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GESCHICHTE/523: Nationalsozialismus - "Der Schwachsinn überhaupt (muß) ausgemerzt werden" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2010

Nationalsozialismus
"Der Schwachsinn überhaupt (muß) ausgemerzt werden"

Von Dr. med. Karl-Werner Ratschko


Die Rolle schleswig-holsteinischer Ärzte bei der Zwangssterilisation im Nationalsozialismus


Das ideologische Gedankengut und die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Rassenhygiene können hier nur angedeutet werden. Arbeiten von Charles Darwin (1809-1882),(1) Ernst Haeckel (1834-1919), Francis Galton (1822-1911) u.a. legten die Grundlagen. Der Münchener Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) verband die psychischen Krankheiten mit der Entartungstheorie: Soziale Untauglichkeit und anlagebedingte psychopathische Minderwertigkeit seien identisch und führten zur Entartung des Volkes.(2) Alfred Ploetz (1860-1940) und Wilhelm Schallmayer (1857-1919) prägten 1895 den Begriff der Rassenhygiene. Das Interesse von Ploetz war es, Deutschland zur Reinheit der Rasse zurückzuführen. Ohne "rücksichtslose Rassenhygiene" werde man um die Zukunft "unserer Rasse" fürchten müssen. Deswegen sei Rassenhygiene eine unbedingte Notwendigkeit; sie sei "die Lehre von den Bedingungen der optimalen Erhaltung und Vervollkommnung" der menschlichen Rasse. Rassenhygiene meint nach Ploetz das "Bestreben, die Gattung gesund zu erhalten und ihre Anlagen zu vervollkommnen."(3)

Wenige Jahre vor Ausbruch des 1. Weltkrieges begann in Deutschland eine intensiver werdende Diskussion über die Gründe der ständigen Abnahme der Geburtenzahlen. Als Ursachen wurden die "um sich greifende materialistische Lebensauffassung und die Rationalisierung des Sexuallebens" sowie die Verbreitung und Anpreisung empfängnisverhütender Mittel festgestellt.(4) Die politische Diskussion der Bevölkerungsfrage bewegte sich in den Folgejahren zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite sollten die Geburtenzahlen um jeden Preis erhöht werden (vertreten durch die 1915 gegründete "Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik"), auf der anderen Seite wurde die Wahrung und Mehrung der "wertvollen" Erbanlagen als oberste Aufgabe gesehen (vertreten durch die Rassenhygieniker mit ihrer "Gesellschaft für Rassenhygiene" u.a.); es ging also im Kern um die Grundsatzdiskussion zwischen quantitativer und qualitativer Bevölkerungspolitik.(5) Der 1923 gegründete, zunächst an einer quantitativen Bevölkerungspolitik orientierte "Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie" näherte sich Anfang der dreißiger Jahre den Rassehygienikern mehr und mehr an.


Lösung sozialer und finanzieller Probleme durch Zwangssterilisation

Deren Vorstellungen von künstlicher Zuchtwahl, Ausmerzung des Minderwertigen und Auslese hatten sich bald weit verbreitet und wurden bei einer großen Zahl deutscher Ärzte konsensfähig. Für die Lösung der sozialen Probleme bot sich die gerade auch unter dem Aspekt der Kostenersparnis diskutierte "Sterilisierung aus eugenischer Indikation" an.(6) Noch vor der NS-Zeit kam es anhand einer im Januar 1932 erarbeiteten Stellungnahme zur Eugenik zu Vorgaben im Preußischen Staatsrat mit der Maßgabe, dass "mit möglichster Beschleunigung die [...] für die Pflege und Förderung der geistig und körperlich Minderwertigen anzuwendenden Kosten auf dasjenige Maß herabgesenkt werden, das von einem völlig verarmten Volk noch getragen werden kann".(7) Humanitäre Aspekte waren gegenüber ökonomischen Überlegungen völlig in den Hintergrund getreten. Der Preußische Landesgesundheitsbeirat stellte am 2. Juli 1932 die Weichen für eine rassenhygienische Sozial- und Bevölkerungspolitik.(8) Dies alles geschah noch im sozialdemokratisch regierten Preußen vor dem "Preußenschlag" am 20. Juli 1932, mit dem die preußische Regierung durch einen Reichskommissar des rechtskonservativen Reichskanzlers von Papen ersetzt wurde. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) lag also bereits als preußisches Schubladengesetz noch vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten vor, ohne dass jedoch eine rechtlich fragwürdige Sterilisation gegen den Willen der Betroffenen vorgesehen war.

Auch in der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft fand eine Diskussion um die Bevölkerungspolitik statt. Besonders die Kieler Medizinalräte, Kreisarzt Robert Engelsmann und der Leiter des Kieler Gesundheitsamtes, Stadtmedizinalrat Franz Klose, wie auch die Vertreter der Kieler Medizinischen Fakultät, Georg Stertz (Psychiatrie), Alfred Schittenhelm (Innere Medizin), Willy Anschütz (Chirurgie) und Robert Schröder (Frauenheilkunde), hatten sich bereits verschiedentlich in die Diskussion eingebracht.(9) Strittig blieb bei ansonsten weitgehendem Konsens die Frage, ob eine Sterilisation "Minderwertiger" nur auf freiwilliger Basis oder auch unter Anwendung von staatlichem Zwang erfolgen sollte. Klose hatte übrigens in Kiel in den Jahren 1929 bis 1932 bereits ohne gesetzliche Grundlage 21 Sterilisierungen mit - wie auch immer erwirkter - Einwilligung der Frauen durch den Direktor der Kieler Universitätsfrauenklinik, Schröder, vornehmen lassen, offenbar ohne dass dieser in der Illegitimität des Vorgehens Probleme gesehen hätte. Die Indikationsstellung erfolgte nicht nach ärztlichen Gesichtspunkten, sondern aus der Sicht des Sozial- und Rassehygienikers. Bei den Frauen soll es sich um "dem Pflegeamt oder dem Jugendamt als asoziale Elemente" bekannt gewordene Personen gehandelt haben, "die, unfähig für ihre Kinder zu sorgen, immer neue Kinder zu Lasten der Allgemeinheit in die Welt setzten".(10)

Im Kieler Ärzteverein war am 10. Februar 1933 die Vorlage des preußischen Landesgesundheitsbeirates beraten und ein Änderungsvorschlag von Engelsmann angenommen worden, mit dem abweichend vom Entwurf des Landesgesundheitsbeirates die Zwangssterilisation gefordert wurde.(11) Die Ärztekammer-Versammlung schloss sich in ihrer letzten freien Sitzung am 8. März 1933 im Beisein von Vertretern der Medizinischen Fakultät Kiel an, sie folgte dem Ärzteverein in der Forderung nach Verankerung der Zwangssterilisation im Entwurf des preußischen Sterilisationsgesetzes.(12,13) Vereinzelt gab es jedoch auch Stimmen, die anzweifelten, dass der Stand der Wissenschaft schon ausreiche, um derart weitgehend in die Persönlichkeit eingreifende Maßnahmen wie die Sterilisationen mit gutem Gewissen vornehmen zu können.(14)


Das Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)

Das am 14. Juli 1933 verabschiedete GzVeN ermöglichte die Zwangssterilisation bei "angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blindheit bzw. Taubheit, schwerer körperlicher Missbildung und schweren Alkoholismus". Antragsberechtigt sollte das Opfer, also derjenige, der unfruchtbar gemacht werden sollte, bzw. in gegebenen Fällen der gesetzliche Vertreter oder der beamtete Arzt sein. War die infrage kommende Person Insasse einer Kranken-, Heil-, Pflege- oder Strafanstalt, konnte der Antrag auch vom Anstaltsleiter gestellt werden. Entschieden wurde von einem bei einem Amtsgericht angesiedelten Erbgesundheitsgericht, besetzt mit dem Amtsrichter als Vorsitzendem, einem beamteten Arzt und einem weiteren "mit der Erbgesundheitslehre besonders vertrauten Arzt". Als Beschwerdeinstanz war für Schleswig-Holstein ein Erbgesundheitsobergericht in Kiel vorgesehen. Das Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht war nicht öffentlich, die als Zeugen oder Sachverständige geladenen Ärzte waren ohne Rücksicht auf ihre Schweigepflicht zur Aussage verpflichtet. In § 12 waren auch die Grundlagen für die Ausübung von Zwang festgelegt: "Hat das Gericht die Unfruchtbarmachung endgültig beschlossen, so ist sie auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden auszuführen, sofern nicht dieser allein den Antrag gestellt hat. Der beamtete Arzt hat bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig." Das GzVeN schloss Personen als Richter oder ärztliche Beisitzer im Erbgesundheitsverfahren aus, wenn sie in einer früheren Phase des Verfahrens bereits beteiligt gewesen waren. So war z.B. ein beamteter Arzt, der den Antrag gestellt hatte, von der Mitwirkung an der Entscheidung ausgeschlossen. Der Eingriff durfte auch nicht von einem Arzt vorgenommen werden, der den Antrag gestellt oder in dem Verfahren als Beisitzer mitgewirkt hatte.(15) Erweckt das Gesetz oberflächlich betrachtet noch den Eindruck, dass auch bei den Betroffenen noch einige Rechte, wie z.B. das Recht zur Antragstellung oder das Widerspruchsrecht bestanden und dass ein geordnetes Gerichtsverfahren möglich sein könnte, sieht das im Lichte der Ausführungsverordnung zum GzVeN vom 5. Dezember 1933 schon deutlich anders aus: Den Ärzten wurde zur Pflicht gemacht, "erbkranke" oder an schwerem Alkoholismus leidende Personen bei Androhung einer Geldstrafe im Unterlassungsfall beim zuständigen Amtsarzt zu melden. War der Eingriff nach Ablauf der Frist von zwei Wochen nach der Entscheidung nicht erfolgt, sollte die betroffene Person mithilfe der Polizeibehörde, nötigenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwanges vorgeführt werden. Mit der Ausführungsbestimmung wurde der Anschein der Freiwilligkeit, den das Gesetz auf den ersten Blick noch vermittelte, aufgehoben. In Artikel 3 Absatz 4 der Ausführungsbestimmungen hieß es: "Hält der beamtete Arzt die Unfruchtbarmachung für geboten, so soll er dahin wirken, daß der Unfruchtbarzumachende selbst oder sein gesetzlicher Vertreter einen Antrag stellt. Unterbleibt dies, so hat er selbst den Antrag zu stellen."(16) Das hieß im Klartext: Ließ sich der vom Amtsarzt als erbkrank Erkannte nicht zum Antrag auf Sterilisation überreden, stellte der Amtsarzt den Antrag. Von Freiwilligkeit konnte also schon nach den gesetzlichen Bestimmungen keine Rede sein. Ähnlich war es mit dem Widerspruchsrecht: Klose berichtet von einer Beschleunigung des Verfahrens dadurch, dass vom Antragsteller bereits dem Antrag eine Verzichtserklärung auf das ihm gesetzlich zustehende Rechtsmittel der Beschwerde beigefügt wird, geht in diesem Zusammenhang auch auf die rechtliche Fragwürdigkeit einer solchen Erklärung ein, hält sie zur Beschleunigung des Verfahrens jedoch für "unendlich wichtig".(17) Die 3. Verordnung zur Durchführung der GzVeN vom 25. Februar 1935 (18) stellte dann auch noch den ohnehin großen Einfluss der NS-Administration auf die Benennung der ärztlichen Beisitzer sicher. Die Ärzte durften nur noch auf Vorschlag der höheren Verwaltungsbehörden berufen werden. Damit wurde sichergestellt, dass nur Ärzte, die die Ziele der NS-Rassenhygiene bejahten, in Erbgesundheitsgerichten tätig werden konnten.


Die Arbeit des Erbgesundheitsgerichtes Kiel

Auf das Antragsverfahren soll hier nicht eingegangen werden.(19) Schaltstellen waren die Kreisgesundheitsämter. Meldungen erfolgten von angestellten und beamteten Ärzten der Gesundheitsfürsorge, der Gesundheitsämter, der Wehrmacht, der Krankenhäuser sowie durch niedergelassene Ärzte.(20) Obwohl eine hohe Bindung niedergelassener Ärzte an die NSDAP und ihre Untergliederungen vorhanden war, bestand in dieser Arztgruppe keine große Neigung, eigene Patienten dem Amtsarzt zu melden, wobei die Allgemeinärzte sich noch zurückhaltender zeigten als die Spezialisten. Ideologische Momente traten gegenüber gesellschaftlichen, ökonomischen und berufsethischen Faktoren zurück. Das gemeinsame Lebensumfeld, die finanzielle Abhängigkeit wie auch das in der Regel enge Vertrauensverhältnis zu den Patienten standen dem entgegen.(21)

Das Erbgesundheitsgericht Kiel nahm seine Tätigkeit am 5. März 1934 auf. Unter dem Vorsitz von Amtsrichter Dr. Franzen war mit dem beamteten Arzt Klose (seine Vertreter waren der Gerichtsmediziner Prof. Dr. Ziemke bzw. Kloses Kollege Engelsmann) sowie dem "anderen approbierten Arzt" der Anthropologe PD Dr. Löffler (mit den Vertretern Stadtarzt Dr. Weise bzw. dem niedergelassenen Arzt Dr. Hadenfeldt) beauftragt. Löffler, habilitierter Assistent im Anthropologischen Institut der Universität, war nur kurz im Erbgesundheitsgericht Kiel tätig, da er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Rassenhygiene nach Königsberg erhielt. Er war im Herbst 1932 aus tiefer Überzeugung Mitglied der NSDAP geworden, war NS-Dozentenführer der Universität, zusammen mit den Studenten und anderen Assistenten wesentlicher Motor der "nationalen Revolution" im Frühjahr und Sommer 1933 an der Universität und glühender Verfechter der Rassehygiene und der Zwangssterilisation. Ähnlich wie Klose drängte es ihn, seine ersten Erfahrungen der Öffentlichkeit mitzuteilen.(22) Von den zwischen 5. und 27. März beschlossenen 55 "Unfruchtbarkeitsmachungen" erging die Entscheidung in 30 "Fällen" wegen "angeborenen Schwachsinns", in elf "Fällen" wegen Schizophrenie, in zehn wegen Epilepsie sowie in vier Fällen wegen schwerem Alkoholismus. Die mitgeteilte Kasuistik zu den Patienten lässt selbst in dieser Anfangsphase der Durchführung des GzVeN schon erhebliche Zweifel an der Einstufung der Indikationen zur Sterilisation als "Erbkrankheit" zu. Klose setzt sich in seinem Beitrag im "Erbarzt" anhand von Zahlen (5. März bis 22. Juni 1934: 244 Anträge sowie 244 Entscheidungen auf Sterilisierung, keine Ablehnung!) inhaltlich mit der Frage der Freiwilligkeit auseinander und versucht bei einigen Betroffenen, den Beweis der Erblichkeit des Schwachsinns zu führen. Er begrüßt die mit 72,5 Prozent hohe Zahl der "freiwilligen" Anträge, hinterfragt aber nicht das Zustandekommen der Freiwilligkeit bei den 53,7 Prozent, die selbst einen Antrag gestellt hatten (immerhin handelte es sich hier um teilweise leicht beeinflussbare, in der Intelligenz geminderte, sozial diskriminierte Personen sowie um psychisch Kranke) sowie bei den 18,8 Prozent, für die ein Antrag vom Vormund, Pfleger etc. gestellt wurde. Schon das Zusammenziehen beider Zahlen zur Kategorie "freiwillige Anträge" lässt die Absicht erkennen, die offenkundigen Schwächen des GzVeN herunterzuspielen.(23) Bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen wurden zwar regelmäßig Gutachten von der Universitätsnervenklinik eingeholt, was bei der großen Zahl zu einer großen Belastung der (wenigen) Assistenten der Kieler Nervenklinik führte. Auch wurde die Krankenakte erbeten.(24) Die Zeit für jede einzelne Entscheidung war aber mit 15 Minuten unangemessen angesichts der Fülle des zu prüfenden Materials pro vermeintlich "Erbkrankem" und angesichts der Folgen der Entscheidung für die Betroffenen; auch waren die Beisitzer, die ihre Tätigkeit ehrenamtlich neben ihrem eigentlichen Beruf ausübten, schlichtweg durch die schiere Masse in ihrer Leistungsfähigkeit überfordert.(25) Die hohe Zahl der entschiedenen Anträge wie auch die geringe Zahl der Ablehnungen lässt vermuten, dass die Entscheidungen in der Regel mehr mit dem Ziel einer schnellen Entscheidung im Zweifel für die Durchführung einer Sterilisation als patientenbezogen ergangen sind. Dies mag der Grund dafür sein, dass sowohl Löffler als auch Klose sich bemühten, die Qualität der Entscheidungsfindung des Erbgesundheitsgerichtes herauszustellen. Die Statistik des Erbgesundheitsgerichtes Kiel (drei weitere Gerichte gab es noch nördlich der Elbe in Lübeck, Flensburg und Altona(26) für 1934 berichtet von insgesamt 908 Anträgen, davon 426 Männer und 482 Frauen. Abgelehnt wurden 27, eine sonstige Erledigung ergab sich bei 13 Fällen. Für 758 Personen, 353 Männer und 405 Frauen, wurde eine Sterilisierung angeordnet, die fehlende Zahl wurde nicht erklärt, es dürfte sich um schwebende Verfahren gehandelt haben.(27) Für die ca. 1.000 Anträge, die vom 1. März 1934 bis zum 14. März 1935 verhandelt wurden, wurden 45 Sitzungen des Erbgesundheitsgerichtetes benötigt, d.h. pro Sitzung wurden ca. 20 Anträge entschieden.(28) Für 1935 berichtete der Vorsitzende des Erbgesundheitsgerichtes Kiel an den Kieler Landgerichtspräsidenten, dass bis zum Zeitpunkt seines Schreibens, dem 14. November 1935, 892 Anträge gestellt und 572 Beschlüsse gefasst worden waren. In 45 Fällen war es zu Beschwerden beim Erbgesundheitsobergericht gekommen, 28 wurden zurückgewiesen, fünf abgeändert, zwölf waren noch schwebend.(29)


Die Durchführung der Eingriffe zur (Zwangs-)Sterilisation in Kiel

Für die Durchführung der Eingriffe hatte die Ärztekammer Schleswig-Holstein 1935 ein Verzeichnis sämtlicher Krankenhäuser, die für Sterilisationen infrage kamen erstellt. In Kiel waren es neben den beiden Universitätskliniken das DRK-Anscharkrankenhaus sowie die Privatkliniken Dr. Lubinus (Chirurgie), Dr. Rehr (Chirurgie), Dr. Demme (Frauen), Dr. Koreuber (Frauen) und Dr. Robert (Frauen).(30) Die Sterilisationen erfolgten fast immer operativ. Während bei den Männern nur ein kleiner Eingriff, die Durchtrennung des Samenstranges nach einem Leistenschnitt, erforderlich war, erfolgte bei den Frauen eine Quetschung, Durchtrennung oder teilweise Resektion des Eileiters. Der operative Eingriff, bei dem der Zugang meist durch einen Bauchdeckenschnitt, über den Leistenkanal oder selten die Scheide erfolgte, war deutlich größer und beinhaltete nicht selten Risiken und unerwünschte Folgen. Folgende Zahlen geben ein Beispiel für die Größenordnungen: Im Jahr 1937 wurden in Schleswig-Holstein 1.193 Patienten, davon 613 Männer und 580 Frauen sterilisiert, 13 Prozent der Sterilisierungen(31), also etwa 155, wurden in Kiel, davon 97 in der Universitätsfrauenklinik durchgeführt.(32)

Im Kieler Raum war die Universitätsfrauenklinik dominierend. Eine Kieler medizinische Dissertation von Jana Piechatzek aus dem Jahr 2009 hat sich mit der statistischen Auswertung der in der Universitätsfrauenklinik noch vorliegenden Krankenunterlagen von 536 sterilisierten Frauen von 1932 bis 1940 mit Schwerpunkt von 1934-1938 befasst.(33) Das Durchschnittsalter der Patientinnen war knapp 26 Jahre, die jüngste war elf und die älteste 48 Jahre alt.(34) Die führende Diagnose, die eine Sterilisation zur Folge hatte, war mit etwa 65 Prozent "angeborener Schwachsinn", gefolgt von Schizophrenie mit 11,2 Prozent und "erblicher Fallsucht" mit elf Prozent. Nur bei einer Frau erfolgte nach dieser Arbeit die Sterilisation wegen schweren Alkoholismus. Knapp neun Prozent der Sterilisationen erfolgten jedoch, ohne dass in den Unterlagen der Klinik hierfür eine dem GzVeN zuzuordnende Diagnose genannt war.(35) Insgesamt sieben Patientinnen wurden durch Röntgenstrahlen sterilisiert, möglicherweise sogar kastriert.(36) Die Operationen dauerten durchschnittlich eine halbe Stunde.(37) Die Verweildauer der Patientinnen belief sich durchschnittlich auf 14 Tage, das Maximum nach Komplikationen auf 66 Tage.(38) Operationsbedingte Todesfälle gab es zwei, möglicherweise drei.(39) Der o.g. Dissertation sind nähere Angaben zu einer etwas nebulösen, aber schon eindeutig interpretierbaren Aussage im Jubiläumsband zum 200-jährigen Bestehen der Universitätsfrauenklinik leider nicht zu entnehmen. Zitat: "[...] Bei den Frauen wurde auch das soziale und sexuelle Verhalten bewertet. Betroffen waren Frauen, die häufig den Arbeitsplatz wechselten, die ihre Kinder ohne Mann erzogen, die durch individuellen Lebensstil auffielen, die sich nicht der nationalsozialistischen Norm entsprechend verhielten und deren 'sexuelles Verhalten auffällig' war. Entsprechend dieser Einstellung wurden sie zwangssterilisiert. Wie in vielen anderen Universitätskliniken wurden auch in Kiel diese furchtbaren gesetzlichen Vorgaben umgesetzt."(40) Es waren aber nicht die gesetzlichen Vorgaben, die zu diesen vom Erbgesundheitsgericht angeordneten, auch nach dem GzVeN nicht rechtmäßigen Sterilisationen führten, sondern das besonders bei Klose und Engelsmann, aber auch vielen anderen Ärzten vorliegende Verständnis, dass das GzVeN auch dazu dienen sollte, "minderwertige", d.h. sozial benachteiligte Personen zu sterilisieren, die in ihrem gesellschaftlichen Verhalten den damaligen Vorstellungen nicht entsprachen und deren Sozialisierung Mühe und Kosten zulasten der "Volksgemeinschaft" zur Folge gehabt hätten. Diese Einstellung ebnete wenige Jahre später unter dem irreführenden Begriff "Euthanasie" den Weg in einen vieltausendfachen Krankenmord.


Die ärztlich-ethische Zulässigkeit der Operation

Unter ideologiefreier wissenschaftlicher Sichtweise wäre auch kein wirklich seriöser Wissenschaftler damals in der Lage gewesen, bei den meisten im GzVeN genannten Indikationen von einer sicheren Erblichkeit zu sprechen. In einem mutigen Beitrag hatte sich Otto Aichels(41) Schüler Karl Saller, Göttingen, 1933 in der Klinischen Wochenschrift kritisch über Feststellungen eines der damaligen Protagonisten der Rassenhygiene, Fritz Lenz, geäußert.(42) Er, der eigentlich die Rassenhygiene und die Ziele des Nationalsozialismus befürwortende Anthropologe, schrieb, dass praktisch tätige Ärzte den Lenzschen Ausführungen verständnislos gegenüberstünden, einige seiner Äußerungen seien Auswüchse der Erblichkeits- und Bevölkerungslehre, die "keine sachliche Wissenschaft" mehr seien und über die Vererbung bestimmter Merkmale wie Hässlichkeit und Schönheit, Mut, Dummheit, Familienzank, unglückliche Ehe u.a.m. sei entgegen den Mutmaßungen von Lenz nichts Verlässliches bekannt. Und wörtlich: "Was hier geboten wird, ist keine sachliche Wissenschaft mehr, und ich glaube, es ist ein einfaches Gebot der wissenschaftlichen Selbsterhaltung für die Eugeniker, auch ihrerseits von solchen Auswüchsen abzurücken und ganz eindeutig zu erklären, daß sie mit der Eugenik, die verwirklicht werden soll und muss, nichts zu tun haben."(43) Die Antwort von Lenz auf den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "[...] Es ist (...) für die dringenden praktischen Aufgaben der Rassenhygiene gar nicht entscheidend, zu wissen, wie der spezielle ERB-Gang der einzelnen Anomalien und sonstiger Merkmale ist. Ob z.B. der Schwachsinn dominant oder recessiv, geschlechtsgebunden oder nicht, monomer oder polymer erblich ist, ist an sich wissenswert, aber es ändert nichts daran, dass der Schwachsinn überhaupt ausgemerzt werden muß."(44)

Es war schon anhand des Kieler Zahlenmaterials der Jahre 1934/35 darauf hingewiesen worden, dass unter der Diagnose des "angeborenen Schwachsinns" Sterilisationen aus einer im GzVeN nicht vorgesehenen sozialhygienischen Indikation vorgenommen wurden. Zitat Gunter Link, Freiburg, aus dem Jahr 2002: "Die in der Anwendung des GzVeN gebräuchlichen Erbkrankheitsbezeichnungen sind nur bedingt mit diesen Begriffen im heutigen Verständnis kompatibel. Sie sind ausschließlich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Weltanschauung und Rechtsauffassung angemessen zu interpretieren. Das Erstellen einer eugenischen Sterilisationsindikation kann keinesfalls als eine medizinische Diagnosestellung im heutigen Sinne begriffen werden. Vielmehr handelt es sich um eine 'sozialbiologische' Bewertung der Persönlichkeit, welche die 'Brauchbarkeit' und den 'Nutzen' des Betroffenen für die 'Volksgemeinschaft' zu messen hat."(45) Dies könnte die von Piechatzek dargestellte Zunahme der Zahl der sterilisierten "schwachsinnigen Frauen" in den Jahren von 1935 (55,5 Prozent) über 1936 (56,8) auf 78,4 im Jahr 1937 und 73,1 im Jahr 1938 erklären.

Bei den Sterilisationen nach dem GzVeN handelte es sich oft um vom Erbgesundheitsgericht den Patienten aufgezwungene Operationen, die von den Patienten nicht gewollt waren, widerwillig ertragen oder aufgrund begrenzter intellektueller Fähigkeiten gar nicht verstanden wurden. Die Ärzte konnten eine formale rechtliche Legitimierung für die Durchführung der Sterilisation im GzVeN sehen, die Operation durfte nach ärztlicher Berufsethik aber nur bei einem auch für den Patienten zu erkennenden Nutzen und einem zu vernachlässigendem Risiko durchgeführt werden. Trotz aller Einschränkungen bezüglich der Qualität der genutzten Materialien sowie auch bezüglich der bei ihnen vorgenommenen manipulativen Eingriffe bzw. Lücken besteht kein Zweifel, dass die Ärzte der Universitätsfrauenklinik und mit einigen Einschränkungen bezüglich der Beweislage auch die Ärzte der Universitätschirurgie und anderer Kieler Kliniken die Sterilisationen der nationalsozialistischen Ideologie folgend nicht im Interesse der Patienten, sondern in der Regel gegen deren Interesse und häufig auch noch gegen deren Willen vorgenommen haben. Sie unterwarfen sich den Forderungen der Nationalsozialisten, die Gesundheit des Einzelnen zugunsten des Wohls der "Volksgemeinschaft" zu gefährden, wenn sie nicht sogar selbst als "stramme Nationalsozialisten" von der Richtigkeit des nationalsozialistischen Paradigmenwechsels überzeugt waren. Damit sind sie auch hier wissentlich oder unwissentlich Werkzeug der Täter geworden und haben gegen die ärztliche Berufsethik verstoßen. In den Kieler Universitätskliniken sind Hunderte von ohnehin schon stigmatisierten Patienten körperlich geschädigt und mithilfe der rigiden Bestimmungen des Erbgesundheitsgesetzes(46) um ihre durchaus erreichbare bürgerliche Zukunft in geordneten Familienverhältnissen gebracht worden. Zweifellos machten sich die in Zwangssterilisationen eingebundenen Ärzte einer ernsten Verletzung ihrer ärztlichen Berufspflichten schuldig.(47) Darüber hinaus hat es von den NS-Machthabern wohlwollend tolerierte Verstöße selbst gegen die damaligen Gesetze durch Inanspruchnahme unzulässig weiter Interpretationsspielräume gegeben, da die Handhabung des GzVeN durch Amtsärzte und Erbgesundheitsgerichte zunehmend willkürlicher erfolgte. Dies kann den die Sterilisation durchführenden Ärzten nicht verborgen geblieben sein.

Die Zahl der Zwangssterilisierungen ging in Schleswig-Holstein in den Jahren 1938 (739) und 1939 (498) und mehr noch in den Kriegsjahren kontinuierlich zurück,(48) jedoch wohl kaum wegen der Einsicht in die Unrechtmäßigkeit, sondern fraglos wegen der durch den Krieg bedingten Notwendigkeiten. In der Nachkriegszeit hatten es die Geschädigten schwer, Wiedergutmachung zu erlangen. Es sollte über 50 Jahre dauern, bis der Deutsche Bundestag bereit war, 1998 in einem Gesetz die eine Unfruchtbarkeitsmachung anordnenden Beschlüsse nach dem GzVeN aufzuheben.(49)

Quellen und Literatur beim Verfasser oder im Internet unter www.aeksh.de

Dr. med. Karl-Werner Ratschko, MA, Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201012/h10124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Robert Schröder (Foto)


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2010
63. Jahrgang, Seite 64 - 69
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2011