzeug mit einem Stein beworfen hatte. Da seine Eltern in der Nähe von Siedlern wohnen, wurde dem Jungen per Gerichtsbeschluss verboten, in sein Elternhaus zurückzukehren. Er wurde beim entfernt lebenden Onkel untergebracht.

Die YMCA bietet Therapien an und versucht Jugendlichen durch Freizeitaktivitäten Zugang zu Therapeuten überhaupt erst zu ermöglichen. Sie leistet Wiedereingliederungshilfe und hilft auch Müttern von Familien, deren Haus zerstört worden ist, trotz ihrer Verzweiflung den Kindern in guter und liebevoller Weise beizustehen. YMCA arbeitet eng mit dem israelischen Komitee gegen die Hauszerstörungen (ICAHD) zusammen, das u.a. alternative Touren durch Ostjerusalem anbietet. Sie zeigen die Mauer, Straßen und Tunnel zu den jüdischen Siedlungen sowie Plätze, an denen palästinensische Häuser zerstört wurden. Die Infrastruktur Ostjerusalems verfällt, 1800 Schulräume fehlen, nur 50er palästinensischen Kinder können zur Schule gehen, Trinkwasser wird von israelischen Behörden nur für 70.000 der über 250.000 Menschen bereit gestellt. Micha Kurz, ehemaliger Soldat und Mitbegründer von "Breaking the Silence", unser Führer einer solchen Tour, antwortete auf die Frage, warum er sich in dieser Form engagiere: "Sie können in Israel leben und von all dem, was hier passiert nichts mitbekommen. Ich habe den ersten Palästinenser während meines Militärdienstes gesehen. Und - ob sie es wollen oder nicht - Sie verwandeln sich im Laufe der Zeit Ihres Armeedienstes in den besetzten Gebieten in ein Monster."

Bei allen unseren Gesprächen erhielten wir immer die gleiche Antwort auf die Frage, was Palästina braucht, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern: Setzt Euch dafür ein, dass die Besatzung beendet wird. Das wäre die einzige wirkliche Hilfe. Europa tue zwar eine Menge. Sämtliche Hilfsgelder betrügen aber nur einen Bruchteil dessen, was die Besatzung an Schäden der Infrastruktur und Ökonomie verursache. Bethlehem hat zwar eine Universität mit einer medizinischen Fakultät, aber keine Universitätsklinik. "Wie sollen wir junge Ärzte ohne Klinik ausbilden?", fragt uns ein Kollege. Die Fort- und Weiterbildung palästinensischer Ärzte ist schwierig, da z.B. Auslandsaufenthalte nur mit langwierigen Ausreisegenehmigungsprozeduren möglich sind. Ein anderer sagt: "Wir brauchen keine Almosen. Wir sind sehr wohl in der Lage, unser Land und ein gutes Gesundheitssystem selber aufzubauen. Man muss uns nur lassen. Unter der Besatzung ist das unmöglich."

Abschließend besucht unsere Delegation Neve Shalom/Wahat al-Salam, eine Oase ca. 10 Kilometer vor Tel Aviv. Dieser Kibbuz wurde Anfang der 70er Jahre gegründet mit der Aufgabe zu zeigen, dass Israelis und Palästinenser, Juden und Muslime friedlich zusammen leben können. Heute leben hier 54 Familien, über 100 stehen auf der Warteliste. 200 Schülerinnen und Schüler besuchen die Friedensschule des Dorfes jährlich, davon viele von außerhalb. Die Lehrer haben weltweite Kontakte, halten Seminare ab und werden von Freundeskreisen auch aus Deutschland unterstützt. Im zweisprachigen Kibbuz überwiegt allerdings das moderne Hebräisch (Ivrit) die arabische Sprache. Die Dorfbewohner sehen sich als Modell für eine Ein-Staaten-Lösung. Auch wir erahnen hier eine gelebte Vision von Frieden.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Dr. Sabine Farrouh und Dr. Manfred Lotze waren Teil der Delegation in die Westbank.


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Quelle:
IPPNWforum | 124 | 10, Dezember 2010, S. 8 - 9
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2011