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UMWELT/656: Tschernobyl - Wie viele Menschen sind ums Leben gekommen? (IPPNWforum)


IPPNWforum | 126 | 11
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Tschernobyl: Wie viele Menschen sind ums Leben gekommen?

Von Dr. Alexey Yablokov (Russische Akademie der Wissenschaften, Moskau)


Das Komitee für die wissenschaftliche Untersuchung der Folgen radioaktiver Strahlung der Vereinten Nationen erklärte Ende Februar 2011: "Das Komitee hat entschieden, die Auswirkungen von Niedrigstrahlung des Tschernobylunfalls auf die Bevölkerung nicht auf der Basis von Modellen in absoluten Zahlen hochzurechnen, weil diese Vorhersagen mit inakzeptablen Unzuverlässigkeiten behaftet sind." (UNSCEAR, 2011; 98, S.18).

Diese "Unzuverlässigkeiten" hängen sowohl mit den methodischen Fehlern des offiziell anerkannten Systems zur Bestimmung des Strahlungsrisikos als auch mit der Unterbewertung der Auswirkungen der Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki zusammen.

Der methodische Fehler des epidemiologischen Ansatzes zur Bestimmung der Zahl der Opfer auf Basis der Berechnung des Strahlungsrisikos besteht darin, dass die Einschätzung der Opferzahl auf dem Vergleich der relativ genau dokumentierten Sterblichkeits- und Erkrankungsraten basiert, während der Umfang der radioaktiven Belastung nicht genau bestimmt werden kann. Außerdem ist dieser Ansatz zur Bestimmung der Zahl der Opfer nicht in der Lage, die Folgen der niedrigen Strahlungsdosis genau zu erfassen. "Die momentan verfügbaren epidemiologischen Daten bieten keine Grundlage dafür, mit hinreichender Sicherheit die auf radioaktive Belastung zurückzuführende Morbidität und Mortalität bei Testgruppen aus der Bevölkerung der drei Republiken und anderer europäischer Staaten zu prognostizieren, die mit einer durchschnittlichen Dosis von weniger als 30 mSv in den letzten 20 Jahren belastet wurden. Jeglicher Anstieg [der Morbidität und Mortalität innerhalb dieser Gruppen] läge unterhalb der Schwelle wissenschaftlicher Messbarkeit." (UNSCEAR, 2011, (97), S. 18).

Die Streubreite der auf der "Dosis"-Risiko-Betrachtung basierenden Prognosen ist mehr als 400-mal höher als die übliche wissenschaftliche Uneinigkeit. Man kann also mit UNSCEAR übereinstimmen, dass eine Prognose der Gesamtopferzahl nicht funktioniert, allerdings mit einer Einschränkung: Sie funktioniert nur dann nicht, wenn die traditionelle "Dosis"-Risiko-Betrachtung angewendet wird.

Bei der Einschätzung der gesamten Zahl der Opfer ist eine andere Methode (die sogenannte "Balance"-Methode) zuverlässiger. Sie besteht darin, die Daten des Gesundheitszustands der Bevölkerung aus den radioaktiv hoch kontaminierten Gebieten mit den Daten des Gesundheitszustands der Bevölkerung aus den nicht kontaminierten Gebieten zu vergleichen. Die grundlegenden Quelldaten bestehen aus Messungen der radioaktiven Kontamination eines Gebiets und der Erkrankungshäufigkeit sowie der Sterblichkeitsrate in diesem Gebiet. Auf diese Weise kann das gesamte Niveau der zusätzlichen "Tschernobyl"-Sterblichkeitsrate im Zeitraum der ersten 25 Jahre nach der Katastrophe abgeschätzt werden: 1.444.000 Opfer.

Doch zeigt auch diese Zahl die gesamte "Tschernobyl"-Sterblichkeit nicht vollständig. Denn es ist bekannt, dass die Katastrophe zu einer sprunghaften Steigerung der vorgeburtlichen Sterblichkeit geführt hat. Im Zeitraum 1987-88 lässt sich eine genau dokumentierte Steigerung der Säuglingssterblichkeit in den radioaktiv kontaminierten Gebieten der Ukraine, Russlands und Deutschlands feststellen.

Bei der Situationsanalyse der Sterblichkeit in den durch Tschernobyl-Radionuklide auf einem Niveau von ≥ 40 kBq/m2 kontaminierten Gebieten in Russland, Weißrussland und der Ukraine hat man herausgefunden, dass die Gesamtsterblichkeitsrate hier um ca. 4% höher ist als in den relativ "sauberen" Nachbargebieten. In den übrigen, riesigen Abschnitten der nördlichen Hemisphäre, die vom Fallout Tschernobyls schwächer betroffen waren, ist die Zahl der zusätzlichen Sterblichkeit zweifellos niedriger, aber angesichts der großen Menge der betroffenen Menschen dennoch wesentlich. Unter Berücksichtigung auch der vorgeburtlichen Todesfälle ergeben sich für die letzten 25 Jahre ca. 1.600.000 Tschernobyltote.

Das bestätigt die bekannte Aussage: Der Tschernobylunfall ist die größte technologische Katastrophe der Menschheitsgeschichte.


Dr. Alexey Yablokov ist promovierter Biologe und der unangefochtene Nestor der russischen Umweltbewegung. Er ist Gründer und Präsident des Zentrums für Russische Umweltpolitik.


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Quelle:
IPPNWforum | 126 | 11, Juni 2011, S. 10
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2011