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AUSLAND/1617: Argentinien - Aus Knochen lesen, Forensische Anthropologen weltweit gefragt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. November 2010

Argentinien: Aus Knochen lesen - Forensische Anthropologen weltweit gefragt

Von Marcela Valente


Buenos Aires, 15. November (IPS) - Gegründet wurde das Institut in Argentinien, um die Leichen der Opfer der Diktatur (1976-1983) zu exhumieren. Doch längst ist das Argentinische Team für Forensische Anthropologie (EAAF) auch jenseits der Landesgrenzen tätig. In insgesamt 40 Ländern konnten die EAAF-Experten das Schicksal vieler 'Verschwundener' aufklären.

Vor 26 Jahre hatte EAAF als Nichtregierungsorganisation die Arbeit aufgenommen. Damals war die Diktatur ein Jahr zu Ende, in deren Verlauf nach offiziellen Angaben 15.000 Personen verschwanden. Menschenrechtsorganisationen sprechen sogar von bis zu 30.000 Verschwundenen.

"Bei unserer Arbeit geht es nicht darum, die Schuldigen zu finden", erläutert der EAAF-Direktor Luis Fondebrider. "Unsere Aufgabe ist es, die Toten zu identifizieren und möglichst auch die Todesursache zu klären." Durch die Exhumierung von Massengräbern in mindestens sieben argentinischen Provinzen wurden bisher 900 Personen geborgen. 300 konnten sofort identifiziert werden, die übrigen erst später mit Hilfe der DNA ihrer Angehörigen. So konnten seit 2008 weitere 120 Leichen bestimmten Personen zugeordnet werden.


Wissen weitergeben

"Wir schulen Gerichtsmediziner darin, Opfer politischer Gewalt aufzufinden und zu identifizieren", sagt Fondebrider. Die Erfahrungen des argentinischen Teams haben dazu beigetragen, die Leichen von Gewaltopfern in 16 lateinamerikanischen, neun afrikanischen, sieben europäischen, fünf asiatischen und zwei pazifischen Ländern zu bergen.

1997 machte das Team das Grab des argentinisch-kubanischen Rebellenführers Ernesto Che ausfindig, der 1967 von bolivianischen Militärs ermordet und an einem bis dahin unbekannten Ort begraben worden war.

In 90 Prozent aller Interventionen geht es um Opfer politischer Gewalt. Doch zunehmend ist das Team aus Archäologen, Genetikern, Ärzten, Odontologen (Zahn/Kiefer-Spezialisten) und Informatikern auch im Dienst der Entwicklungszusammenarbeit unterwegs. Es befasst sich mit der Suche nach den Opfern von Erdbeben, Überschwemmungen, Erdrutschen, Unfällen aber auch von Morden ohne politischen Hintergrund.

Deshalb hat sich das argentinische Außenamt dazu entschlossen, das Institut politisch und finanziell zu unterstützen. Das Ministerium trommelte die Botschafter aus 45 Ländern zusammen, um ihnen die Arbeit von EAAF vorzustellen. Es kam zu Gesprächen über die Ausbildung von Experten in Indonesien, Jamaika und Japan.

Zuletzt war EAAF in Zypern, Osttimor, Guatemala und Chile aktiv. Im kommenden Jahr wird es Vietnam sein. Im Bürgerkriegsland Kolumbien waren EAAF-Mitarbeiter als Teil der Kommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Einsatz, um die Umstände und Hintergründe für die Entführung und Ermordung von zwölf Abgeordneten in Cali im Jahr 2002 zu klären.


Hilfe bei den Frauenmorden im mexikanischen Ciudad Juárez

Auch half das Team bei der Identifizierung von 33 Frauen und Mädchen, die in der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez einem Gewaltverbrechen zum Opfer fielen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden in der Stadt und ihrer Umgebung 360 Mädchen und Frauen ermordet. Rund 600 gelten als vermisst.

Die Experten waren von der Menschenrechtsorganisation 'Gerechtigkeit für unsere Töchter' mit dem Einverständnis der nationalen Regierung und der Staatsanwaltschaft zu Hilfe gerufen worden. "Die Behörden in Ciudad Juárez hatten den Angehörigen lediglich einige Knochen gezeigt und gesagt: 'Das ist eure Tochter'. Wollt ihr sie nun mitnehmen oder nicht?", berichtet Alma Gómez vom Zentrum für Menschenrechte der mexikanischen Frauen. "Auch die mexikanische Regierung zeigte kein Interesse an der Aufklärung der Verbrechen. Da riefen wir die Argentinier."

Drei der 33 aufgeklärten Fälle wurden vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof der OAS gebracht. Bei den Opfern handelte es sich um drei junge Frauen im Alter von 15 bis 20 Jahren, die auf einem Gelände von Ciudad Juárez entdeckt wurden. Das Tribunal wies den mexikanischen Staat an, die Verbrechen zu untersuchen und die Angehörigen zu entschädigen. (Ende/IPS/kb/2010)

Links:
http://www.eaaf.org
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=96874


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 15. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2010